[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die kluge Königstochter

Einst hatte ein König eine sehr kluge Tochter. Es gab niemanden, der es verstanden hätte, mit ihr zu sprechen. Sie wusste alles besser und hatte stets das letzte Wort. Eines Tages ließ der König verkünden: »Wer meine Tochter freien will, muss ein sehr kluger Mann sein, der es vermag, das letzte Wort zu behalten!« Alsbald strömten die Freier in Scharen zum königlichen Schloss. Doch keiner von ihnen war redegewandter als die Königstochter. Schließlich waren schon so viele Freier gekommen, dass sie das Schloss von vorn bis hinten füllten. Die einen kamen, die anderen gingen. Und doch vermochte die Königstochter bei jedem von ihnen das letzte Wort zu behalten.

So hatte denn die Königstochter mit ihren Freiern ihre liebe Not.

Schließlich gab der König erneut bekannt: »Wer es mit meiner Tochter nicht aufzunehmen vermag und gedenkt, sich lustig zu machen, wird streng bestraft!« Von dieser Zeit an blieben die Freier aus. So mancher dachte schon, die Königstochter werde nun ihre Tage als alte Jungfer schmachten.

Eines Tages aber gelangte es einem armen Jungen zu Ohren, dass die Königstochter sich mit jenem vermähle, der redegewandter sei als sie. Der arme Jüngling dachte sogleich: »Ich werde mein Glück versuchen. Habe ich Glück, wird aus mir der Schwiegersohn des Königs. Habe ich Pech, na, dann muss ich eben die Strafe büßen!«

So machte sich der Junge auf den Weg. Unterwegs fand er einen toten Raben. »Wer weiß, wo ich ihn gebrauchen kann!« sagte der Junge und steckte den toten Raben in seinen Wandersack. Ein Stückchen des Weges gegangen, sah der Junge einen Trog mit einem riss auf der Erde liegen. Er steckte den Trog in seinen Sack und wanderte weiter. Dann fand er einen Reifen und steckte auch diesen in seinen Sack. Als nächstes fand er einen dünnen Pfahl, den er ebenfalls in seinem Sack verschwinden ließ. Zuletzt fand er noch ein gewundenes Horn eines Schafsbockes und steckte auch dieses ein.

Als die Königsstadt schon in Sicht kam, bat der Jüngling auf einem Bauernhof um Nachtlager. Hier erzählte er auch dem Bauern, was ihn hergebracht hatte. Der Bauer lachte nur und sagte: »Du hast wohl große Lust, Prügel zu kriegen?« Der Junge erwiderte: »Was wird man mir schon anhaben! Hab' ich doch einen Mund unter der Nase, um der Königstochter auf ihre Fragen zu antworten.«

Am nächsten Morgen machte sich der arme Junge in aller Frühe auf den Weg. Ging in die Königsstadt und geradewegs ins Schloss des Königs. Er wurde eingelassen und gefragt, was er wünsche. Der Jüngling erwiderte: »Ich bin gekommen, um die Königstochter zu freien!« Der Kammerdiener begann zu lachen: »Wer weiß, ob die Königstochter mit solch einem Burschen überhaupt spricht. Das müssen schon echte Männer sein, mit denen die Königstochter überhaupt spricht.« Der arme Jüngling aber bat den Kammerdiener, der Königstochter mitzuteilen, dass ein Freier auf sie warte. So ging der Kammerdiener und verkündete, ein armer Junge sei gekommen, um die Königstochter zu freien. Die Königstochter aber ließ ihm sagen: »Ist er ein Bettlerjunge ohne Bart und will sich über mich lustig machen, wird es mir nicht leid tun, wenn er eine Tracht Prügel bekommt und danach auch den Kopf verliert.«

Schließlich wurde der Junge aber doch zur Königstochter eingelassen. Sobald er vor die Königstochter trat, sagte er: »Sei gegrüßt, meine Braut, du kalte Hand!« Die Königstochter erwiderte: »Meine Hand ist überhaupt nicht kalt, sondern so heiß, dass man darauf einen Raben braten könnte!« Der Junge aber sagte: »Es sei denn! Wir werden sehen, ob sie so heiß ist!« Und er nahm den Raben aus dem Sack. Die Königstochter sagte schnell: »Wir könnten es ja versuchen, aber das Fett wird heruntertropfen!« Der Bettlerjunge zog darauf den Trog aus dem Sack und sagte: »Wir werden ihn darunter stellen, dann kann es tropfen!« Die Königstochter wiederum meinte: »Der ist ja angeplatzt, das Fett wird wohl herauslaufen?«

Nun nahm der Junge den Reifen aus dem Sack und sagte: »Wir können ihm ja den Reifen aufsetzen!« Die Königstochter setzte dem Trog den Reifen auf, sagte dann aber: »Der Reifen ist zu groß, er drückt den Spalt nicht zu!« Der Junge nahm den Pfahl aus dem Sack und sagte: »Ist der Reifen zu groß, können wir den Pfahl dazwischen stecken!« Die Königstochter tat, wie geheißen, und sah, dass der Junge Recht hatte. Dann fragte sie: »Sag, Jüngling, woher nimmst du solch gewundene Worte?« Der Junge nahm sogleich das Horn des Schafsbockes aus dem Sack und entgegnete: »Siehst du, das hier ist vielmals gewundener als meine Worte!« Darauf wusste die Königstochter nichts mehr zu sagen. Es half nichts, die Königstochter musste Gemahlin des armen Jünglings werden.

So wurde der arme Junge Schwiegersohn des Königs, und es wurde eine Hochzeit gehalten, wie sie noch keiner zuvor gesehen hatte. Wer will nun noch sagen, dass ein schlauer Kopf nicht von Nutzen sei?