[swahili, "Geschichte, Legende"]

Tahir und Suchra

Ob es nun so war oder nicht, jedenfalls erzählt man, dass einmal ein Schah lebte, der keine Kinder hatte. Als er eines Tages dasaß und seiner Trübsal nachhing, trat sein alter Wesir zu ihm und fragte: »O allmächtiger Gebieter! Was bekümmert Euch? Ihr habt so viele Kostbarkeiten und Reichtümer, weshalb solltet Ihr traurig sein?« Er erhielt zur Antwort: »Wenngleich ich auch Schah bin und Reichtümer in riesiger Menge habe, werde ich doch kinderlos sterben.« Da seufzte der Wesir und gestand, dass er ebenfalls keine Kinder habe. Ihren Kummer beklagend, beschlossen beide, sich auf eine weite Reise zu begeben. Lange zogen sie dahin, legten kleine und große Wege zurück, bis sie eines Tages an einem wunderbaren Garten anlangten. Sie gingen die Mauer entlang, konnten aber keinen Eingang finden. Im Garten blühten Rosen, sangen Nachtigallen, dufteten Gräser und Blumen. Unter einem schattigen Baum waren Teppiche ausgebreitet, und im grünen Gras lagen Kissen. In so einem Garten sieht der Mensch sein Leid und Ungemach nicht mehr und vergisst seinen Gram. Endlich entdeckten die Wanderer einen Eingang, betraten den Garten und ließen sich auf einem der Teppiche nieder. Plötzlich erschien vor ihnen ein graubärtiger Alter in einem weißen Tuch-Chalat. Er trat näher und fragte: »Was macht ihr denn hier, meine Söhne?« Wesir und Schah erhoben und verneigten sich vor dem Alten. Sie wechselten Blicke, sammelten ihre Gedanken und erzählten, dass sie keine Kinder hätten, sich darum von allen Wohltaten des Lebens losgesagt und auf Wanderschaft begeben hätten.

Der Greis hörte sie aufmerksam an, dann zog er unter seinem Chalat zwei rote Äpfel hervor. Einen reichte er dem Schah, den anderen dem Wesir. »Nehmt dies, meine Söhne! Möge jeder von euch seinen Apfel mit einer geliebten Frau gemeinsam verspeisen. Ziehet heim, vernachlässigt eure Pflichten nicht, lebt rechtschaffen und regiert weise: sorgt für euer Land und quält euer Volk nicht! Und noch eines sei Bedingung: Wer von euch einen Sohn haben wird, der soll ihn Tahir nennen, und wer eine Tochter bekommt, der nenne sie Suchra. Trennt sie nicht in ihrer Kindheit, und wenn sie heranwachsen, dann verheiratet sie miteinander! Vergesst das nicht!« Nach diesen Worten ging der Alte davon. Der Schah und der Wesir sahen einander verwundert an, überlegten und entschieden: »Möge es so werden, wie er gesagt hat!« Wieder daheim, verfuhren sie, wie der Greis es ihnen aufgetragen hatte. Tage und Monate vergingen, Schah und Wesir waren vor Freude außer sich, fanden keinen Schlaf mehr und warteten voller Ungeduld auf ihren Erstling. Eines Tages ritten sie zusammen auf die Jagd aus. Drei Tage später brachte die Frau des Wesirs einen Sohn und die Frau des Schahs eine Tochter zur Welt. Ein reitender Bote überbrachte dem Schah die freudige Kunde: »O Beherrscher der Welt, gebt uns ein Geschenk! Eure Frau hat eine Tochter geboren!« verkündete der Bote. Dann wandte er sich an den Wesir: »Auch Ihr sollt mir ein Geschenk geben, Eure Frau brachte einen Sohn zur Welt.« Der Schah, der sich die ganze Zeit einen Sohn erträumt hatte, entbrannte vor Zorn. Ergrimmt warf er dem Boten ein weißes Tuch zu und schrie: »Töte das Mädchen, tränke mein Tuch mit ihrem Blut und bringe es mir!« Der Wesir, der vor Freude weder aus noch ein wusste, schwang sich in den Sattel und eilte heim. Vor dem Haus strauchelte sein Pferd, der Wesir stürzte, schlug mit dem Kopf auf einen Stein und war auf der Stelle tot. Für seine arme Frau begannen bittere Tage. Weinend beklagte sie ihr Los. Allein musste sie ihren verwaisten Sohn erziehen, der seinen Vater nie gesehen hatte.

