[swahili, "Geschichte, Legende"]

Wie das Siebengestirn entstand

Es waren einmal zwei große Länder; das eine wurde von König Petar beherrscht und das andere von König Tatarin. König Petar hatte eine Tochter, die schöner war als alle Jungfrauen der ganzen Welt. Deshalb sandte König Tatarin eines Tages einen Boten zu König Petar und ließ ihm bestellen, dass er seine Tochter zur Frau haben wolle. »Bekomme ich sie nicht«, so schrieb er, »dann werde ich dein Land mit Krieg überziehen, dein Volk unterwerfen, deine Dörfer und Städte zerstören, deine Tochter entführen und dich gefangen nehmen.«

»Geh zu König Tatarin zurück«, erwiderte König Petar, »und bestelle ihm, dass meine Tochter gestorben ist. Er soll sich eine andere Braut suchen und seine Kriegspläne aufgeben.«

Kaum war der Bote fort, da ließ König Petar in aller Eile einen unzugänglichen Turm bauen, in dem zwei Menschen mit einem Lebensmittelvorrat für drei Jahre Platz hatten. Als der Turm fertig war, ging er mit seiner Tochter hinein und ließ sich einmauern. Zuvor hatte er seinen treuen Diener auf den Thron gesetzt und ihm aufgetragen, das Land drei Jahre lang zu regieren, nach Ablauf der drei Jahre den Turm einzureißen und ihn und die Prinzessin wieder herauszuholen. Und wenn jemand nach ihm, dem König Petar, fragen sollte, dann müsste er sagen, dass der König Petar sein Land verlassen hätte und ausgezogen wäre, um den Sonnenkönig zu fragen, aus welchem Grunde die Wintertage kurzer und obendrein kälter seien als die Sommertage, denn dadurch seien seine Untertanen nicht imstande, das ganze Jahr hindurch mit gleichmäßigem Fleiß zu arbeiten, sondern müssten im Winter die Hände in den Schoß legen.

Kurz darauf kam auch König Tatarin wirklich angeritten, und als Petars Diener ihm sagte, was sein Herr ihm aufgetragen hatte, suchte er das schloss nach ihm und seiner Tochter ab. Da dort aber Grabesstille herrschte und sie auch im ganzen Land nicht aufzufinden waren, kehrte er zurück und gab seine Kriegspläne auf.

Drei Jahre vergingen, und eines Tages war es so weit, dass der Turm eingerissen wurde. Aber nur König Petar kam wieder zum Vorschein - seine Tochter verschwand im selben Augenblick, als die Maurer den ersten Stein aus der Mauer nahmen. Am selben Tage wurde ein Sklave zum Tode verurteilt, und viele Bürger der Stadt strömten herbei, um der Hinrichtung beizuwohnen. Da rief der Sklave mit lauter Stimme: »Wenn König Petar Wüsste, was er nicht weiß, würde er mir die Freiheit und das Leben schenken und mich aussenden, dass ich ihm seine Tochter zurückhole!« Das hörte der König, und er ließ den Sklaven zu sich kommen. »Würdest du mir tatsächlich meine Tochter zurückbringen, falls ich dir das Leben schenke?«

»Ja«, erwiderte der Sklave, »vorausgesetzt, dass du mich auch von meinen schweren Ketten befreist.« Da ließ König Petar ihm die Ketten abnehmen, gab ihm einen Zehrpfennig und schickte ihn auf die Suche. Lange streifte der Sklave durch die Welt und erkundigte sich überall nach der Prinzessin. Aber niemand wusste etwas von ihr.

