[swahili, "Geschichte, Legende"]

Nurshans Söhne

Es war einmal ein guter Mann, der hieß Nurshan. Er lebte sehr lange und alterte erst spät. Als er genau neunundneunzig Jahre wurde, rief er seine drei Söhne herbei und sprach: »Meine lieben Kinder, teure Söhne Sabit, Gabit und Chamit! Meine Tage mit aller Mühe und Plage, mit allen Freuden und Kümmernissen gehen zur Neige. Die Nacht bricht an, Finsternis vernebelt meinen Blick. Die Zeit der Ruhe ist gekommen. Bevor ich in ewigen Schlaf falle, möchte ich Abschied von euch nehmen und euch mein väterliches Vermächtnis hinterlassen.«

»Inbrünstig und ehrfurchtsvoll hören wir dich an, Vater!« sprachen die Brüder. Und Nurshan fuhr fort: »Teilt nach meinem Tod auf Ehre und Gewissen sämtliches Vieh, allen Besitz, den ich erwarb, und wirtschaftet so, dass weder Verwandte noch Fremde jemals etwas Schlechtes von euch denken oder sagen, wisset, in meinen Schafherden gibt es kein Lämmchen, in meinen Pferdeherden kein Fohlen, das ich mir durch List oder Betrug angeeignet hätte. Hütet die Herden vor Wölfen, eure Seele vor Lüge. Lebt in Eintracht, helft einander in der Not. Sollte es nun aber geschehen, dass das Elend euch alle wie ein Fangseil in die Schlinge nimmt, nehmt dies, es soll euch davor bewahren.« Bei diesen Worten reichte Nurshan den Söhnen mit zitternder Hand einen Lederbeutel mit Goldmünzen. »Nehmt, meine lieben Söhne! Darin sind neunundneunzig Goldmünzen, die Zahl meiner Jahre unter dem Steppenhimmel. Versteckt das Geld an einem sicheren Ort und rührt es nicht an, bevor eure Vorräte bis zum letzten Bissen eingeschrumpft sind. Teilt erst in der schlimmsten Stunde die Goldmünzen zwischen euch. Für mich bedeuteten diese Münzen Arbeit und Schweiß, Entsagung und Tränen, mögen sie euch die Stütze des Wohlergehens sein.« Sodann hauchte der graubärtige Nurshan sein Leben aus, und der Tod drückte ihm so fest die Augen zu, wie die Hausfrau den Schanyrak an einem stürmischen Herbsttag zudrückt.

Die Söhne setzten ihren alten Vater in allen Ehren bei, begingen nach dem Brauch den Leichenschmaus und waren untröstlich. Am meisten weinte und litt der jüngste Sohn am Grab des Vaters. Und die Leute, die aus der ganzen Steppe zu Nurshans Beisetzung gekommen waren, sprachen: »Gelobt sei der Vater, der solche Söhne aufgezogen hat. Alle drei ehrenhafte Dshigiten, dem jüngsten gebührt das höchste Lob.« Nach den Trauertagen teilten die Brüder ohne Zwist und Streit das Erbe in drei Teile, nur konnten sie sich lange nicht darüber einig werden, wo sie das Beutelchen mit den Goldmünzen am sichersten verstecken sollten. Sie stiegen hoch in die Berge, suchten eine Felsenhöhle, versteckten darin den Schatz und legten Steine vor den Eingang, so dass es selbst dem findigsten Dieb nicht in den Sinn gekommen wäre, hier auf Beute zu rechnen. Die Brüder schworen, dass keiner, auch nicht in Todesangst, das Geheimnis verraten und nie den gemeinsamen Schatz antasten werde. Dann umarmten sie sich fest und begaben sich einzeln auf verschiedenen Pfaden hinunter.

Auf Nurshans Grabe wuchsen Gras und Blumen, Karawanen zogen durch die Steppe, die Zeit verstrich. Anfangs lebten die drei Brüder in Freundschaft und gutem Einvernehmen, und in fernen Gegenden hielten die Eltern sie ihren Kindern als Beispiel vor. Dann aber knüpfte der Jüngste Bekanntschaft mit Müßiggängern und Zechbrüdern, begann zu prassen und führte ein liederliches Leben, gab über sein Vermögen hinaus Feste und Reiterspiele, jagte auf seinem Hengst nach Hasen, vernachlässigte sein Vieh. Die Brüder machten ihm Vorwürfe: »Was ist nur in dich gefahren? Hast du die Mahnungen des Vaters vergessen? Besinne dich, bevor es zu spät ist: Sonst bleibt dir bald nicht mal mehr ein löchriger Chalat.« Chamit lachte nur: »Niemand weiß, was der nächste Tag bringt.«

»Das stimmt«, sagten die älteren Brüder, »doch wie er auch sein mag, der nächste Tag, leben muss man nach dem Sprichwort: Arbeiten, bis es dunkel wird, auch wenn du nur noch bis zur Nacht atmest.«