Tage verstrichen, Monate zogen dahin, Jahre lösten einander ab. Der Knabe wuchs heran und begann, auf der Straße zu spielen. Eines Tages sah ihn zufällig der Schah. »Wem gehört der Knabe?« fragte er seinen neuen Wesir. Der verneigte sich und antwortete ehrerbietig: »O mein Gebieter, dieser Knabe ist Tahir, der Sohn Eures verunglückten Wesirs. Wäre Eure Tochter am Leben, zählte sie heute ebensoviel Jahre.« Als der Schah diese Worte vernahm, schlug er sich vor Kummer und Reue mit der Faust an die Stirn. »Weh mir Unglücklichem! Warum habe ich befohlen, sie zu töten!« rief er und brach in Tränen aus. Der Wesir sagte kein Wort, ging am selben Tage noch zu den Frauengemächern, rief eine Sklavin heraus und fragte: »Was ist mit der Tochter des Schahs geschehen?«

»Sagt nur dem Schah nichts davon!« erwiderte die Sklavin. »Das Mädchen lebt, ist nun herangewachsen und bildschön.« Da eilte der Wesir zum Schah. »O mein Gebieter, verschont mein nichtswürdiges Leben! Ich bringe Euch eine frohe Nachricht!«

»Sprich!«

»Seid nicht mehr traurig, mein Gebieter! Eure Tochter ist am Leben.« Voller Freude befahl der Schah: »Führt meine Tochter zu mir!« Man brachte das Mädchen und zeigte es dem Schah, der seine Tochter liebkoste. Dann ließ er ein Festmahl richten. Vierzig Tage und vierzig Nächte wurde geschmaust und gezecht.

Mittlerweile wuchs Tahir ahnungslos heran. Eines Tages spielte er auf dem Hofe, warf kleine Stäbe in die Luft und traf den Spinnrocken einer alten Frau, die gerade in der Sonne saß. Die Alte schalt ihn: »dass dich... Waisenknabe Tahir! Statt mit mir zu spielen, solltest du die Zeit lieber mit deiner Verlobten Suchra verbringen!« Da lief Tahir zu der alten Frau und fasste sie an der Hand. »Was habt Ihr da von Suchra gesagt, Großmütterchen? Warum sagtet Ihr so etwas?«

»Lass meine Hand los, Waisenknabe! Lass mich los!« Tahir gab nicht nach: »Sag es mir doch, liebes Großmütterchen!«

»Frage deine Mutter danach!« Tahir gehorchte. »Wer ist meine Verlobte? Sag mir die Wahrheit!«

»Zwar solltest du es nicht wissen, aber ich will es dir doch sagen.« Die Mutter erzählte ihm, dass Tahirs Vater und der Schah lange Zeit kinderlos gewesen seien und einander versprochen hatten, sich zu verschwägern, sobald bei dem einen ein Sohn und bei dem anderen eine Tochter zur Welt käme. Sie erzählte auch, wie Tahirs Vater am Geburtstag seines Sohnes vom Pferd stürzte und den Tod fand. »Jetzt werden sie dir Suchra nicht geben«, schloss die Mutter. »Sie ist die Tochter des Schahs, und du bist eine arme Waise!«

»Schon gut, Mütterchen, gerade das wollte ich wissen.« Von jenem Tage an spielte Tahir mit Suchra. Die Tage vergingen, beide wurden größer, und derselbe Lehrer unterrichtete sie. Aber statt zu lernen, plauderte Tahir die ganze Zeit mit Suchra. Da beklagte sich der Lehrer beim Schah: »O Beherrscher der Welt, was soll ich tun? Tahir lässt Eure Tochter Suchra nicht lernen!« Ärgerlich befahl der Schah: »Stellt eine Wand zwischen die beiden!« Der Lehrer befolgte den Befehl, aber am selben Tage bohrte Tahir ein Loch in die Wand und plauderte weiter mit Suchra. Keinen Tag lang konnten die beiden ohne einander leben.

