[swahili, "Geschichte, Legende"]

Sijad-Batyr

Ob es nun so war oder nicht, jedenfalls lebte in fernen Zeiten ein Schah mit Namen Sultan. Er hatte eine Tochter, schön von Gestalt und Angesicht, die bescheiden, klug und gebildet war. Wer sie auch nur einmal sah, dachte nur noch daran, wie er sie nochmals zu Gesicht bekäme. Sie hieß Kamarchon. Niemand anderer war im Bogenschießen, Speerwerfen und der Handhabung des Schwertes so gewandt wie die Prinzessin. Schach Sultan liebte seine Tochter mehr als einen Sohn. Wie viele Freier um Kamarchon warben, lässt sich nicht aufzählen. Aus allen Ländern kamen Söhne von Schahs und Beks und hielten um ihre Hand an, aber keiner wollte ihr gefallen. Wer immer um sie freite, erhielt von Kamarchon dieselbe Antwort: »Ich habe keine Lust, mich zu vermählen!«

In des Sultans Palast gab es einen alten Meister, der in allen Handwerken bewandert war. Was er anfertigte, gefiel dem Schah außerordentlich, und er ernannte den Alten zum Obermeister. Dieser Alte hatte einen Sohn von zwanzig Jahren, gut gewachsen, schön und dazu noch klug und tapfer. Er hieß Sijad-Batyr und war unter den jungen Männern allgemein geachtet. Der Meister wollte aus seinem Sohn einen guten Handwerker machen und ermahnte ihn: »Lerne ein Handwerk, mein Sohn! Wenn du erwachsen bist, wird es dir von Nutzen sein.« Es dauerte nicht lange, da hatte der Sohn bei seinem Vater jedes Handwerk erlernt. Sooft dieser seinen Sohn ansah, freute er sich, ohne zu ahnen, dass Sijad-Batyr liebeskrank war, in den Nächten nicht schlief, Tränen vergoss und sich nach der schönen Prinzessin sehnte.

Eines Tages befahl Kamarchon dem Meister, ihr einen Bogen anzufertigen. Nach einigen Tagen hatte der Alte den Auftrag erfüllt. Ohne sein Wissen fertigte auch Sijad-Batyr einen Bogen an und zeigte ihn seinem Vater. Staunend betrachtete der Meister den Bogen: Er war viel besser als der, den er gefertigt hatte. Nahm man ihn in die Hand, musste man sich über seine Schönheit freuen. Mit verschlungenen Schriftzeichen war in den Bogen ein schöner Zweizeiler über die Liebe eingeschnitzt. Der alte Meister, freute sich sehr, küsste seinen Sohn auf die Stirn und sagte: »Du bist ein tüchtiger Bursche, mein Sohn, ich freue mich, dass du mit meinem Werkzeug so gut umgehen kannst, jetzt wird dir im Leben kein Elend drohen.« Der Meister behielt seinen Bogen und sandte der Prinzessin den von Sijad-Batyr. Der Prinzessin gefiel der Bogen außerordentlich. Gerade so einen hatte sie sich gewünscht. Darum sandte sie dem Meister kostbare Geschenke.

Der Meister war schon sehr alt. Eines Tages wurde er so schwer krank, dass keine Arznei mehr half, und er verstarb. Schah Sultan ließ Sijad-Batyr rufen und ernannte ihn an seines Vaters Statt zum Obermeister. Eines Tages besuchte der Schah seine Tochter und sah den Bogen. Er nahm den Bogen in die Hand und bewunderte ihn. Plötzlich entdeckte er die eingeschnitzten Verse, las sie, rief Sijad-Batyr und fragte: »Wer hat diese Verse in den Bogen eingeschnitzt?«

»Ich war es«, antwortete Sijad-Batyr. »Ist es dir nicht genug, du Undankbarer, dass ich dich zum Obermeister ernannt habe?« Ergrimmt rief der Schah nach dem Henker und befahl ihm, Sijad-Batyr hinzurichten. Doch da warf sich einer der Wesire dem Schah zu Füßen und bat um Gnade für den jungen Meister. Schah Sultan erhörte die Bitte seines Wesirs, befahl aber, Sijad-Batyr aus der Stadt zu verbannen.

