[swahili, "Geschichte, Legende"]

Woher die engelländische Königin ihren Reichtum hat

Einst stellte der Sultan seinem Großwesir folgende Frage: »Sage mir, lebt auf der Welt einer, der reicher ist als ich? Ich gebe jedem, der unter meinem Fenster bettelt, einen Dukaten.«

»Ja«, antwortete der Großwesir. »Die engelländische Königin ist reicher als du, denn sie gibt jedem, der unter ihrem Fenster bettelt, hundert Dukaten!«

»Woher hat die engelländische Königin ihren Reichtum?« fragte der Sultan. »Das weiß ich nicht!« gestand der Großwesir. »Dann erkunde es!« rief der Sultan. »Sonst lasse ich dich köpfen.« Da machte sich der Großwesir unverzüglich auf die Reise zum Palast der engelländischen Königin, stellte sich bettelnd unter ihr Fenster, und sie warf ihm hundert Dukaten hinunter.

Am selben Tage stellte sich der Großwesir insgesamt neun und neunzig Mal bettelnd unter das Fenster der engelländischen Königin und erhielt somit neuntausendneunhundert Dukaten. Als er zum hundertsten Mal unter das Fenster trat, ließ die engelländische Königin ihn zu sich rufen und fragte ihn, weshalb er soviel Geld erbetteln wolle. »Aus Armut«, gab er zur Antwort. »Du siehst aber gar nicht ärmlich aus!« wandte die engelländische Königin ein, »und mir erscheint es unwahrscheinlich, dass du milde Gaben brauchst.«

»Du hast recht, Königin«, erwiderte der Großwesir, »ich bin nicht hier um zu betteln, sondern um herauszufinden, woher dein Reichtum stammt. Erfahre ich das nicht, dann lässt mich der Sultan, mein Gebieter, köpfen.«

»Vierzig Tage von hier«, gab die engelländische Königin zur Antwort, »sitzt ein Jüngling auf dem Markt, vor sich einen Mörser, in dem er Diamanten zu Pulver zerstößt. Das Pulver schüttet er sich auf die Hand und bläst es in den Wind. Geh zu ihm, und wenn er dir den Grund seines Tuns verrät, dann werde ich dir auch sagen, woher mein Reichtum stammt.«

Unverzüglich machte sich der Großwesir auf den Weg und fand auch nach vierzig Tagen den Markt, wo der Jüngling vor dem Mörser saß, für tausend Dukaten einen Diamanten erwarb, ihn im Mörser zu Pulver zerstieß und das Pulver in den Wind blies. Eilends ging der Großwesir zu ihm hin. »Wie kommt es, dass du deinen Besitz in den Wind bläst?« fragte er. »Vierzig Tage von hier«, gab der Jüngling zur Antwort, »sitzt auf einem Kreuzweg ein blinder, hinfälliger Greis und weint bitterlich. Jeder, der an ihm vorüberwandert, gibt ihm zwei Maulschellen und erhält dafür zwei Goldstücke. Geh zu ihm, und wenn er dir den Grund für diese erstaunlichen Vorgänge verrät, werde ich dir deine Frage beantworten.«

Nach vierzig Tagen erreichte der Großwesir den Kreuzweg und sah dort auch einen blinden Greis sitzen. »Gib mir zwei Maulschellen!« bat der Greis. »Ich bin nicht gekommen um dich zu schlagen«, erwiderte der Großwesir. »Vielmehr möchte ich erfahren, aus welchem Grunde du die Prügel, die du erhältst, mit Goldstücken bezahlst.«

»Gib auch du mir zwei Maulschellen, dann werde ich mit dir reden«, sagte der Greis. Der Großwesir tat es, und der Greis reichte ihm zwei Goldstücke. »Vierzig Tage von hier«, sagte er sodann, »lebt ein Muezzin, der hundertmal am Tage zum Minarett hinauf und wieder herunter läuft. Geh zu ihm, und wenn er dir den Grund seines Tuns verrät, werde ich deine Frage beantworten.«

Der Großwesir wanderte weiter, fand auch nach vierzig Tagen jenen Muezzin und fragte ihn, weshalb er so häufig sein Minarett hinauflaufe. »Vierzig Tage von hier«, gab der Muezzin zur Antwort, »wohnt ein alter Schuster, der zwei Stunden hintereinander weint und danach vier Stunden hintereinander lacht. Geh zu ihm, und wenn er dir den Grund seines Tuns verrät, werde ich deine Frage beantworten.«