Als sie herangewachsen waren, entflammte in ihren Herzen das Feuer der Liebe. Der Schah erfuhr davon und erzürnte. Er ließ Tischler kommen und befahl ihnen: »Fertigt mir eine Truhe an! In diese Truhe werfen wir Tahir, möge der Fluss ihn davontragen, wohin er will!« Von diesem Geheiß des Schahs erfuhr Suchra. Sie nahm eine Schale voll Gold, brachte sie zu den Meistern und flehte sie unter Tränen an: »Nehmt dieses Gold! Wenn es zu wenig ist, verlangt noch mehr, aber baut die Truhe recht fest, damit kein Wasser eindringt, und recht groß, damit man in ihr nicht erstickt! Möge die arme Waise weiter leben!« Die Meister hatten Mitleid und trösteten Suchra: »Wenn die Truhe nicht noch besser wird, als du sagtest, geben wir dir alles Gold zurück!« Sie gingen an die Arbeit, und bald wurde dem Schah mitgeteilt, dass die Truhe fertig sei. Suchra verhüllte ihr Antlitz und ging in die Werkstatt, um sie zu betrachten. In der Tat übertraf die Truhe sogar ihre Wünsche.

Am nächsten Tage sandte der Schah einen Herold aus, damit er das Volk aus Stadt und Land zusammenrufe. Als sich die Menschen auf dem Platz versammelt hatten, trat der Schah aus seinem Palast und verkündete: »Wir haben Tahir zum Tode verurteilt. Heute wird er in die Truhe gesteckt und ins Wasser geworfen. Möge der Fluss ihn davontragen!« Die Menschen bedauerten Tahir, aber niemand wagte, für ihn einzutreten, denn alle fürchteten den grausamen Schah. Männer und Frauen, Greise und Kinder liefen am Ufer zusammen.

Vom Leid gebeugt, kam Tahirs Mutter, fiel in den Ufersand und vergoss heiße Tränen. Das Volk begann zu murren, und man hörte Stimmen: »Mögen die Tränen der Mutter auf den Kopf des Schahs fallen!«

»Noch nie hat man einen Menschen hingerichtet, weil er ein Mädchen liebte!«

»Diese Grausamkeit wird dem Schah nicht verziehen werden!« - Doch da verkündeten die Herolde, dass die Henker Tahir herbeiführten. Das Volk verstummte und machte dem Jüngling Platz. Nur seine arme Mutter hob den Kopf und rief: »Lasst mich ihn wenigstens zum letzten Mal ansehen!« Man führte den gefesselten Tahir zu ihr. Unter Tränen umarmte sie ihren Sohn, presste ihren Kopf an seine Knie, schrie auf und starb.

Jammern und Weinen ertönten aus der Menge. Schnell packten die Henker Tahir und warfen ihn in die Truhe. Er konnte seiner geliebten Suchra noch zurufen: »Wenn ich am Leben bleibe, behalte ich dich lieb! Auch wenn ich sterbe, behalte ich dich lieb!« Suchra hatte nur noch Zeit zu antworten: »Nie werde ich dich vergessen!« Da verschlossen die Henker die Truhe und warfen sie in den Fluss.

