[swahili, "Geschichte, Legende"]

Sigute

Weißt du, es waren einmal ein Bruder und eine Schwester Sigute, die war ein sehr schönes Mädchen. Sie hatten eine Stiefmutter, die war sehr böse, doch sie wussten nicht, dass sie eine Hexe war. Die Hexe hatte selbst eine Tochter, die war hässlich und ungestalt. Der Bruder musste in ferne Länder reiten, in den Krieg, und seine Schwester blieb allein bei der Stiefmutter.

Die Stiefmutter begann ihre Stieftochter Sigute zu hassen, und da fing sie an, das Mädchen auf allerlei Art zu quälen. Sigute musste die schwersten Arbeiten tun, sich im Hause abrackern und im Sommer hüten gehen. Der Stiefmutter durfte Sigute nicht unter die Augen kommen: sie aß und schlief zusammen mit den Tieren im Stall. Deshalb war Sigute stets schmutzig und beschmiert. Die Tochter der Stiefmutter aber saß schön gekleidet und hochmütig auf dem Ehrenplatz in der Ecke, wie ein Gast, und tat nichts.

In dem Hause waren ein schwarzes Hündchen und eine kleine schwarze Kuh. Diese beiden konnten sprechen, denn in alten Zeiten, so heißt es, konnten auch die Tiere sprechen. Auf dem Hof hatte Sigute tagaus, tagein das Hündchen um sich, und wenn sie zum Melken gehen musste, war sie mit der guten Kuh zusammen. Wenn sie mit dem Hündchen oder der Kuh in ein Gespräch vertieft war, vergaß sie oft ihre Arbeit und das Melken, und dafür bekam sie häufig von der Stiefmutter Schläge. Die Stiefmutter meinte immer, dass Sigute zu wenig für sie arbeite, dass sie über die Maßen faul sei.

Eines Tages, als Sigute das Vieh hütete, gebot ihr die Hexe, das Hemd auszuziehen. Sie gibt ihr einen Spinnrocken mit Werg und sagt so: »Spinn dir einen schönen Faden,
Webe dir ein fein' Gewebe:
Nähst du dir was - hast du auch was!'«
Sigute - was sollte sie machen - zog sich aus, nahm den Spinnrocken mit Werg und trieb weinend das Vieh in den Wald. Als sie die Herde dorthin getrieben hatte, umschlang sie den Hals der guten schwarzen Kuh und klagte und jammerte so heftig, dass es schien, ihr würde das Herz brechen. Denn wann würde sie genug Faden für ein ganzes Hemdlein zusammen gesponnen haben?

Der guten Kuh tat Sigute leid, und sie sagte [mit hoher Stimme]: »Ach, Sigute, liebe Hirtin,
Wein' nicht so und klage nicht so:
Spinnen werd' ich dir ein Hemdlein.«
Die gute Kuh ergriff mit ihrem Maul den Spinnrocken mit dem Werg, verschluckte ihn, und nach einer Weile brachte sie im Maule ein schönes Hemdlein aus feiner Leinwand hervor. Sigute war der lieben Kuh sehr dankbar dafür und küsste sie. Als Sigute am Abend das Vieh nach Hause getrieben hatte und die Hexe sie in dem schönen Hemd aus feinem Linnen erblickte, da wollte sie durchaus erfahren, wie das Mädchen sich so schnell ein Hemd weben konnte.

Am anderen Morgen, als Sigute hüten ging, befahl ihr die Hexe wieder, das Hemd auszuziehen, und sie gibt ihr noch einen Spinnrocken mit Werg und sagt so: »Spinn dir einen schönen Faden,
Webe dir ein fein' Gewebe:
Nähst du dir was - hast du auch was!«
Als Sigute die Herde austrieb, schickte die Hexe ihre Tochter hinter ihr her; sie sollte nachsehen, wie die Stieftochter ein so schönes Hemd spinnen konnte. Die Tochter der Hexe versteckte sich hinter den Bäumen und sah alles, sah wie Sigute den Hals der schwarzen Kuh umschlang und weinte, wie die Kuh das Werg verschlang und wie sie danach das Hemd zurückgab. Und als sie nach Hause gekommen war, erzählte sie ihrer Mutter, was sie gesehen hatte. Der Hexe kam der Gedanke: Wenn die Tiere Sigute verteidigen und für sie eintreten, dann kann sie, wenn ihr Bruder heimgeritten kommt, ihm alles erzählen und die Tiere als Zeugen anrufen, und mir wird es schlecht ergehen! Darum wollte sie unbedingt Sigute irgendwie loswerden. Sie kam zu dem Entschluss, Sigute zu verbrennen.