Der Großwesir wanderte weiter, kam auch nach vierzig Tagen zu dem alten Schuster und fragte ihn, aus welchem Grunde er zwei Stunden hintereinander weine und vier Stunden hintereinander lache. »Vierzig Tage von hier«, gab der alte Schuster zur Antwort, »haust in der Wüste ein Einsiedler. Zwei Löwen hocken ihm auf den Schultern, aber er denkt nicht daran, sich von ihnen zu befreien. Geh zu ihm, und wenn er dir sagt, was das zu bedeuten hat, werde ich dir auch den Grund meines Tuns verraten.«

Der Großwesir wanderte in die Wüste und fand dort den Einsiedler. »Was machst du hier in der Wüste?« fragte er. »Oh, frage mich nicht!« erwiderte der Einsiedler. »Einst stand ich im Dienst bei einem Hodscha, der eine Pilgerfahrt unternahm, mich aber zurückließ, um das Haus zu hüten. ›Du wirst keinen Mangel leiden, mein Sohn‹, sprach er vor seinem Aufbruch, ›denn in meinem Hause ist alles in Hülle und Fülle vorhanden. Du darfst auch sämtliche Zimmer benutzen mit Ausnahme von dem, dessen Tür verschlossen ist, und ich verbiete dir strengstens, diese Tür zu öffnen.‹ Kaum war der Hodscha fort, da lief ich, von teuflischer Neugier getrieben, zu der verbotenen Tür und schloss sie auf. Beim Eintreten sah ich, dass das Zimmer einen klarblauen See enthielt. Schnell warf ich meine Kleider ab und sprang hinein, um ein Bad zu nehmen. Doch als ich untertauchte, ward ich in diese Wüste versetzt. Seit vierzig Jahren halten mich die beiden Löwen, die auf meinen Schultern ruhen, hier zurück, und du bist der erste Mensch, den ich zu Gesicht bekomme. Nun gehab dich wohl und berichte meine Geschichte dem, der dich her sandte.« Der Großwesir nahm Abschied von ihm und machte sich auf den Rückweg.

Bei dem alten Schuster angelangt, erzählte er ihm, was dem Einsiedler widerfahren war. »Dann will ich dir auch meine Geschichte offenbaren«, sprach der alte Schuster. »Als junger Mann reiste ich nach Istanbul, verliebte mich in die Tochter des Sultans und wurde mit ihr vermählt. Sie kochte mir die besten Speisen und war so demütig, dass sie sich um keinen Preis der Welt zu mir an den Tisch gesetzt hätte. Forderte ich sie dazu auf, dann gab sie zur Antwort: ›Ich bin unwürdig, mit dir an einem Tische zu essen.‹ Im Laufe der Jahre schenkte sie mir zwei Kinder, die ich innig liebte. Eines Tages, als ich im Kaffeehaus saß, kam ich mit einem weißbärtigen Greis ins Gespräch und erzählte ihm von dem seltsamen Verhalten meines Weibes. Er gab mir diesen Rat: ›Pass auf, ob sie sich nachts aus der Kammer entfernt, und folge ihr heimlich. Dann wirst du den Grund für ihr Verhalten erfahren.‹ Ich ging heim, legte mich zur gewohnten Zeit zu Bett und stellte mich schlafend. Um Mitternacht setzte sich meine Frau auf und stach mich mit einer Nadel um festzustellen, ob ich schliefe. Als ich mich nicht rührte, erhob sie sich aus dem Bett, öffnete die Tür und verließ das Zimmer. Ich schlich ihr nach und sah, dass sie auf den Friedhof lief. Dort scharrte sie das frische Grab eines Jünglings auf, holte ihm die Leber aus dem Leibe, verzehrte sie und schüttete das Grab wieder zu. Mich schüttelte das Grauen, aber ich hatte noch soviel klaren Verstand, dass ich heim rannte und auch schon wieder scheinbar schlafend im Bett lag, als die Unholdin zurückkam. Am nächsten Mittag forderte ich sie wiederum auf, mein Mahl zu teilen, und als sie ablehnte, sagte ich: ›Du hast dich wohl heute Nacht an der Leber des toten Jünglings satt gegessen?‹ Lieber Freund, was da mit ihr geschah, hättest du sehen müssen! Sie fuhr hoch, ihre Fingernägel verwandelten sich in Eisenkrallen, groß wie Ofenhaken, und damit wollte sie sich auf mich stürzen.