Und nachdem er neun Länder durchwandert hatte, sah er an der äußersten Grenze des neunten eine Hütte stehen, ging hinein und erblickte eine alte Frau. »Gott zum Gruß, Mütterchen!« rief er, trat vor die Alte hin und küsste ihr die Hand. »Gott schütze dich. Söhnchen! Was bringst du Gutes?«

»Ich suche die Tochter des Königs Petar«, gab der Sklave zur Antwort und erzählte ihr alles. »Dein Glück, dass du mich beim Eintreten Mütterchen genannt und mir die Hand geküsst hast«, sagte die Alte. »Dadurch bist du nun mein Sohn. Meine übrigen Söhne sind Drachen. Wen sie hier antreffen, den zerfleischen sie. Aber ich werde dich schützen.«

Sie setzte sich neben ihn und erzählte weiter: »Mein ältester Sohn ist ein so gewandter Dieb, dass er einem lebendigen Schaf das Lamm aus dem Leib stiehlt, ohne dass das Schaf es merkt. Mein zweiter Sohn hat eine so scharfe Nase, dass er alle Spuren wittert, mögen sie auch neun Jahre alt sein. Mein dritter Sohn ist ein Baumeister, der schneller ein schloss bauen kann, als man in die Hände klatscht. Mein vierter Sohn ist ein Meisterschütze, der jeden Stern am Himmel trifft. Der fünfte ist so ein gewandter Fänger, dass er den Blitz zu greifen vermag. Wenn meine Söhne es nicht fertig bringen, die Prinzessin zu finden, dann wird es niemandem gelingen.«

Da donnerte und krachte es hinter der Tür, und die fünf Drachen kehrten heim. Flink versteckte die Alte den Sklaven, damit die Drachen ihn nicht zerfleischen. »Guten Abend, Mütterchen!« riefen sie, als sie zur Tür hereinkamen. »Gott schütze euch, Kinderchen!« erwiderte die Alte. »Herzlich willkommen! Wie steht's, wie geht's?«

»Gut, Mütterchen!« erwiderte der Älteste. »Hier riecht's nach Menschenfleisch!« rief der Jüngste plötzlich. »Gestehe, Mütterchen, ist ein Fremder im Haus?«

»Du hast es erraten, Söhnchen. Aber es ist kein Fremder, sondern euer Nennbruder, den ich an Kindesstatt angenommen habe, weil er mich bei seinem Eintritt Mütterchen nannte und mir die Hand küsste.«

»Und was ist unserem Nennbruder vonnöten?« fragte der Jüngste. »Er sucht die Tochter des Königs«, erwiderte die Alte, erzählte ihnen alles und fügte hinzu: »Morgen früh, Kinderchen, sollt ihr euch auf die Suche nach der Prinzessin machen. Jetzt aber schwört mir, dass ihr eurem Nennbruder kein Haar krümmen werdet.« Das schworen die Drachen. Da ließ sie den Sklaven unter dem Waschtrog hervor kriechen. Er begrüßte seine neu gewonnenen Brüder, küsste sich der Reihe nach mit allen und verlor dabei mehr als drei Schöpfkellen voll Blut. Dann aßen sie zu Abend und gingen zur Ruh. Die Drachenmutter und ihre Söhne schliefen sogleich ein, der Sklave aber wälzte sich vor Schmerzen auf seinem Lager hin und her, bis der Tag graute.

Bei Tagesanbruch standen die Drachenbrüder auf und zogen mit ihrem Nennbruder ins Land des Königs Petar. Beim Turm angelangt, nahm der Drachenbruder mit der scharfen Nase die Spur der Prinzessin auf und stellte fest, dass sie vom siebenköpfigen Drachen entführt worden war. Der Dieb unter den Drachenbrüdern schlich auf leisen Sohlen ins schloss des siebenköpfigen Drachens. Dieser lag in tiefem Schlafe, um die Prinzessin herumgeringelt. Ohne dass er es merkte, stahl der Dieb sie weg und trug sie aus dem schloss. Doch beim Erwachen wusste der siebenköpfige Drachen gleich, wer sie gestohlen hatte, und jagte den Drachenbrüdern nach. Sie erblickten ihn, als er schon ganz nahe war, und der Baumeister errichtete blitzschnell eine Burg, in der sich alle verbargen.

Wütend umzingelte der siebenköpfige Drache sie mit seinen Köpfen, indem er drei nach rechts, drei nach links und den mittleren darüber hinweg reckte, und spie mit allen sieben Rachen Rauch und Feuer; die Sonne verhüllte sich, tiefe Finsternis sank über die Erde, und die Burg zerfiel zu Staub. Er riss die Prinzessin an sich und schwang sich mit ihr zu den Wolken empor. Da spannte der Meisterschütze seinen Bogen und traf das Ungeheuer ins Herz, so dass es die Prinzessin fallen ließ und selber hinterdrein fiel. Aber der Fänger sprang vor und fing sie behutsam auf, damit sie sich kein Leid tat. Und als der siebenköpfige Drache zu Boden krachte, stürzten sich die übrigen Brüder auf ihn und schlugen ihm alle sieben Köpfe ab.