Sijad-Batyr machte sich auf den Weg. Viele Tage ritt er durch Steppen und über Hügel, bis er in ein Gebirge kam. Ringsum grünten Almen, reine Luft erfreute das Herz und lockte den Wanderer zur Rast. Als Sijad-Batyr einen alten Hirten entdeckte, der Pferde und Schafe hütete, ritt er auf ihn zu und begrüßte ihn. Der alte Mann sah, dass der Jüngling ermüdet war, und füllte ihm aus einem Schlauch eine Schale voll Kumys. »Woher kommst du, mein Sohn?« wollte der Hirt wissen. Sijad-Batyr erzählte ihm seine ganze Geschichte. Von Mitleid erfasst, fragte der Alte: »Wo willst du jetzt hin, mein Sohn?«

»Wo soll ich schon hinwollen, Vater? Wohin kann ein heimatloser Wanderer reiten, der sein vertrautes Land verloren hat? Ich reite aufs Geratewohl dahin.«

»Und ich hüte hier das Vieh der Einheimischen«, berichtete der Alte. »Das habe ich von meinen Vätern und Vorvätern gelernt. Wenn dir so ein Leben gefällt, dann bleibe bei mir als mein Sohn!« Die Worte des Hirten waren Sijad-Batyr aus dem Herzen gesprochen. »Wenn Ihr mich zu Euch nehmt, Vater, und mich Euren Sohn nennen wollt, bin ich von ganzem Herzen einverstanden.« So blieb Sijad-Batyr bei dem Hirten und hütete Schafe und Pferde. Er lernte auch gut mit der Schleuder umgehen. Wenn wilde Tiere seine Herde überfielen, schleuderte Sijad-Batyr Steine so geschickt nach ihnen, dass viele tot umfielen. Darüber war der alte Hirt froh. Früher hatten die wilden Tiere alljährlich viel Unheil angerichtet, seitdem aber Sijad-Batyr da war, konnten die Herden ungefährdet weiden. Sijad-Batyrs Ruhm drang weit über die Berge. Die Menschen nannten ihn den Recken mit der Steinschleuder. So vergingen zwei Jahre.

Hört, wie es der Prinzessin Kamarchon erging, wahrend Sijad-Batyr mit seinem Vater, dem Hirten, die Herde hütete. Sie hatte niemandem verraten, dass sie Sijad-Batyr liebte. Im geheimen aber hatte sie seit langem entschieden: Wenn mein Vater mich verheiraten will, dann nehme ich nur Sijad-Batyr! Seitdem der Schah den jungen Mann aus der Stadt verbannt hatte, war für Kamarchon die Welt wie mit einem düsteren Schleier verhüllt. Von früh bis spät dachte sie nur an Sijad-Batyr und weinte in den Nächten bis zum Morgengrauen. Lange behielt die Prinzessin ihren Kummer für sich. Kamarchon hatte vierzig Dienerinnen, deren älteste Humajun hieß. Ihr vertraute sie all ihren Kummer an. Um sich zu zerstreuen, ritt Kamarchon häufig zur Jagd. An einem Frühlingstag bat sie ihren Vater wieder um Erlaubnis, auf die Jagd reiten zu dürfen. Sie und ihre Dienerinnen verkleideten sich als Reiter, und so brachen sie auf. Im Wald erlegten sie ein paar Fasane und andere Vögel, fanden aber kein anderes Wild. Kamarchon ritt weiter. In der Ferne gewahrte sie einen himmelhohen Berg und hielt auf ihn zu. Da sprang aus einer Schlucht ein Wolf hervor. Kamarchon schoss einen Pfeil auf ihn ab, tötete den Wolf, übergab ihn einer Dienerin und ritt weiter. Nun sah sie einen Hirsch äsen, in dessen Ohren goldene Ringlein hingen, auf dessen Geweih ein goldenes Siegel glänzte und dessen Hals kostbares Geschmeide schmückte. Der Hirsch gefiel der Prinzessin sehr, darum wollte sie ihn unbedingt haben. »Fangt mir diesen Hirsch!« befahl sie den Mädchen. »Schießt aber keinen Pfeil auf ihn, sondern fangt ihn mit Wurfschlingen! Gebt gut Acht, dass keine von euch den Hirsch ankommen lässt, sonst verjage ich sie von hier und beschäme sie vor aller Welt!« Die Mädchen nahmen ihre Wurfschlingen und begannen den Hirsch einzukreisen. Humajun warf als erste, verfehlte ihn aber. Der Hirsch raste neben der Prinzessin vorbei.

