[swahili, "Geschichte, Legende"]

Tschilbik und die Hexe Chart

Eine alte Frau hatte drei Söhne. Die beiden ältesten waren gescheit und flink, der jüngste aber, Tschilbik, war ein Tölpel. Sein Haarschopf war ständig verlaust und verfilzt und seine Haut grindig. Alle schlugen ihn und trieben ihren Spott mit ihm. Eines Tages gingen die Brüder in den Wald, um Reisig zu sammeln, und verirrten sich. Es dunkelte schon, als sie an eine Hütte kamen. Die Brüder traten ein und erstarrten vor Schreck: Am Herdfeuer wärmte sich die Hexe Chart mit ihren drei Töchtern. »Nehmt Platz und teilt mit uns das Nachtmahl, liebe Gäste«, sagte die Hexe und bewirtete die Brüder. Die beiden ältesten bekamen vor Angst nicht einmal den Mund auf, Tschilbik hingegen aß für drei. Nach dem Nachtmahl bereitete die Hexe Chart ihren Töchtern das Nachtlager auf einem Bett, das andere aber richtete sie für die drei Brüder. Sie selbst legte sich am Herd zur Ruhe.

Um Mitternacht stand sie auf und schärfte ihr Messer. »Wer schläft, und wer schläft nicht?« fragte sie. Tschilbik antwortete: »Ich schlafe, und ich schlafe nicht.«

»Warum schläfst du nicht, Tschilbik?« wollte die alte Chart wissen. »Was willst du noch?«

»Um diese Zeit hat Mutter mir immer Chinkaly gekocht«, entgegnete Tschilbik. »Daran muss ich denken, und so kann ich nicht einschlafen.« Chart entfachte das Feuer im Herd, bereitete Chinkaly und setzte sie Tschilbik vor. Nach einiger Zeit fragte sie wieder: »Wer schläft, und wer schläft nicht?«

»Ich schlafe, und ich schlafe nicht«, erwiderte Tschilbik. »Was willst du nun noch?«

»Um diese Zeit gab Mutter mir immer Chalwa. Daran muss ich denken, und so kann ich nicht einschlafen.« Chart bereitete Chalwa und reichte sie Tschilbik. Nach einiger Zeit fragte sie zum dritten Mal: »Wer schläft, und wer schläft nicht?«

»Ich schlafe, und ich schlafe nicht«, entgegnete Tschilbik. »Was willst du denn nun bloß noch?«

»Um diese Zeit brachte Mutter mir immer in einem Sieb Wasser vom Fluss.« Chart nahm ein Sieb und ging zum Fluss. Sie schöpfte Wasser, doch es rann durchs Sieb. Sie schöpfte erneut. Es rann wieder hindurch. Das ärgerte Chart, sie schleuderte das Sieb in den Fluss und kehrte in die Hütte zurück. Tschilbik hatte derweilen seine Brüder auf die Lagerstatt von Charts Töchtern geschafft und diese auf die Lagerstatt seiner Brüder. Er selbst legte sich neben seinen Brüdern zur Ruhe und wartete ab. Als die alte Chart in die Hütte trat, fragte sie: »Wer schläft, und wer schläft nicht?« Tschilbik schwieg. Da nahm die Hexe ihr Messer und schnitt im Dunkeln ihren drei Töchtern den Kopf ab, denn sie dachte, es seien die Gäste.

Im Morgengrauen ging die alte Chart aufs Feld. Bevor sie die Hütte verließ, sagte sie zu ihrer ältesten Tochter: »Kakebaar, ich gehe aufs Feld. Koche inzwischen die Burschen gar und esst. Tschilbiks Kopf aber knüpfe zur Mittagszeit in ein reines Tuch und bring ihn mir aufs Feld.«