Sie und ihre Tochter machten sich daran, in der Hütte unter der Schwelle eine Grube zu graben, und sie gruben Tag und Nacht. Am nächsten Morgen, als Sigute hütete, nahm ihr die Hexe das Hemd nicht mehr weg, sondern im Gegenteil, sie streichelte sie sogar. Als sie meinte, dass Sigute mit den Tieren schon im Wald war, heizte sie den Ofen ein; dann scharrte sie die Glut zusammen und füllte sie in jene Grube, die sie unter der Schwelle ausgehoben hatten. Dann überdeckte sie die Grube schön mit Reisigzweigen, darauf breitete sie Stroh, und auf das Stroh schüttete sie Erde. Danach machte sie alles wieder glatt, und es sah aus, als ob da gar keine Grube wäre.

Als Sigute heimgetrieben hatte, bat die Hexe sie zum ersten Male nach dem Wegreiten des Bruders ins Haus [mit tiefer Stimme]: »Komm, Sigute, komm, du Liebe!
Warmes Brot ist heut' gebacken,
Würzger Kwas schon gestern fertig:
Du sollst essen, du sollst trinken.«
Sigute wollte schon kommen, doch da lief ihr das gute Hündlein vor die Füße, das alles gesehen hatte, und warnte sie [mit hoher Stimme]: »Bleib, Sigute, bleib, o Schwester!
Unterm Eingang - Feuergrube,
Wenn du drauf trittst, stürzt hinein du!«
Die Hexe schrie los und schalt auf das Hündlein: »Was scheuchst du hier im Hausflur die Hühner?« Sie griff es und sperrte es in die Kammer. Doch Sigute ging nicht ins Haus und blieb am Leben. Am nächsten Morgen wieder dasselbe. Als Sigute heimgetrieben hatte, wollte die Hexe sie in die Hütte locken: »Komm, Sigute, komm, du Liebe!
Warmes Brot ist heut' gebacken,
Würzger Kwas schon gestern fertig:
Du sollst essen, du sollst trinken.«
Doch das liebe Hündlein, das in der Kammer war, hörte es und warnte sie: »Bleib, Sigute, bleib, o Schwester!
Unterm Eingang - Feuergrube,
Wenn du drauf trittst, stürzt hinein du!«
Sigute gehorchte der Hexe nicht und ging nicht hinein, doch die Hexe, voller Wut, lief hin und riss dem guten Hündlein ein Vorderbein heraus. Am nächsten Tage, als Sigute. wieder heimgetrieben hatte, ruft die Hexe wieder: »Komm, Sigute, komm, du Liebe!
Warmes Brot ist heut' gebacken,
Würzger Kwas schon gestern fertig:
Du sollst essen, du sollst trinken.«
Und wieder warnte das gute Hündlein: »Bleib, Sigute, bleib, o Schwester!
Unterm Eingang - Feuergrube,
Wenn du drauf trittst, stürzt hinein du!«
Wütend lief die Hexe hin und riss dem lieben Hündlein das zweite Vorderbein heraus. Ebenso war es am dritten und am vierten Tage. Die Hexe riss dem guten Hündlein auch die beiden Hinterbeine heraus.