Dreimal hintereinander warf auch Kamarchon ihre Schlinge, konnte den Hirsch aber nicht einfangen. Sie schämte sich vor den Mädchen und sprengte verdrossen davon, um ihn zu verfolgen. Wie ein Vogel flog sie dahin. Doch nicht einmal das windesschnelle Pferd der Prinzessin vermochte den Hirsch einzuholen. Schließlich waren Hirsch und Pferd ermüdet. Schnaubend flüchtete der Hirsch in eine Höhle. Da freute sich die Prinzessin, denn sie glaubte, ihn nun einfangen zu können. Sie betrat die Höhle. Diese hatte jedoch einen zweiten Ausgang, durch den der Hirsch entkommen war. Wieder schwang sich Kamarchon auf ihr Pferd und jagte weiter. Schließlich gelangte sie zu jenem Berge, wo Sijad-Batyr als Hirt lebte. Als Sijad-Batyr den Reiter und den Hirsch sah, legte er einen Stein in seine Schleuder und zielte. Der Stein schlug dem Hirsch das Geweih ab, und der Hirsch stürzte zu Boden. Erzürnt zog Kamarchon ihr Schwert und schalt: »Ach du dreister Hirt! Hätte ich den Hirsch töten wollen, hätte ich es längst getan! Ich wollte ihn aber lebend einfangen. Warum schießt du auf fremdes Wild?« Unvermutet sprang hinter einem Felsen ein Tiger hervor. Das Pferd der Prinzessin scheute und brach aus. Kamarchon stürzte ab und verletzte sich mit ihrem Schwert an der Hand. Sijad-Batyr hatte beim Anblick des Tigers im Nu einen Stein in seine Schleuder gelegt und zielte. Als der Tiger sich auf die Prinzessin stürzen wollte, traf ihn der Stein am Kopf, und der Tiger war tot. Sijad-Batyr sah den jungen Reiter, der eine Maske vor dem Gesicht trug, verwundet daliegen. Behände streifte er sein Hemd ab, riss einen Ärmel los und verband die Wunde. »Ich muss den armen Jüngling retten!« dachte er. »Es wäre doch ein Jammer, wenn er sinnlos zugrunde ginge!« Sijad-Batyr brachte Wasser und besprengte dem Verwundeten das Gesicht, doch es half nichts. Ich muss ihm die Maske abnehmen, damit er ein wenig Wasser trinken kann, entschied er und nahm dem jungen Reiter die Maske ab.

Da kamen lange schwarze Zöpfe zum Vorschein, und Sijad-Batyr sah, dass Kamarchon vor ihm lag. »Meine Heißgeliebte, hebe deinen Kopf und lass mich nicht leiden! Du wolltest mich töten- schlag zu, aber liege nicht ohnmächtig da, hebe deinen Kopf!« flehte Sijad-Batyr. Nach einem Weilchen kam das Mädchen zu sich, schlug die Augen auf und sah, dass dem Hirten Tränen über die Wangen liefen. Da erkannte es seinen geliebten Sijad-Batyr und fiel vor Freude abermals in Ohnmacht. Nach und nach kamen die Dienerinnen herbei geritten. Sie sahen einen Tiger tot und die Prinzessin bewusstlos daliegen, während ein Hirt sich über sie beugte und ihr das Gesicht mit Wasser benetzte. Schnell sprangen die Mädchen von den Pferden. Humajun lief herbei, legte den Kopf der Prinzessin auf ihren Schoß, weinte und versuchte sie zur Besinnung zu bringen. Dann löste sie den Verband vom Arm der Prinzessin und bedeckte die Wunde mit einem Heilmittel. Kamarchon kam zu sich. Die Mädchen wollten schnellstens in den Palast zurückkehren, Kamarchon war aber nicht einverstanden: »Solange meine Wunde nicht verheilt ist, gehe ich nicht von hier fort!« An diesem Ort gab es eine Quelle und neben ihr zwei schattige Bäume. Die Dienerinnen betteten die Prinzessin unter diese Bäume, sie aber fragte sich: »Hat Sijad-Batyr mich erkannt oder nicht?« Dann fragte sie ihn aus: »Seit wann arbeitet Ihr hier als Hirt?« Sijad-Batyr überlegte: »Wenn sie mich töten will, soll sie mich töten. Was immer geschehen mag, ich werde ihr die Wahrheit sagen!« Und er antwortete: »Seitdem Euer Vater mich zur Verbannung verurteilte.« Da gestand die Prinzessin: »Ich bin schuld, denn ich konnte von meinem Vater nicht erflehen, dass er Euch nicht verbanne.« Erfreut rief Sijad-Batyr seinen Pflegevater. »Liebe Gäste müssen gut bewirtet werden«, meinte der alte Hirt. Er brachte aus dem Kischlak einen großen Kessel, machte Feuer, schlachtete fünf Schafe und setzte den Mädchen Pilaw und Kumys vor. Nach einigen Tagen begann die Wunde der Prinzessin zu verheilen.