»Gewiss, Mütterchen«, piepste Tschilbik mit Kakebaars Stimme. Chart ging. Tschilbik schickte seine Brüder heim, kochte Kakebaars Kopf, schlug ihn in ein weißes Leinentuch, zog die Kleider von Charts ältester Tochter an und begab sich zur Mittagszeit aufs Feld. Chart erblickte ihn schon aus der Ferne und rief: »Leg das Bündel dort an den Ackerrain, Töchterchen, und lauf heim! Du könntest dir einen Sonnenbrand holen!« Tschilbik legte das weiße Bündel wie befohlen an den Rain und versteckte sich hinter einem Strauch. Chart unterbrach ihre Arbeit, ging zu dem Bündel, hockte sich auf die Erde und sagte: »Na, Tschilbik, so wie du meine Chinkaly und meine Chalwa verputzt hast, so will ich mir nun deinen Kopf schmecken lassen!« Mit diesen Worten knüpfte die Hexe das Leinentuch auf und erblickte Kakebaars Kopf. Verzweifelt heulte die böse Chait, schrie und rannte los, um Tschilbik zu bestrafen. Doch der lief schon über die verzauberte Brücke und war bald daheim. Der Hexe Chart blieb nichts übrig, als in ihre Hütte zurückzukehren.

Bald verbreitete sich die Kunde darüber, wie Tschilbik die böse Hexe überlistet hatte. Sie kam auch dem obersten Landesherrn zu Ohren. Er ließ Tschilbik rufen. »Die Hexe Khan besitzt eine Zacha, auf der hundert Menschen ruhen können«, sagte der Herrscher. »Stiehl sie für mich, ich will es dir lohnen. Wirst du das für mich wagen?«

»Das ist leichter, als eine Portion Chinkaly zu verspeisen!« rief Tschilbik fröhlich und ging in den Wald. Er schnitt sich einen langen Stock und spitzte das eine Ende zu. Dann wartete er den Einbruch der Nacht ab, kletterte auf Charts Hütte, bohrte ein Loch ins Dach und blickte in die Stube. Er sah, dass die alte Chart auf dem Teppich schlief. Nun begann er die Hexe mit seinem spitzen Stock zu traktieren. Im Halbschlaf brabbelte sie: »Haben sich doch wieder die Flöhe in dieser verdammten Zacha eingenistet! Man kann kein Auge zutun!« Tschilbik traktierte sie weiter, bis Chart vollends wütend wurde, aufstand und die Zacha auf den Hof warf. Sofort packte Tschilbik den Teppich und machte sich von dannen. Doch der Geruch des Jünglings fuhr Chart in die Nase, und sie rannte hinter ihm her. Tschilbik aber lief bereits über die verzauberte Brücke und war gerettet. Da ging die Hexe Chart unverrichteterdinge wieder zurück.

Tschilbik brachte dem Landesherrn die Zacha, doch jener sprach: »Wenn du die Zacha stehlen konntest, so kannst du der alten Chart auch den Kessel für hundert Personen entwenden. Er wird sich gut machen neben der Zacha.« Tschilbik sagte nichts, füllte seinen Sack mit Steinen und ging in den Wald.

Gegen Abend kletterte der Bursche wieder aufs Dach der Hütte und sah, dass die Hexe ihr Nachtmahl bereitete. Tschilbik begann Steine in den Kessel zu werfen, so dass das zerlassene heiße Fett der Hexe ins Gesicht spritzte. Sie ärgerte sich über den dummen Kessel und schrie: »Seit dem Tod meiner Töchter geht mir nichts mehr von der Hand! Selbst der Kochtopf ist gegen mich!« Tschilbik aber warf weiter eifrig Steine in den Kessel. Da wurde die alte Chart fuchsteufelswild und schleuderte den Kessel aus der Hütte. Tschilbik fing ihn geschickt auf und lief davon. Die Hexe setzte ihm nach, doch Tschilbik lief bereits über die Brücke, und die Hexe hatte wiederum das Nachsehen. Als der Landesherr den Kessel in seinen Händen hielt, sprach er: »Ich habe gehört, die alte Chart besitzt eine goldene Ziege, die morgens und abends ein Sack Milch gibt. Bringe sie mir, und ich will dich reich entlohnen.« Tschilbik war des ewigen Stehlens überdrüssig. Doch was blieb ihm übrig? Missmutig verließ er den Hof des Gebieters.

Mitten in der Nacht kletterte er aufs Dach der Schafhürde und begann die Ziege mit seinem spitzen Stab zu traktieren. Die Ziege meckerte wehleidig und weckte die alte Chart. Tschilbik aber traktierte die Ziege munter weiter. »Mögen dich die Wölfe reißen!« rief die erboste Chart und jagte die Ziege durchs Hoftor. Tschilbik packte sie und ergriff die Flucht. Die Hexe nahm zwar die Verfolgung auf, doch Tschilbik eilte bereits über die Brücke, und die Alte musste wieder mit leeren Händen zurückkehren.