Am fünften Tage, als Sigute heimgetrieben hatte, ruft die Hexe wieder: »Komm, Sigute, komm, du Liebe!
Warmes Brot ist heut' gebacken,
Würzger Kwas schon gestern fertig:
Du sollst essen, du sollst trinken!«
Da warnte das gute Hündlein Sigute nun zum letzten Male, denn die Hexe rannte wütend hin und riss ihm die Zunge heraus. Am sechsten Tage, als Sigute heimgetrieben hatte, ruft die Hexe wieder: »Komm, Sigute, komm, du Liebe!
Warmes Brot ist heut' gebacken,
Würzger Kwas schon gestern fertig:
Du sollst essen, du sollst trinken!«
Nun war niemand mehr da, der sie gewarnt hätte. Sigute ging, und sie fiel in die Grube und verbrannte. Die Hexe scharrte danach ihre Asche zusammen, trug sie fort und schüttete sie unter das Tor. Am folgenden Tage trieb nun die Tochter der Hexe die Herde aus. Als die schwarze Kuh an das Tor gekommen war, erkannte sie am Geruch Sigutes Asche; sie leckte mit der Zunge, der grüne Speichel floss, und aus der Asche flog eine Ente auf.

Sigutes Bruder kehrte nach Hause zurück, als der Krieg zu Ende war. Er musste durch den Wald reiten. Und wie er so ritt, hörte er plötzlich die Stimme seiner Schwester Sigute. Er hält an und lauscht, doch er kann nicht sehen, woher der Gesang kommt: »O du Bruder, o du Reiter,
Dieses Hexenweib zu Hause
Grub die Grube unterm Eingang,
Füllte sie mit Kohlengluten.
O du Bruder, o du Reiter,
Dieses Hexenweib zu Hause
Füllte voll sie, voll mit Gluten,
Rief dann mich, die arme Waise:
Komm, Sigute, komm, du Liebe!
Warmes Brot ist heut' gebacken,
Würzger Kwas schon gestern fertig:
Du sollst essen, du sollst trinken!
O du Bruder, o du Reiter,
Ich gehorchte diesem Weibe,
Ich gehorchte doch der Hexe -
Als ich ging, stürzt' tief hinab ich.
O du Bruder, o du Reiter,
Dieses Hexenweib zu Hause
Schöpfte meine leichte Asche,
Streute sie ins Tor, das traute.
0 du Bruder, o du Reiter,
Doch die schwarze Kuh da leckte,
Grüner Speichel floss herab ihr -
Und ich wurde gleich zum Entlein.«
Der Bruder schaute umher und erblickte schließlich das Entlein, das so für ihn gesungen hatte. Er begann sie nach allem zu fragen, und sie erzählte ihm alles ganz genau, wie es gewesen war. Der Bruder wurde sehr zornig auf die Hexe und sann auf Rache. Darum beschmierte er sein Ross dick mit Pech und Harz und ritt nach Hause. Die Hexe hörte, wie ihr Stiefsohn heimgeritten kam, und sie ging ihm mit einem goldenen Becher voll Wein aus dem Speicherhaus entgegen. Er aber sprang auf der anderen Seite des Pferdes ab. Die Stiefmutter sagt: »Lieber Sohn, zieh mir diesen Rappen aus dem Weg, ich fürchte mich vor ihm!«

»Es ist ein gutes Rößlein, es schlägt nicht aus. Gib ihm, liebe Mutter, mit der Hand einen leichten Stoß, und es wird zur Seite gehen.« Die Hexe stieß es ein wenig an, und ihre Hand blieb kleben. Sie sagt: »Lieber Sohn, meine Hand ist kleben geblieben!«

»Schlage mit der anderen, so wird sie abgehen.« Sie schlug mit der anderen - und auch die andere blieb kleben. »Stoße mit dem Fuß, und beide werden losgehen.« Auch der Fuß blieb kleben. »Stoße mit dem anderen.« Auch der klebte fest. Die Hexe, von Schrecken gepackt, verlegte sich aufs Bitten. »Stoße mit der Stirn - und alles geht los!« Die Hexe stieß heftig mit der Stirn, und auch die Stirn klebte fest. Dann sprach Sigutes Bruder: »Dafür, dafür, meine Hexe,
Was du tatest meiner Schwester!
Dafür, dafür, meine Hexe,
dass die Schöne du verbranntest!«
Doch dann wandte er sich an das Pferd und sagte: »Lauf, mein Ross, wohin die Füße dich tragen, wohin die Augen dich führen! Verstreue und verspritze das Gehirn der Hexe ringsumher in alle Welt!« Und das Ross stürmte los. Und noch heute zur Winterszeit, wenn es ordentlich friert, glitzert der Schnee in der Sonne - das ist das Gehirn der Hexe.