Lange trieb Tahir in der Truhe auf dem Wasser dahin. Den Tagen folgten Nächte und den Nächten Tage. Endlich langte die Truhe bei der Stadt Rum an. Der Schah von Rum hatte zwei Töchter, die an diesem Tage mit ihren Dienerinnen am Fluss spazieren gingen. Plötzlich sahen sie die Truhe herbei schwimmen. Immer näher kam sie. Die ältere Tochter des Schahs stieg ins Wasser und versuchte die Truhe mit ihrem Zopf zu angeln. Es misslang ihr aber. Nun stieg die jüngere Tochter in den Fluss, mit ihren langen Zöpfen erwischte sie die Truhe und zog sie ans Ufer. Die Schwestern begannen zu streiten, wem der Fund gehören sollte. Nach einer Weile entschieden sie, dass die ältere Schwester sich die Truhe und die jüngere sich das nehmen sollte, was sich in der Truhe befände. Sie öffneten sie und sahen einen Jüngling von solcher Schönheit, dass vor seinem Glanz sogar die Sonne trüb erschien. Seine schwarzen Locken hingen bis auf die Schultern herab, die Brauen stießen zusammen und die Augen brannten wie Feuer. Ein so schöner Jüngling war jeder Prinzessin würdig. Bei seinem Anblick begannen die Schwestern wieder zu streiten: »Ich nehme ihn!«

»Nein, ich!« Die jüngere Schwester sagte: »Nein! Da er in der Truhe war, heißt es, dass er mir gehört, und ich gebe ihn nicht her!« Mittlerweile eilten die Diener des Schahs zu ihrem Gebieter und berichteten: »O mächtiger Herr! Eure Töchter haben im Fluss eine Truhe aufgefischt und in dieser einen Jüngling gefunden, wie es auf Erden keinen schöneren gibt. Eure jüngere Tochter will ihn zum Manne nehmen. Einen besseren Schwiegersohn könntet Ihr nicht finden!« Der Schah beschenkte seine treuen Diener für die gute Nachricht und eilte mit seinen Wesiren zum Fluss. Er sah, dass der Jüngling noch schöner war, als man ihm beschrieben hatte. So nahm er Tahir wie einen Sohn auf und vermählte ihn bald mit seiner jüngeren Tochter. Vierzig Tage und vierzig Nächte dauerte die Hochzeitsfeier.

Die Tochter des Schahs war wunderschön, noch schöner als Suchra. Tahir aber gedachte des Versprechens, das er seiner fernen Verlobten gegeben hatte. Darum beachtete er die Schönheit der Prinzessin nicht und sprach kein Wort mit ihr. Das arme Mädchen weinte nächtelang und dachte voller Bitternis: »Warum liebt er mich nicht! Warum will er nicht einmal ein Wort mit mir sprechen?« Sie versuchte Tahir auszufragen, doch er gab keine Antwort.

So vergingen vierzig Tage. Am einundvierzigsten sagte Tahir zur Prinzessin: »Meldet Eurem Vater, dass ich zum Flussufer gehen will.« Hocherfreut eilte die Prinzessin zum Schah. »O gütigster Vater! Tahir hat gesprochen! Er möchte zum Ufer gehen und dort sitzen!« berichtete sie. Über diese gute Nachricht freute sich der Schah und beschloss, am Ufer ein Fest zu veranstalten. Viele kamen, um sich zu belustigen. Am hohen Ufer wurden für Tahir weiche Teppiche ausgebreitet und seltene Leckerbissen hingestellt. Bald kam Tahir. Sein Gesicht war traurig, kein Lächeln spielte um seine Lippen. »Wer als erster meinen Schwiegersohn lachen sieht, den überschütte ich von Kopf bis Fuß mit Gold!« verkündete der Schah und kehrte mit seinen Wesiren in den Palast zurück. Tahir aber saß schweigend da und blickte traurig auf den Fluss.

Möge er vorläufig dort sitzen, hört, wie es Suchra erging. Von Tahir getrennt, verharrte sie Tag und Nacht in Wehmut. Dann aber vermählte ihr grausamer Vater sie mit Kara-Batyr, einem Prinzen, und ihr Leben bestand nur noch aus düsterem Leid und auswegloser Traurigkeit. Hoffnungslos folgte Tag auf Tag. Doch einmal hatte Suchra einen Traum. Sie sah sich mit Tahir in einem herrlichen Garten wandeln. Laut weinend erwachte sie. »Vielleicht ist mein Liebster am Leben?« dachte sie wehen Herzens. »Brächte mir doch jemand ein Lebenszeichen von ihm!« Am nächsten Tage nahm Suchra eine Schale voll Gold und begab sich in die Karawanserei. Sie gab das Gold einem Karawanenführer und bestürmte ihn: »Dir zieht durch die ganze Welt und begegnet vielen Menschen! Sucht mir Tahir und bringt mir ein Lebenszeichen von ihm! Oder erfahrt wenigstens, ob er noch am Leben ist!« Der Karawanenführer willigte ein, bestieg sein Kamel und machte sich auf den Weg.

