[swahili, "Geschichte, Legende"]

Tepen Kok

In fernen, fernen Zeiten war in einem Aul ein geiziger Bei. Der hatte drei erwachsene Söhne, aber sie waren unverheiratet. »Die Heirat der Söhne schädigt meine Wirtschaft«, überlegte der Bei. »Für jede Braut muss ich viel Brautgeld zahlen, das kann ich mir aber nicht leisten. So denkt jeder, der etwas auf seine Wirtschaft hält«, rechtfertigte sich der Bei vor den anderen. Eines Tages kamen die Brüder zusammen und sprachen über ihr Leben und über ihr bitteres Los. Der Ältere und der Mittlere sprachen zu dem Jüngsten: »Wir teilen das gleiche Schicksal. Die Söhne anderer Beis sind längst verheiratet, haben Familie, eine Wirtschaft, und wir sind immer noch Junggesellen. Mit Schweigen richten wir nichts gegen den Geiz des Vaters aus. Dich Jüngsten liebt der Vater am meisten, und deshalb wird er dich eher erhören, gehe also zu ihm und überbringe ihm unseren Wunsch.«

Der jüngere Bruder tat, wie ihm die älteren geheißen. Der Vater dachte ein Weilchen nach und antwortete: »Wenn der Herbst kommt und die kleinen Fohlen größer werden, nicht mehr an ihren Müttern saugen, erfülle ich euch eure Bitte.« Der Herbst kam. Die kleinen Fohlen wuchsen heran, saugten nicht mehr an ihren Müttern. Der jüngere Bruder trug dem Vater abermals die Bitte vor, der aber gab zur Antwort: »Wenn der Winter kommt und die Kälte von der Wärme abgelöst wird, verheirate ich euch.« Der Winter aber war sehr hart. Unaufhörlich bliesen kalte Winde, heulten Schneestürme. Weil es bitterkalt war und es kein Futter gab, starb das Vieh. Die Wärme hatte die Kälte noch nicht abgelöst, da war das Vieh des Beis verendet.

Nur ein einziges Fohlen retteten die Brüder vor dem Hungertod. Selbst aßen sie sich nicht satt, versteckten vor dem Vater Brotstücke und brachten sie ihrem Liebling. Der geizige Bei, der seinen ganzen Besitz verloren hatte, starb vor Hunger. Die Söhne wurden arm. Das Hab und Gut des Vaters reichte nicht mal für ein Jahr. Lange lebten die Brüder in Armut, zogen als Bettler durch die Aule. Viel Not und Sorgen mussten sie erleiden. Das Fohlen wuchs heran. Es war über und über weiß. Sein Fell glänzte wie Silber in der Sonne, die Mähne war weich und buschig. Eines Tages sagte der jüngste Bruder zu den beiden älteren: »Gebt mir das Fohlen. Ich will durch die Aule reiten, Brot und Geld sammeln und alles mit euch teilen.« Die Brüder ließen es geschehen. Der Jüngste ernährte sie Winter und Sommer.

Eines Tages rüstete man sich in einem Nachbaraul zu einem großen Pferderennen, bei dem die fünfzig besten Passgänger um die Wette laufen sollten. Nun geschah es, dass der jüngste Bruder auf seinem weißen Fohlen an diesem Aul vorbei ritt. In der Steppe sah er viele Leute, also stand ein Pferderennen bevor. Warum sollten wir bei dem Rennen nicht mitmachen? dachte er, trieb seinen Jagdhund an, denn er wollte die Flinkheit seines Fohlens erproben. Er rasselte mit dem Zaumzeug, und das Pferd kam in schnellen Trab. Der Hund blieb ihm auf den Fersen. Zuerst sah der Dshigit den Hund neben sich laufen, dann blieb er zurück. Über die buschige Mähne des Fohlens gebeugt, schaute sich der Dshigit von Zeit zu Zeit um, und das Herz schien ihm vor Freude aus der Brust zu hüpfen. Das Pferd eilte so leicht dahin, als würde es über der Steppe schweben. Der Jagdhund blieb weit zurück.