Als Tschilbik dem Landesherrn die Ziege brachte, sprach jener: »Ich will dir eine letzte Aufgabe stellen, Tschilbik. Alle Welt redet von dieser Chart, aber ich habe sie mein Lebtag nicht zu Gesicht bekommen. Wenn du sie mir herbeischaffst, will ich dir meine Tochter zur Frau geben und dich zu meinem ersten Berater machen.« Tschilbik wollte den Auftrag ablehnen, doch die Vertrauten des Landesherrn stürzten sich auf ihn, stießen ihn zu Boden und verprügelten ihn. »Für unseren Gebieter und sein Töchterlein gibt man mit Freuden hundert Leben hin!« riefen sie im Chor.

Tschilbik verfluchte insgeheim sein Schicksal, ging nach Hause, fertigte sich einen Bart aus Wolle, warf sich statt eines Umhangs einen zerschlissenen Teppich um die Schultern und glich nun einem alten Bettler.

Er ging zur alten Khan und bat: »Gib mir einen Kanten Brot. Allah möge es dir vergelten!« Die Hexe witterte Unheil und fragte misstrauisch: »Bist du nicht Tschilbik?« Tschilbik brach in Tränen aus. »Mögen Tschilbik, seine Kinder und seine Enkel bis in alle Ewigkeit verflucht sein! Er hat meinen Vater und meine Mutter erschlagen, hat meine Schafe gestohlen und mich an den Bettelstab gebracht.« Da hob auch die alte Chart zu weinen an und berichtete dem Bettler von ihrem Unglück. Dann fragte sie: »Kannst du mir nicht eine neue Truhe fürs Korn bauen?«

»Natürlich«, versicherte Tschilbik und machte sich sofort ans Werk. Eine Stunde später war die Truhe fertig. Die Hexe kletterte hinein, hustete zur Probe, und die Truhe fiel auseinander. »Baue mir eine schöne feste Truhe«, sagte die böse Chart unzufrieden. »So ein morsches Ding will ich nicht.« Tschilbik fertigte eine Truhe aus Eichenbohlen. Die Hexe kletterte hinein, hustete, hustete, doch die Truhe stand. Da schlug Tschilbik den Deckel zu, verschloss die Truhe und rief: »Hörst du, Chart? Ich bin Tschilbik!«

Die böse Chart mochte husten und schreien, soviel sie wollte, es half ihr nichts. Tschilbik schleppte die Truhe fort und redete unentwegt auf die Alte ein: »Sei vorsichtig, hole dir keinen Kratzer, schöne Frau, sonst gefällst du am Ende unserem Gebieter nicht!« So gelangten sie zur verzauberten Brücke. Tschilbik sagte: »He, Chart, jetzt betreten wir die Brücke!« Die böse Khan zitterte am ganzen Leibe und wäre vor Angst beinahe gestorben. Als Tschilbik das Schloss des Gebieters erreichte, stellte er die Truhe vor dem Landesherrn ab, füllte sich zwei Säcke mit Sand und kletterte auf einen Baum. Auf ein Zeichen des Gebieters öffneten die Nuker die Truhe. Da sprang die Hexe Chart heraus, verschlang die Nuker, verschlang den Gebieter, all seine Vertrauten und alle Menschen weit und breit, alle Tiere und alle Vögel. Endlich erblickte sie Tschilbik und kletterte auf den Baum. Doch der Bursche schleuderte ihr die mit Sand gefüllten Säcke ins Gesicht. Die böse Hexe Chart stürzte hinab, platzte und war tot. Aus ihrem Leib aber flatterten mit lautem Kikeriki Hähne, mit lautem Muhen kamen Kühe, mit Blöken Schafe und mit lauten Freudenrufen Menschen ans Tageslicht. Nur die Tochter des Gebieters war nicht unter ihnen. Da schnitt Tschilbik der toten Hexe den Zeigefinger auf, und das Mädchen sprang heraus.

Sofort wurde zur Hochzeit gerüstet und Tschilbik mit der schönen Tochter des Gebieters vermählt. Die Trommeln wurden gerührt, die Surna geblasen, und das Fest begann. Ich aber habe die fröhliche Hochzeitsfeier verlassen und bin nach Hause gegangen.