Lange ritt er dahin, suchte in allen Städten und Dörfern nach Tahir, konnte ihn aber nirgends finden. Eines Tages gelangte er an einen Fluss, sah dort am hohen Ufer einen schönen Jüngling sitzen, und ringsum belustigte sich das Volk. »Ich will doch einmal singen - vielleicht ist Tahir hier?« dachte sich der Karawanenführer und begann: »Eine Karawane führ' ich an,
Durch ferne Lande zieh' ich mit ihr,
Überall sucht' ich nur einen Mann,
Dessen Name ist Tahir.«
Als Tahir seinen Namen hörte, lächelte er und sang als Antwort: »O Freund, verlass mich nicht, bleib hier!
Und Lass dein Lied nochmals erklingen.
Der, den du suchst, er steht vor dir,
Ich bin es selbst - mein Name ist Tahir!«
Um zu erfahren, ob Tahir wirklich der sei, den er suche, sang der Karawanenführer von neuem: »Der Namen gibt es viele gar,
Doch wenn er höret von Suchra,
Verliert die Ruhe wohl Tahir,
Sehnt er sich doch so sehr nach ihr!«
Kaum dass der Karawanenführer Suchras Namen ausgesprochen hatte, sprang Tahir auf, stürzte auf ihn zu, umschlang den Hals des Kamels und begann mit Tränen in den Augen zu flehen: »Bring mich zu Suchra! Lass mich sie wenigstens einmal anschauen!«

»Suchra hat man mit Kara-Batyr vermählt«, antwortete der Karawanenführer. »Welchen Sinn hat es nun, sie anzublicken? Ja, auch Ihr habt hier so lange gelebt und seid wahrscheinlich schon verheiratet. Warum wollt Ihr dorthin? Bleibt lieber hier! Ich sollte nur erfahren, ob Ihr am Leben seid oder nicht.«

»Man hat mich hier mit der Tochter des Schahs verheiratet!« gestand Tahir. »Seit der Hochzeit sind schon vierzig Tage vergangen, aber ich habe mit meiner Frau noch kein Wort gesprochen und sie nicht ein einziges Mal auch nur angeblickt. Bring mich zu Suchra!«

Der Karawanenführer gab nach. »Gut. Ich bin einverstanden. Aber erst solltet Ihr Euch von Eurer Frau verabschieden. Sie hat Euch ja aus Liebe geheiratet und Ihr dürft sie nicht kränken!« Tahir ging in den Palast, trat mit einem Fuß ins Gemach, ließ den anderen auf den Schwelle und sagte: »O Tochter des Schahs! Für alles bin ich Euch dankbar. Aber heute brachte man mir Nachricht von Suchra, und jetzt ziehe ich davon.« Als Antwort fragte ihn die Prinzessin: »Hat der Fluss dich etwa nicht zu mir gebracht? Ist denn die ferne Suchra schöner als ich?«

»Ja, der Fluss brachte mich zu Euch. Ihr seid wunderschön, aber die ferne Suchra ist mir ans Herz gewachsen«, antwortete Tahir, verneigte sich und ging. Zur selben Stunde bestieg er zusammen mit dem Karawanenführer das Kamel und machte sich auf den Weg.