Hört jetzt, wie es um ihren Vater stand. Fünfzehn Tage waren vergangen, seitdem Kamarchon auf die Jagd geritten war und er von ihr kein Lebenszeichen erhalten hatte. Noch fünfzehn Tage vergingen, aber von der Prinzessin war nichts zu hören. Da rief der Schah einen tapferen Mann zu sich und sagte: »Schon ein Monat ist vergangen, dass ich von der Prinzessin ohne Nachricht bin. Reite aus und bringe in Erfahrung, wo sie ist! Finde sie und kehre mit ihr zurück!« Dieser Mann aber hätte die Prinzessin gern geheiratet. Deshalb diente er dem Schah auf Treu und Glauben. Froh über den Auftrag, war er sofort reisefertig. Er nahm einige Reiter sowie einen Krug Wein mit sich und sprengte davon. Fünf Tage ritt er über Stock und Stein, bis er die Prinzessin in vertrautem Gespräch mit Sijad-Batyr fand. Das verdross ihn. Aus Angst, die Prinzessin mit einem bösen Wort zu beleidigen, stieg er vom Pferd, grüßte und sagte: »Euer Vater ist in Sorge um Euch und hat mich ausgesandt, Euch zu suchen.« Man lud ihn zum Essen ein. Der Reiter hatte den Krug Wein mitgebracht, und die Mädchen schenkten ein. Als der Reiter zwei Schalen leer getrunken hatte, stieg ihm der Wein zu Kopfe, seine Augen wurden rot, und das Blut in seinen Adern begann zu sieden. Aus einem nichtigen Grund begann er Sijad-Batyr zu beschimpfen. »Warum stehst du mir im Wege?« brüllte er, sprang auf und versetzte Sijad-Batyr einen Faustschlag. Beleidigt setzte sich Sijad-Batyr zur Wehr. Da trat dem Recken der Schaum aus dem Mund, und er verstarb auf der Stelle. Seine Reiter stürzten sich auf Sijad-Batyr, und es begann ein Handgemenge. Doch Sijad-Batyr überwältigte sie alle. »Hier zu bleiben ist für uns jetzt gefährlich«, sagte er zur Prinzessin. »Wir müssen in ein anderes Land ziehen.«

Die Prinzessin schickte ihre Dienerinnen zum Schah und trug ihnen auf: »Wenn mein Vater nach mir fragt, dann sagt ihm, Kamarchon sei in ein anderes Land gereist.« Weinend kehrten die Mädchen in die Stadt zurück. Sijad-Batyr und die Prinzessin nahmen vom Hirten Abschied und traten die Reise an. Sie ritten ein Stück, erlegten ein wenig Wild und ritten weiter. Nach einigen Tagen gelangten sie in die Stadt Herat, in der der Schah Hussejn Mirsa regierte. Sie stiegen in einer Karawanserei ab. Sijad-Batyr fand Arbeit bei einem Schmied. Sehr bald heirateten die beiden. Eines Tages kam zu Sijad-Batyr ein reicher Scheich und bot ihm an: »Warum wollt ihr in der Karawanserei wohnen? In meinem Wohnviertel habe ich für euch ein Häuschen gefunden.« Das kleine Haus gefiel Sijad-Batyr. Er hatte sich ein wenig Geld verdient, das gab er dem Scheich und zog mit seiner Frau ein. Der Scheich hatte aber einen Diener, der ein Räuber war. Diesen Räuber rief er zu sich und wies ihn an: »Geh heute Abend nicht weg! Ich habe ein Geschäft für dich.« Um Mittemacht ging er mit dem Räuber zum Hause Sijad-Batyrs. Sie wollten ihn im Schlafe töten und Kamarchon rauben. Die Prinzessin hörte sie jedoch und weckte Sijad-Batyr auf. Er erhob sich und sah vor dem Hause zwei Männer stehen. Da zog er unter dem Kissen einen Dolch hervor und stürzte sich auf die Räuber. Auch Kamarchon lief herbei und schlug den Scheich mit der Faust auf die Backe, dass diese dick anschwoll. Sijad-Batyr tötete den Diener, während die Prinzessin den Scheich zu Boden warf und würgte. Da jammerte der Scheich: »Lasst mich los, habt Erbarmen!« Die Prinzessin meinte, man müsse ihn töten, Sijad-Batyr aber sagte: »Lassen wir den Schurken laufen! Soll er sich davon scheren und nicht wieder an solche Untaten denken!«