Zu Hause angekommen, sagte der jüngste Bruder: »Unser Fohlen ist schnell wie ein Pfeil. In der Steppe liefen wir mit dem Jagdhund um die Wette. Das Fohlen überholte ihn mit Leichtigkeit. Ich glaube, das Fohlen kann es mit jedem Passgänger und jedem Traber aufnehmen.« Sodann erwägte er, das Fohlen zum Pferderennen zu bringen. Die Brüder waren einverstanden. Das Fohlen ruhte sich die ganze Nacht über aus, und am nächsten Morgen begaben sich die Brüder alle zur Stelle, wo das Pferderennen stattfinden sollte. Die besten Pferde waren zwei Pferde des Khans Barak. Nicht ein Rennen fand ohne sie statt, nicht ein Pferd konnte ihren Ruhm übertreffen, der sich weithin verbreitet hatte. Auch die Brüder wussten davon, doch sie wollten ihr Glück versuchen. Wie betrübt aber waren die Brüder, als sie, an der Stelle des Pferderennens angekommen, feststellten, dass das Fohlen hinkte. Sie wussten nicht ein noch aus vor Verdruss, wollten aber ihren Entschluss nicht rückgängig machen.

Das Pferderennen begann. Jeder Teilnehmer ließ seinen Sohn reiten, die drei Junggesellen wählten einen armen Jungen, im Aul spöttisch Tasscha Bala genannt. Die Söhne der Beis ritten auf den besten Pferden zum Waldstück Kara-Koi. Hier sollte das Rennen beginnen. Auch Tasscha Bala ritt dorthin. Die Söhne der Beis spotteten über den Armen, stießen sein Pferd, kniffen ihn, rissen ihm die Mütze vom Kopf. Dem Jungen traten Tränen in die Augen, doch er ließ zeitweilig alles geduldig über sich ergehen. Am Waldstück Kara-Koi angekommen, stellten sich die Dshigiten in einer Reihe auf, Tasscha Bala als letzter. Das Rennen begann. Zuerst blieb Tasscha Bala zurück, doch bald jagte sein Fohlen schneller als der Wind. Tasscha Bala überholte den ersten Dshigiten, riss ihm die Mütze vom Kopf und steckte sie unter seinen Beschmet. So machte er es mit jedem, bis er alle überholt hatte. Er ließ auch die Pferde des Khans Barak hinter sich.

Das Pferderennen ging seinem Ende zu. Das Volk war verwundert, als es Tasscha Bala als ersten auf seinem weißen Fohlen heran fliegen sah. Wenn sich die Dshigiten dem Aul näherten, sollten sie den Namen ihrer Väter rufen. Der arme Junge wusste aber nicht, was er rufen sollte: die Namen der Besitzer des Fohlens oder den Namen seines Vaters? Schließlich rief er lachend und freudestrahlend: »Tepen Kok! Tepen Kok!« Aufgeregt verfolgte der Khan Barak das Rennen in der Erwartung, seine Pferde würden als erste das Ziel erreichen. Wie sehr musste er sich aber wundern, als das weiße Fohlen allen voran heranpreschte. »Habe ich mich nicht geirrt?« Mit diesen Worten wandte er sich ans Volk. »Läuft dieses armselige weiße Fohlen wirklich vorn?«

»Wirklich, wirklich! Der beste weiße Renner läuft als erster!« antwortete das Volk.

Da sagte Khan Barak entrüstet und erzürnt: »Dieser freche Bursche hat sich unterwegs eingeschmuggelt, wir haben sein Pferd nicht zum Rennen zugelassen! Führt es sofort weg!« Die Diener des Khans eilten, den Befehl auszuführen, und versuchten, das Fohlen einzufangen. Aber was denkt ihr! Es war schon zu spät. Niemand wagte es, den armen Jungen zu begrüßen, nur ein fremdes Mädchen fasste das weiße Rennpferd am Zaumzeug und half dem Jungen herunter.

Der zornige Khan Barak schrie: »Dieses Pferd zählt nicht, es hat sich unterwegs eingeschmuggelt!«

Da stieg der Junge auf einen weißen Hügel und sagte, an das Volk gewandt: »Ich habe von Anfang an am Wettrennen teilgenommen.« Er breitete sein Gewand auf dem Boden aus und warf die Mützen aller Dshigiten darauf. »Hier sind die Mützen aller Dshigiten! Erkennt ihr sie? Woher soll ich sie haben, wenn nicht vom Rennen? Dort, wo ein starkes Pferd vorbei ritt, bleibt auch die schwerste Last nicht liegen.« Mit Freudenrufen ehrte das Volk den Sieger. Der bloßgestellte Khan Barak drehte sich um und versetzte seinen ruhmreichen Pferden wutentbrannt Stöße in die Seiten und ging von dannen.

Die Brüder erhielten vierzig Passgänger als Geschenk. Zehn davon gaben sie dem armen Jungen, der ihr Fohlen geritten hatte und bei dem großen Steppenrennen Sieger wurde. Nach diesem Pferderennen lebten die Brüder in größerem Wohlstand und heirateten bald. Das Fohlen wurde im Volk berühmt, und von Generation zu Generation wird das Märchen von Tepen Kok erzählt.