Lange ritten sie dahin und legten weite Wege zurück, bis sie an die Kreuzung dreier Straßen kamen. Ein großer Stein mit der Aufschrift:. »Der Weg nach rechts ist ohne Rückkehr, der Weg nach links ohne Ende und der Weg geradeaus gefährlich« versperrte ihnen den Weg. Der Karawanenführer überlegte, welche Richtung sie wohl einschlagen sollten. »Reiten wir den dritten Weg!« schlug Tahir vor. »Zwar ist es gefährlich, aber der Weg führt geradeaus, und wir gelangen schneller zu Suchra.« Also ritten sie geradeaus. Bald zeigte sich eine Stadt. Ihre Einwohner suchten gerade zwei Räuber, die unlängst aus dem Gefängnis entwichen waren. Als sie Tahirs und des Karawanenführers ansichtig wurden, hielten sie die beiden für die Räuber, nahmen sie fest und warfen sie in den Kerker.

Tag und Nacht schmachtete Tahir in dem dunklen Verlies. Schon ganz in der Nähe war seine geliebte Suchra, wie aber sollte er durch die dicken Mauern und die eisernen Türen hindurch kommen? Da entschied Tahir: Ich werde singen, damit die Menschen mich hören! Vielleicht erkennt und befreit mich jemand. Und er sang: »Weit zog ich aus, um zur Liebsten zu eilen,
Es zeigten Sonne und Mond mir den Weg.
Weshalb muss ich schmachten so lange schon hier,
Wenn Suchra sich sehnet voll Qual nach mir?«
So sang er Tag für Tag, bis sein Lied von einem Kaufmann gehört wurde, der noch als kleiner Junge zusammen mit Tahir zu demselben Lehrer gegangen war und mit ihm über einem Buch gesessen hatte. »Aber das ist doch Tahir!« rief der Kaufmann erstaunt. »Wer anderer könnte so viele Jahre an Suchra denken und sie lieben!« Der Kaufmann ging zu den Gefängniswächtern, gab jedem eine Handvoll Goldstücke und überredete sie: »Lasst Tahir frei! Er ist vollkommen schuldlos. Er lebt ja nur für seine Liebe.« Die Gefängniswärter ließen Tahir und den Karawanenführer aus dem Kerker und gaben ihnen das Kamel zurück. Tahir nahm dankend Abschied von dem Kaufmann und zog mit dem Karawanenführer weiter. Lange ritten sie dahin, legten einen weiten Weg zurück, bis sie eines Morgens ihre Heimatstadt erreichten. An der Karawanenserei nahm Tahir von seinem Gefährten Abschied, dankte ihm und schritt zum Palast. Es gelang ihm, in den Palastgarten einzudringen, in dem er Suchra fand. Sie lag auf einem herrlichen Teppich in festem Schlaf.

Da sang er: »Höre meinen Ruf: Wach auf!
Endlich, endlich bin ich hier.
Schlafe nicht mehr, wache auf!
Von dir stehet schon Tahir.«
Beim Klang der geliebten Stimme schlug Suchras Herz vor lauter Freude schneller, sie erwachte, erhob sich und fiel Tahir wortlos unter Freudentränen um den Hals. Arm in Arm gingen sie weiter in den Garten hinein. Sie konnten sich nicht genug erzählen und einander nicht genug ansehen. Die armen Liebenden bemerkten nicht, dass Kara-Batyrs Schwester sie bereits erspäht hatte. Sie lief zu ihrem Bruder und rief: »Tahir ist gekommen!« Voller Wut eilte Kara-Batyr zum Schah und berichtete ihm davon. Der Schah schickte seine Wächter in den Garten. Sie packten Tahir und warfen ihn in eine tiefe Grube, in der ihm der Schlamm bis zu den Knien reichte und zudem von oben noch Wasser herabtropfte.

Am nächsten Tage ließ der Schah seine Wesire und Ratgeber kommen. Sie überlegten, was mit Tahir geschehen solle. Und sie entschieden, ihn in zwei Hälften zu zerhauen und diese an das Stadttor zu nageln. Herolde wurden ausgesandt, um das Volk zur Hinrichtung herbeizurufen. Auf dem Platz vor der Stadt scharten sich die Menschen. Auch Suchra kam. Alle hatten Mitleid mit dem Jüngling und murrten über die Grausamkeit des Schahs. »Warum ist Tahir nur zurückgekommen?« fragte der eine. »Die Liebe hat Tahir zurückgerufen«, antworteten andere. »Darf man den armen Jüngling deshalb etwa hinrichten? Fluch dem blutigen Schah!« Die Wächter führten Tahir auf den Platz, und der Henker schliff seinen Säbel. Die Menschen verfluchten den Schah, konnten aber nichts ausrichten.