Der Scheich rannte davon und überlegte: »Am besten, ich gehe zum Schah und beschwere mich.« Er verband sich die geschwollene Backe und begab sich zum Palast, wo Hussejn Mirsa, von seinen Würdenträgem umgeben, saß. Der Scheich warf sich vor dem Sultan zu Boden und klagte: »O mein edler Gebieter! Kürzlich ist ein hergelaufener Landstreicher mit einem Mädchen in unsere Stadt gekommen. Ich glaubte, sie seien rechtschaffene Menschen, und verkaufte ihnen ein Haus, sie aber haben mich verprügelt. Verjagt den nichtswürdigen Halunken!« Voller Zorn entschied der Schah: »Ihn aus der Stadt zu vertreiben, wäre zu wenig. Man soll ihn hinrichten!« Er sandte seine Leibwache zu Sijad-Batyr. Die Wächter packten Sijad-Batyr und Kamarchon, fesselten sie und schleppten sie zum Schah. Sobald der Schah die Prinzessin erblickte, vergaß er alles auf Erden und drang in Sijad-Batyr: »Wo hast du dieses Mädchen her? Woher stammt sie?«

»Fragt sie selbst!« antwortete Sijad-Batyr. »Lass das Mädchen hier und schere dich davon!« herrschte ihn der Schah an. Sijad-Batyr aber gehorchte nicht. Da geriet der Schah noch mehr in Wut, rief die Henker und befahl, Sijad-Batyr zu töten. Als die Henker Sijad-Batyr zur Hinrichtung führten, schlug er sie alle nieder und eilte zu seinem Schmiedemeister. Er erzählte, was ihm widerfahren war, und der Schmied gab ihm den Rat: »Unweit von hier gibt es eine Höhle, dort kannst du dich verstecken. Ich werde in die Stadt gehen und hören, was die Leute sagen. Morgen komme ich zu dir und erzähle dir alles.«

Hört nun, wie es unterdessen der Prinzessin erging. Anfangs sprach der Schah freundlich mit ihr und versuchte, sie mit Versprechungen zu gewinnen. »Ich werde dich ganz in Gold hüllen, du wirst reicher als alle Prinzessinnen sein - nur bleibe in meinem Palast!« Kamarchon ließ sich aber nicht überreden. Da erzürnte der Schah. In seinem Garten gab es ein geheimes unterirdisches Verlies. In dieses Verlies warf der Schah Kamarchon. Als er erfuhr, dass Sijad-Batyr entkommen war, befahl er, alle Stadttore zu schließen und den Flüchtling ausfindig zu machen. Man durchsuchte die ganze Stadt, konnte ihn aber nirgends finden. Als es Abend wurde, ging der Schmied zu der Höhle, wo Sijad-Batyr sich verborgen hielt, und sie beratschlagten, was weiter zu tun sei. Der Schmied dachte lange nach, dann schlug er vor: »Der Schah hat einen Wesir mit Namen Nawoi. Zu dem musst du gehen und ihm all dein Unglück erzählen. Er ist ein gerechter Mann und wird dir in deinem Kummer beistehen.« Sijad-Batyr versprach, es zu tun. Um Mitternacht verließ er die Höhle und begab sich zum Hause Nawois. Er klopfte an und sagte: »Ich komme aus der Ferne, den ehrenwerten Nawoi um Rat zu fragen. Lasst mich zu ihm!« Wie gewöhnlich schlief Nawoi noch nicht, denn er pflegte bis spät in die Nacht, ja, oft bis zum Morgen, bei Kerzenlicht zu arbeiten. Seine Diener kamen zu ihm und berichteten: »Draußen steht ein Jüngling aus der Ferne, der sich bei Euch Rat holen möchte.«

»Lasst ihn ein!« antwortete Nawoi. Sijad-Batyr trat ein, grüßte ehrerbietig, ließ sich nieder und erzählte, was ihn bedrückte. »Sei ohne Sorge! Der Schah wird Kamarchon nicht töten. Morgen versuche ich, etwas über sie zu erfahren, und teile es dir mit.«

