[swahili, "Geschichte, Legende"]

Zwei Brüder

Vor langer Zeit gingen die beiden Söhne eines Mannes einmal zur Jagd. Unterwegs stießen sie plötzlich auf eine große Zahl von Töpfen, die in einer langen Reihe nebeneinander standen. Den älteren Bruder überkam Furcht, als er vor den Töpfen stand, der jüngere dagegen hob einen nach dem anderen an, da kam aus dem letzten Topf eine kleine alte Frau. »Komm mit«, sprach die Frau zu dem älteren Bruder, aber der weigerte sich. Da wandte sie sich an den jüngeren und sprach: »Dann komm du mit!« Der jüngere Bruder begleitete die Frau, und der ältere folgte ihnen in einiger Entfernung. Lange waren sie schon gewandert, da kamen sie endlich in ein Land, in dem ein Baum wuchs, der Vieh besaß.

Die Brüder hatten ihre Äxte bei sich, und die alte Frau forderte den jüngeren auf: »Schlag den Baum.« Kaum hatte der Junge das getan, kam ein Ochse aus dem Baum. Wieder schlug er zu, und es erschienen viele Rinder, danach ein Schaf, eine Ziege und zuletzt ein weißer Ochse.

Die kleine alte Frau blieb bei dem Baum, die beiden Brüder aber verließen das Land und trieben mit ihren Hunden das Vieh vor sich her. Es herrschte Trockenheit, das Land war ausgedörrt, und sie konnten lange kein Wasser finden. Endlich langten sie an einem Wasserloch an, in dem ganz tief unten noch Wasser war. Der ältere Bruder sprach: »Binde mir ein Seil um und lass mich nach unten, damit ich trinken kann, einen Weg hinunter gibt es nicht.« Also ließ sein Bruder ihn an einem Seil hinab, und der ältere trank sich satt. Nachdem sein Bruder ihn wieder herausgezogen hatte, bat er: »Bruder, lass mich auch hinunter, damit ich meinen Durst löschen kann.« Der ältere ließ ihn an dem Seil hinunter bis auf den Grund des Wasserlochs, aber er zog ihn nicht wieder hinauf, sondern machte sich mit dem Vieh auf und davon.

Als er in seinem Dorf anlangte, fragte ihn jemand: »Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?«

»Der ist vor mir umgekehrt«, entgegnete er, »ich bin einer alten Frau gefolgt, von der ich dieses Vieh erhalten habe!« Danach begaben sich alle zur Ruhe.

Am nächsten Morgen tauchte im Dorf ein Vogel auf und sang: »Tschio, tschio, tschio! Der jüngere Sohn wurde ins Wasser geworfen!« Die Männer fragten einander: »Hört ihr, was der Vogel da sagt?« Und sie meinten: »Wir wollen ihm folgen, vielleicht ist er wie der Honigvogel, der die Leute ruft und dorthin führt, wo es Honig gibt.« Und sie folgten dem Vogel, der voraus flog und immer wieder sang: »Tschio, tschio, tschio! Der jüngere Sohn wurde ins Wasser geworfen.« Endlich waren sie an jenem Wasserloch angelangt, an dem die Brüder getrunken hatten. Der Vogel flog hinunter, und die Leute hörten nun sein Lied aus der Tiefe herausklingen Der Vater des Jungen beugte sich über den Rand, und als er seinen Sohn dort unten entdeckte, rief er erschrocken aus: »Oh, wie bist du nur dorthin gekommen?« Der Junge rief zurück: »Mein Bruder hat mich heruntergelassen und ist dann auf und davon gegangen, weil er zu feige war, mich zu töten. Wir waren nämlich auf eine lange Reihe von Töpfen gestoßen. Mein Bruder fürchtete sich vor ihnen, aber ich habe sie angehoben, und aus dem letzten kam eine alte Frau. Und weil mein Bruder sich wieder fürchtete, die Alte zu begleiten, bin ich mit ihr gegangen. Er ist uns nur gefolgt. Die Frau hatte mich, nicht ihn, nun aufgefordert, einen Baum zu schlagen. Aus jenem Baum kamen Rinder, ein Schaf, eine Ziege und zuletzt ein weißer Ochse. Das Vieh gehörte mir, aber wir haben es gemeinsam weggetrieben. Als ich hier unten Wasser trank, ist mein Bruder mit dem Vieh verschwunden.«

»Wie sollen wir dich nur herausholen«, klagte der Vater. Und der Sohn antwortete: »Holt noch ein Seil, damit ich es an das anbinden kann, das mein Bruder hier gelassen hat.« Der Vater machte sich auf den Weg, und die Mutter des Jungen warf ihm Essen nach unten, das sie für die lange Wanderung mitgenommen hatte.

Im Dorf angekommen, verriet der Vater seinem ältesten Sohn nicht, was er vorhatte, sondern gab einem anderen Mann den Auftrag, das Seil zu der Wasserstelle zu bringen. Dort zogen die Männer den Jungen dann nach oben. Alle waren froh, und als der Junge erzählt hatte, was ihm widerfahren war, kehrten sie in ihr Dorf zurück. Der ältere Sohn aber war schon geflohen, als sie ankamen, und niemand wusste, wohin er gegangen war.