Wie sehr Suchra ihren erbarmungslosen Vater auch angefleht hatte, sein steinernes Herz war durch nichts zu erweichen gewesen. Als sie Tahir in den Händen des Henkers sah, wurde ihr schwarz vor Augen, und sie sank ohnmächtig zu Boden. Der Henker schwang seinen Säbel und zerhieb Tahir von Kopf bis Fuß. Die Menschen schrieen auf, man hörte vielstimmiges Jammern und Stöhnen. Aus der Menge trat eine alte Frau hervor und sagte grimmig: »Blutig ist dein Thron, o Schah,
Blutig wie des Henkers Schwert!
Wenn du auch ermordet hast Tahir,
Lebt seine Liebe fort trotz dir!
Am Himmel keine Sonn' mehr scheint,
Keine Recht auf Erden jemals wird,
Solang der böse Schah regiert!«
Mittlerweile nagelten die Henker Tahirs Körperhälften an das Stadttor. Da erhob Suchra ihren Kopf, beherrschte ihren Jammer und rief aus: »Kamele schreiten vor dem Tor,
Es dringt ihr Schrei von Ohr zu Ohr.
Zur Schau, wie ein Schlächter, hängte hier
Mein Vater den Körper des edlen Tahir!«
Der Schah wagte nicht ihr zu antworten.

Nach Tahirs Tod legte Suchra schwarze Gewänder an, verhüllte ihr Antlitz mit einem schwarzen Schleier und beweinte den Liebsten vierzig Tage und vierzig Nächte. Am einundvierzigsten Tag bat Suchra den Schah, sie zum Grabe Tahirs gehen zu lassen. Der Schah erlaubte es, gab ihr aber Sklavinnen als Dienerinnen mit. Suchra band eine Handvoll Perlen in ein Tüchlein, nahm einen scharfen Dolch und trat ihren Weg an. Kaum dass sie den Palast verlassen hatten, ließ sie die Perlen einzeln auf den Weg fallen. Die Dienerinnen sahen sie und begannen sie aufzulesen. Weiter und weiter entfernte sich Suchra von ihnen. Nun waren die Dienerinnen schon nicht mehr zu sehen, und Tahirs Grab war ganz nahe. Ungeduldig warf Suchra die letzten Perlen auf den Weg, eilte zum Grab und stieß sich den Dolch ins Herz. Die Dienerinnen hatten die Perlen aufgelesen und liefen auf den Friedhof. Dort fanden sie die tote Suchra. Da weinten sie bitterlich und begruben Suchra neben Tahir. Als Kara-Batyr von dem Geschehenen erfuhr, brüllte er: »Nein! Es scheint, dass Suchra sogar im Tode Tahir noch lieben wird! Das lasse ich nicht zu!« Voller Wut tötete er sich. »Mein Bruder wollte die beiden nicht allein lassen«, sagte Kara-Batyrs Schwester. »Begrabt ihn zwischen Tahir und Suchra!«

»Haben Sie denn im Leben nicht genug gelitten, wollt ihr ihnen nicht einmal nach dem Tode Ruhe gönnen? Lasst sie in Frieden! Habt Mitleid!« verlangten die Menschen. Doch man hörte nicht auf sie. Die grausamen Tyrannen begruben Kara-Batyr zwischen Tahir und Suchra. Dem Grabe Tahirs entwuchs eine rote Rose, dem Suchras eine weiße, zwischen ihnen aber spross ein schwarzer Dornbusch. Doch die Rosen rankten über ihn hinweg, und ihre Zweige verflochten sich. Seither blühen sie ewig, so ewig wie die Liebe von Tahir und Suchra.