Am nächsten Tage ging Nawoi zum Schah und begab sich in den Palastgarten. Er wusste nämlich von dem unterirdischen Verlies. Dort traf er den Gärtner, der sich vor ihm verneigte und ihm einen Blumenstrauß überreichte. Dieser Gärtner hatte auch die Aufsicht über das Verlies. Doch das war ein Geheimnis. Nawoi befragte ihn: »Weißt du von dem Mädchen, das im unterirdischen Verlies sitzt?«

»Ich weiß es, o Herr«, antwortete der Gärtner. »Der Schah selbst hat befohlen, sie in das Verlies zu werfen.« Nawoi ging zu Sijad-Batyr und berichtete ihm, dass Kamarchon am Leben und gesund sei. Seinen Leuten befahl er, einen unterirdischen Gang bis in den Garten des Schahs zu graben.

Nach drei Tagen war der Gang fertig. Sie befreiten Kamarchon aus dem Verlies und brachten sie in Nawois Haus, in dem ein Gemach für sie vorbereitet war. Zu Sijad-Batyr sagte Nawoi: »In meinem Hause wird dir und Kamarchon niemand ein Unrecht tun. Lebt hier ruhig und glücklich!« Drei Jahre verbrachten sie in seinem Hause. Kamarchon hatte indessen einen Sohn zur Welt gebracht. Der Knabe fing an zu laufen, als Nawoi eines Tages durch den Garten ging. Er sah den Knaben im Wasser plantschen, nahm ihn auf die Arme und schenkte ihm Blumen. Dann näherte er sich der Tür Sijad-Batyrs und hörte, wie dieser sagte: »Weine nicht, meine geliebte Kamarchon! Ich weiß, dass du dich nach deiner Mutter sehnst. Weine nicht, beruhige dich! Auch mein Herz sehnt sich nach der Heimat.« Als Nawoi das hörte, trat er ein. Kamarchon wischte sich die Tränen weg, erhob sich und verneigte sich vor Nawoi, der zu ihr sagte: »Sei nicht traurig, hab keinen Kummer. Warte noch einen Monat, dann bringe ich euch selbst in euer Land und erkläre deinem Vater alles.«

Als ein Monat vergangen war, bat Nawoi den Schah, ihm eine Reise zu erlauben. Er nahm vier treue Dshigiten und traf Vorbereitungen zum Aufbruch. Eine Woche zuvor brachten die Dshigiten Kamarchon und Sijad-Batyr insgeheim aus der Stadt und versteckten sie in den Bergen. Nawoi beendete seine Vorbereitungen, begab sich in die Berge und holte Kamarchon und Sijad-Batyr ab. Tagelang ritten sie, legten einen weiten Weg zurück, bis sie in Kamarchons Heimat gelangten. Als Schah Sultan von der bevorstehenden Ankunft Nawois erfuhr, sandte er ihm zum Willkomm Reiter entgegen. Nach einigen Tagen lud Schah Sultan seinen Gast in den Palast ein: »Sei mir willkommen!« begrüßte er ihn. »Was führt Euch zu mir?« Nawoi antwortete: »Ich bin gekommen, um Eure Vergebung für zwei Schuldige zu erbitten. Wenn Ihr ihnen vergebt, bleibe ich noch einige Tage Euer Gast, wenn nicht, ziehe ich sogleich davon.« Da erwiderte Schah Sultan: »Hätten die Schuldigen sogar meinen Vater getötet, würde ich ihnen verzeihen, weil Ihr für sie bittet. Sagt mir, wer sie sind.« Nawoi ließ Kamarchon und Sijad-Batyr hereinführen. Kamarchon warf sich ihrem Vater an die Brust. Vor Freude sank der Schah in Ohnmacht. Man brachte ihn zu sich, und er fragte weinend: »Wo warst du nur so lange, meine Tochter?« Da trat Sijad-Batyr hervor und verneigte sich. Vor Freude veranstaltete Schah Sultan ein Gastmahl, bei dem das Volk sieben Tage lang bewirtet wurde. Sijad-Batyr ernannte er zu seinem Truppenführer. Vor allem schickte Sijad-Batyr nach dem alten Hirten, mit dem er in den Bergen das Vieh gehütet hatte, und brachte ihn in einem schattigen Garten unter.

Sijad-Batyr liebte das einfache Volk. Er half den Armen, Hungrigen und Verlassenen. Mehrere Tage blieb Nawoi der Gast des Schahs, dann kehrte er heim nach Herat. Ihr Leben lang gedachten Sijad-Batyr und Kamarchon seiner in guten Worten