Da nahm ich Reißaus, rannte vierzig Tage und vierzig Nächte, bis ich in dieses Land kam, und seitdem verdiene ich hier als Schuster meinen Lebensunterhalt. Wenn ich nun an meine beiden geliebten Kinder denke, muss ich zwei Stunden lang weinen, doch wenn ich mich erinnere, wie ich der Unholdin entwischt bin, muss ich vier Stunden lang lachen. Nun gehab dich wohl und berichte meine Geschichte dem, der dich zu mir sandte.«

Nach vierzig Tagen gelangte der Großwesir zum Muezzin und berichtete ihm vom Schicksal des Schusters. »Dann will ich dir auch meine Geschichte erzählen«, sagte der Muezzin. »Als ich eines Mittags auf das Minarett gestiegen war, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen, kam plötzlich ein Riesenvogel geflogen, packte mich, trug mich auf eine ferne Insel und setzte mich dort nieder. Als ich Umschau hielt, erblickte ich ein Haus und fand darin eine schöne Jungfrau. ›Sei mir willkommen‹, rief sie, lief auf mich zu und nahm mich bei der Hand. ›Du sollst mein Gatte sein. Aber merke dir, dass du nur so lange auf dieser Insel weilen kannst, wie du deine Heimat vergisst.‹ Ein Jahr lang lebte ich mit dem Mädchen auf der fernen Insel und war unsagbar glücklich. Doch einmal, als ich mit ihr am Fenster saß, entfuhr mir der Seufzer: ›Ach, wäre ich doch jetzt in meiner Heimat und könnte die Gläubigen vom Minarett zum Gebet rufen!‹ Kaum hatte ich das gesagt, da flog der Riesenvogel herbei, packte mich und trug mich zum Minarett zurück. Seitdem laufe ich hundertmal am Tage hinauf in der Hoffnung, dass er wiederkommt und mich auf die Insel trägt. Nun gehab dich wohl und berichte meine Geschichte dem, der dich zu mir sandte.«

Eilig ging der Großwesir zu der Kreuzung, wo der Blinde saß, und teilte ihm die Geschichte des Muezzins mit. »Gut, dann will auch ich mich dir entdecken«, sagte der Blinde. »Ich war Viehhändler und besaß vierundzwanzig Pferde. Auf der Landstraße traf ich einen Derwisch, der fragte mich: ›Übernimmst du auch die Beförderung von Lasten?‹ Ich bejahte und folgte ihm zu einer Höhle, die durch ein Eisentor verschlossen war. Der Derwisch zog ein Buch aus der Tasche und las solange darin, bis das Tor von allein aufsprang. ›Hol deine Säcke her!‹ befahl er. Ich gehorchte und brachte ihm achtundvierzig Säcke, die wir in der Höhle mit Goldstücken füllten und auf die Pferde verluden. Der Derwisch steckte sich noch einen Spiegel ein, der in der Höhle lag, und dann machten wir uns auf den Rückweg. Ich brachte den Derwisch bis zu seiner Herberge, wo wir die Säcke abladen und uns trennen wollten. Als Bezahlung verlangte ich zunächst zwei Säcke mit Goldstücken, die mir der Derwisch auch bereitwillig überließ. Aber dann packte mich die Habgier, ich steigerte meine Forderung auf fünf Säcke, auf zehn Säcke, und als ich merkte, dass der Derwisch auf alles einging, verlangte ich schließlich die Hälfte aller Säcke, nämlich vierundzwanzig, und den Spiegel als Draufgabe. Die Säcke überließ mir der Derwisch anstandslos, doch den Spiegel wollte er mir nicht überlassen. ›Das wirst du bereuen‹, sagte er warnend, doch ich beharrte auf meinem Willen und riss ihm den Spiegel fast aus der Hand, glaubte ich doch, damit eine besondere Kostbarkeit gewonnen zu haben. Aber als ich hineinblickte, erblindete ich auf dem rechten Auge, und als ich zum zweiten Mal hineinblickte, erblindete ich auf dem linken. Dann packte mich ein unsichtbarer Geist und versetzte mich mitsamt meinen Geldsäcken auf diesen Kreuzweg. Seitdem sitze ich hier und belohne jeden Wanderer, der mir zwei Maulschellen verabreicht, mit zwei Goldstücken. Damit werde ich solange fortfahren, bis sämtliche Säcke geleert sind, um mich für meine Habgier zu bestrafen. Nun gehab dich wohl und berichte meine Geschichte dem, der dich her sandte.«

