[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Arme und seine Schicksalsfrau

In einer kleinen Hütte am Rande einer Stadt lebte einst ein armer Mann mit seiner Frau und seinen Kindern. Außer der Hütte besaßen sie nur einen einzigen Esel, und mit diesem ging der Mann jeden Morgen in den Wald, um Holz zu sammeln. Das verkaufte er dann in der Stadt, und was er dafür erhielt, reichte gerade hin, seine Familie recht und schlecht zu ernähren.

Eines Tages, als er mit seinem vollbeladenen Esel durch die Straßen der Stadt zog, riefen ihm die Diener aus einem reichen Haus zu: »Führe deinen Esel in unseren Hof! Wir wollen dir dein Holz abkaufen.«

Der Arme brachte seinen Esel in den Hof jenes Hauses und feilschte mit den Dienern, bis sie sich auf einen Preis geeinigt hatten. Dann half er ihnen beim Abladen des Holzes.

Als er aber sein Geld haben wollte, da sprachen sie: »Das Geld wird dir der Herr selber geben. Geh nur ins Haus und die Treppe hinauf, du findest ihn oben im Saal.«

Der arme Mann betrat das Haus. Er staunte über die Pracht, die er da zu sehen bekam. Die Treppe war aus Kirschenholz, mit kunstvollen Schnitzereien versehen. Ehrfürchtig schritt er hinauf und trat in den Saal. Der war größer als seine ganze Hütte! Der Boden war mit spiegelndem Marmor belegt, die Wände mit edlem Holz verkleidet. In dem Raum befand sich nur ein einziger, kostbar geschnitzter und verzierter Stuhl. Darauf saß der reiche Mann und rauchte seine Wasserpfeife. Mit gesenktem Haupt näherte sich der Arme.

Der Reiche gab ihm einige Kupfermünzen, der arme Mann bedankte sich und ging wieder zurück in den Hof. Dort fragte er die Diener: »Sagt mir, was tut euer Herr den ganzen Tag? Welcher Arbeit geht er nach?«

»Er sitzt den ganzen Tag auf seinem Stuhl und raucht seine Wasserpfeife«, antworteten die Diener. »Und seine Schicksalsfrau spinnt für ihn einen goldenen Faden.«

»Ach so!« dachte der arme Mann. »Das will ich auch einmal versuchen.« Und er nahm seinen Esel, ritt zum Händler und kaufte Tabak für seine Wasserpfeife.

Als er an diesem Abend heimkam, sprach er zu seiner Frau: »Von heute an wird sich unser Leben grundlegend ändern. Wir werden reich!«

»Herrlich!« antwortete sie. »Was ist denn geschehen? Hast du das Holz heute zu einem besonders guten Preis verkauft? Gib mir das Geld, damit ich uns etwas zu essen holen kann!«

»Ich kann dir heute kein Geld geben«, antwortete er, »denn ich habe mir Tabak gekauft. Von heute an will ich nichts anderes mehr tun als auf unserem Stuhl sitzen und meine Wasserpfeife rauchen. Und meine Schicksalsfrau wird für uns einen goldenen Faden spinnen.«

»Du hast den Verstand verloren!« rief seine Frau entsetzt. »Was sollen wir nun tun? Was soll ich den Kindern zu essen geben?!«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er sanft. »Aber sei getrost, es wird sich schon etwas finden.«

Darauf setzte er sich, füllte seine Wasserpfeife und begann zu rauchen. Die verzweifelte Frau aber kratzte den letzten Rest Mehl zusammen, borgte sich bei der Nachbarin zwei Eier und buk für die Kinder einige Pfannkuchen, um ihren ärgsten Hunger zu stillen. »Mit Gottes Hilfe ist mein Mann morgen früh wieder bei Sinnen«, dachte sie, als sie sich schlafen legte.

Doch als der Mann am nächsten Morgen aufstand, setzte er sich sogleich wieder auf den Stuhl und rauchte seine Wasserpfeife, und weder gutes Zureden noch flehentliches Bitten oder wütendes Schelten vermochten, ihn von der Stelle zu bewegen.

Zum Glück schaute da der Nachbar herein. »Ich sah euren Esel im Stall stehen. Braucht ihr ihn heute nicht?« fragte er. »Ich würde ihn gerne ausleihen, um Tonerde aus der Tongrube zu holen. Ich gebe euch auch etwas dafür.«

Die arme Frau war nur zu gerne einverstanden. »Damit ist der heutige Tag gerettet«, dachte sie. »Und morgen werden wir weitersehen.«

So nahm der Nachbar den Esel und ritt zur Tongrube. Dort angelangt, stieg er hinab und begann zu graben. Es ging nicht lange, da stieß er auf etwas Hartes. Neugierig schaufelte er es frei. Es war eine große Holztruhe, mit alten, rostigen Schlössern versehen. Mit großer Mühe gelang es ihm, sie aufzustemmen - und da leuchtete es ihm entgegen. Die Truhe war voller Goldmünzen.

»Ein Schatz!« rief er. »Ich bin reich!«

Er füllte einen seiner Säcke mit dem Gold, schleppte ihn nach oben und lud ihn dem Esel auf. Er wollte schon heimreisen, da fiel sein Blick nochmals auf die Truhe. Es war noch soviel Gold darin.

»Es wäre schade, all das hier zurückzulassen«, dachte er. »Ich will nochmals hinabsteigen und mir noch mehr holen!«

Doch seine Habgier war zu groß - während er einen zweiten Sack mit Goldmünzen voll stopfte, brach die Tongrube ein und begrub ihn unter sich. Der Esel aber stand da, mit dem vollen Sack auf dem Rücken, und wartete.

Er war es gewohnt zu warten. Doch als es Abend wurde und noch immer niemand kam, dachte er: »Sie haben mich wohl vergessen.« Und so trottete er langsam zu seinem Stall zurück.

Die Frau sah den Esel kommen. »Wahrscheinlich hatte der Nachbar nicht genügend Zeit, um ihn selber zurückzubringen«, dachte sie. »Ah, und er hat uns einen Sack mitgegeben, das ist gut!«

Sie lief in den Stall, band den Esel an und versuchte ihm den Sack abzuladen. Doch das gelang ihr nur mit großer Mühe, der Sack war unglaublich schwer, viel schwerer als Tonerde sonst. Und als sie ihn schließlich öffnete, da leuchtete ihr das Gold entgegen!

»Komm schnell und schau dir das an!« rief sie ihrem Mann zu, der nach wie vor im Haus saß und seine Wasserpfeife rauchte.

»Weshalb störst du mich beim Rauchen?« antwortete er.

»Wenn du mir etwas zeigen möchtest, dann bring es doch her.«

»Das kann ich nicht«, rief sie zurück. »Es ist zuviel und viel zu schwer!«

Da erhob er sich schließlich und kam in den Stall. Als er das Gold erblickte, nickte er nur lächelnd und sagte: »Siehst du, mein Gefühl war richtig. Es war an der Zeit, dass ich mich zurücksetzte, und nun hat meine Schicksalsfrau für uns gesorgt.«

Darauf bauten sie von dem Geld ein großes Haus und verbrachten den Rest ihres Lebens in Glück und Wohlstand.