Auf diese Weise befreiten die fünf Drachenbrüder und ihr Nennbruder, der Sklave, die schöne Prinzessin aus der Gefangenschaft. Aber sie wurden ihrer nicht froh und begannen sogleich zu streiten, wessen Frau sie werden sollte. »Brüder, die Jungfrau gehört mir!« rief der Sklave. »Hätte ich mich nicht auf die Suche nach ihr gemacht, so hättet ihr sie niemals finden können!«

»Nein! Sie ist mein!« widersprach der erste Drachenbruder, »denn ich habe ihre Spur aufgenommen.«

»Nein, sie ist mein!« widersprach der zweite. »Denn ich habe sie weggestohlen.«

»Nein, sie ist mein!« widersprach der dritte. »Denn ich habe die Burg gebaut, in der wir Zuflucht fanden.«

»Nein, sie ist mein!« widersprach der vierte. »Denn mein Pfeil hat den siebenköpfigen Drachen ins Herz getroffen.«

»Nein, sie ist mein!« widersprach der fünfte. »Denn ich fing sie auf, als sie aus den Wolken fiel.«

Streitend gingen sie weiter, bis sie die Mutter der Winde trafen. »Bitte, schlichte unseren Streit!« baten sie. Die Mutter der Winde hörte sich den Streitfall an. »Sagt mir zuvor, was euch die Mutter des Mondes geraten hat!« erwiderte sie. »Bei ihr waren wir noch nicht!« sagten die Brüder. »Dann geht zu ihr«, riet die Mutter der Winde. »Sie kann euren Streit besser schlichten, zieht ihr Sohn doch über den größten Teil der Welt.« Da gingen die Brüder mit der Prinzessin zur Mutter des Mondes. »Wart ihr schon bei der Mutter der Sonne?« fragte diese, als sie ihr den Streitfall vorgetragen hatten. »Nein«, antworteten die Brüder. »Dann geht zu ihr«, riet die Mutter des Mondes. »Sie kann euren Streit besser schlichten, zieht doch ihre Tochter über die ganze Welt.«

Da gingen die Brüder mit der Prinzessin zur Mutter der Sonne. »Die Mutter des Mondes schickt uns«, erklärten sie. »Du sollst entscheiden, wem die Prinzessin gehört.« Und sie erzählten ihr den Streitfall. »Habt ihr selber eine Mutter, Kinderchen?« fragte die Mutter der Sonne. »Freilich«, erwiderten die Brüder. »Dann geht zu ihr, Kinderchen!« sagte die Mutter der Sonne. »Die eigene Mutter kann einen Streit ihrer Kinder stets am besten und gerechtesten schlichten. So wird euch auch eure Mutter sagen können, was mit der Prinzessin geschehen soll.« Da kehrten die Brüder nach Hause zurück und berichteten ihrer Mutter, was sie erlebt und welche Taten sie vollbracht hatten, dass sie Rat suchend umhergewandert wären und warum die Mutter der Sonne sie zu ihrer eigenen Mutter zurückgeschickt hatte. »Hört, meine Kinder, den Rat eurer Mutter!« erwiderte sie lächelnd. »Ihr seid meine Söhne, und die Prinzessin soll meine Tochter sein. Ihr seid Brüder, und sie soll eure Schwester sein.« Und die Brüder fügten sich ihrer Entscheidung.

Seitdem stehen die sechs Brüder mit ihrer Schwester am Himmel. Es sind die funkelnden Sterne des Siebengestirns. Alljährlich besuchen sie die Mutter der Winde, die Mutter des Mondes und die Mutter der Sonne, um sich für die Ratschläge zu bedanken, die jene ihnen gaben. Das tun sie am 28. Juni und am 26. November, denn zu dieser Zeit stehen sie nicht am Himmel.