Eilends zog der Großwesir weiter bis zu dem Jüngling, der in seinem Mörser Diamanten zerstieß, und übermittelte ihm den Bericht des Greises. »Gut, dann werde ich dir auch meine Geschichte erzählen«, rief der Jüngling. »Mein Vater war ein Derwisch. Eines Tages erkrankte er schwer, und als er spürte, dass sein Ende nahe war, rief er mich zu sich. ›Lieber Sohn‹, sprach er. ›Ich hinterlasse dir ein reiches Erbe, verwalte es umsichtig. Solltest du es aber eines Tages verschleudert haben, so rate ich dir, dich aufzuhängen. Für diesen Fall habe ich dir bereits in unserem alten Hause eine Schlinge geknüpft.‹ Sodann nahm er Abschied von mir und gab seinen Geist auf. Ich begrub ihn und weinte an seinem Grabe heiße Tränen. Meine zwanzig Freunde umringten mich und weinten mit. ›Gibt es wirklich kein Mittel, um die Tränen zu trocknen und den Schmerz zu lindem?‹ rief ich verzweifelt. ›Freilich gibt es so ein Mittel!‹ erwiderten meine Freunde. ›Nämlich den Branntwein, von dem eine Flasche einundfünfzig Dukaten kostet.‹ Sogleich zog ich meine Geldbörse, zählte einundfünfzig Dukaten ab und ließ den Branntwein holen. Und nachdem wir ihn ausgetrunken hatten, war die Trauer um meinen Vater wie fort geblasen. Ich vergaß sogar, dass ich mich auf einem Friedhof befand, und sang mit meinen Freunden am Grabe des. Vaters leichtfertige Lieder. Ich ließ noch mehr Branntwein holen, eine Flasche für jeden, bestellte die Musikanten, und wir tranken und sangen, bis die anbrechende Nacht uns vom Friedhof vertrieb. Am nächsten Morgen zechte ich mit meinen Freunden weiter, tagelang, wochenlang, bis ich mein gesamtes Erbe verschleudert hatte. Als meine Taschen leer waren, wandten sich meine Freunde von mir ab, und ich erfuhr zu meiner größten Verwunderung, dass sie samt und sonders inzwischen einen eigenen Handel aufgemacht hatten.« Er fuhr fort: »Und denke dir, auf welche Weise sie reich geworden waren: Sie hatten für die Branntweinflaschen nur dreißig Dukaten bezahlt, mir hingegen einundfünfzig abgenommen und somit an jeder Flasche einundzwanzig Dukaten verdient.

Angeekelt von solchem Verrat begab ich mich in unser altes Haus, um meinem Leben durch Erhängen ein Ende zu machen, wie es mir mein verstorbener Vater geraten hatte. Als ich die Tür öffnete, sah ich auch schon die Schlinge vom Dachgebälk hängen. Ich kletterte auf einen Stuhl, legte sie mir um den Hals und sprang. Da zerkrachte das Dachgebälk, ich fiel zu Boden, und ein Diamantenregen prasselte auf mich herab. Einen der Steine nahm ich, verkaufte ihn auf dem Markt und kleidete mich von dem Erlöse neu ein. Dadurch erfuhren meine ehemaligen Freunde, dass ich wieder reich geworden war, und kamen von allen Seiten herbeigeströmt, um mir mit ihren üblen Mitteln erneut das Geld abzuluchsen. Doch ich würdigte sie keines Blickes.

Seitdem sitze ich täglich auf dem Markt und lasse meine Diamanten zum Verkauf anbieten. Ist ihr Preis auf tausend Dukaten gestiegen, nehme ich sie zurück, zerstoße sie zu Pulver und blase es in den Wind. Und das werde ich solange tun, bis die letzten beiden meiner zwanzig ehemaligen Freunde dem Beispiel der übrigen gefolgt und vor Neid und Wut verreckt sind. Nun gehab dich wohl und berichte meine Geschichte dem, der dich zu mir sandte.«

Der Großwesir dankte ihm für seine Worte, begab sich zum Palast der engelländischen Königin und erzählte ihr die Geschichte des Jünglings. »Geh zu deinem Sultan«, sprach sie, »und sage ihm, dass ich das Geheimnis des Königs Salomo besitze. Es ist die Quelle meines Reichtums.« Da kehrte der Großwesir zum Sultan zurück, brachte ihm die befohlene Auskunft und rettete auf diese Weise seinen Kopf.