Und es kam so, wie es kommen musste: Chamit hatte sich bald zugrunde gerichtet. Er verkaufte den Rest des Viehs, ritt zu den Brüdern und klagte, Steppenräuber hätten seine Herde verschleppt. Sabit und Gabit wiegten bekümmert die Köpfe, doch sie erinnerten sich der letzten Worte des Vaters und verschonten den Bruder mit Tadel. Sie gaben ihm von ihren Herden so viel Vieh, dass er wieder auf die Beine kommen und seine Familie ernähren konnte. Nach einer Weile jedoch suchte ein furchtbares Unglück alle Hirten der Gegend heim. Es war ein Dürresommer, alles Gras verdorrte. Es gab kein Futter. Der Herbst war verregnet, vom harten Frost gefror die Erde. Das Vieh starb vor Hunger und an Krankheit. Die Steppe färbte sich schwarz von den Tierleichen.

Da erinnerten sich die Brüder an ihren geheimen Schatz. Sie stiegen zur Höhle hinauf, warfen die schweren Steine fort und schauten hinein. Das Beutelchen lag an der gleichen Stelle, doch es war weniger Geld darin. Erregt schüttelten die Brüder die Goldmünzen in die Mütze, zählten dreimal nach, und was ergab sich? Nicht neunundneunzig Goldmünzen, wie der Vater gesagt hatte, sondern sechsundsechzig lagen darin. Fassungslos und schweigend saßen Nurshans Söhne über dem Haufen Gold und schauten sich misstrauisch an. Sabit sagte: »Es ist undenkbar, dass sich ein Fremder an dem Gold vergriffen hat. Hätte ein Dieb durch ein Wunder unseren Schatz entdeckt, hätte er alles Gold genommen und keine Münze zurückgelassen. Also muss einer von uns der Dieb sein. Aber wer?«

»Ich schwöre, ich habe das Geld nicht genommen«, sagte Gabit. »Ich schwöre, auch ich habe nichts genommen«, sagte Chamit. »Also glaubt ihr Schurken, das wäre mein Werk!« schrie Sabit zornig. »Wer kann das wissen!« sagte Gabit grimmig.

Der älteste Bruder stürzte sich auf den mittleren, packte ihn an der Gurgel, und im Dämmerlicht der Höhle blinkten die Messer wie Blitze. »Haltet ein, Brüder, haltet ein!« rief Chamit. »Vor einiger Zeit erst warft ihr mir vor, ich hätte die Mahnungen des Vaters vergessen, und wozu lasst ihr euch nun hinreißen?! Hört mich an, wir wollen die Sache friedlich entscheiden. So sehr wir uns auch befeinden, das Geheimnis erfahren wir deshalb doch nicht. Vielleicht war ein böser Geist in der Höhle und raubte einen Teil des Goldes. Wollen wir uns deshalb nicht den Kopf zerbrechen. Es ist ja noch eine hübsche Summe geblieben: Teilen wir sie auf, wie der Vater es geheißen hat, und begraben wir den Streit.«

Die Brüder senkten die Messer, und Sabit sagte schwer atmend: »Dank dir, Chamit, dass du uns vor unsinnigem Blutvergießen bewahrt hast. Was sind Berge von Gold gegen einen Tropfen Menschenblut. Aber kann denn fortan zwischen uns Frieden herrschen, wo doch das frühere Vertrauen ineinander getrübt ist? Nur der weise Beltekej, der Freund unseres verstorbenen Vaters, kann die Wahrheit ans Licht bringen und uns versöhnen. Befragen wir Beltekej!« Von den Bergen herabgestiegen, sattelten sie ihre Pferde und eilten durch die weite Steppe zu jenem Ort, wo die Sippe Beltekejs ihr Winterlager aufgeschlagen hatte.

Selbst der längste und schwerste Weg nimmt einmal ein Ende. Am vierzigsten Tag gelangten die Brüder zum Aul des ehrwürdigen Beltekejs. Mit Ehren und Freuden empfing der Greis die Söhne seines Freundes, ließ den besten Schmaus und Kumys auftragen. Der Alte sprach: »Ruht euch bis zum Morgen aus. Dann will ich euren Streit schlichten.«

Die Nacht verstrich. Am frühen Morgen bewirtete der weißbärtige Beltekej abermals die Gäste, dann sprach er: »Habe die ganze Nacht über euren Fall nachgedacht und kein Auge zugetan. Ich kann es nicht glauben, dass ein Sohn meines Freundes Nurshan ein Dieb sein soll. Doch ihr müsst eure Unschuld beweisen, und dafür gibt es nur ein Mittel: Reitet sofort zum Grab des Vaters, buddelt es aus und bringt mir drei Härchen aus dem Bart des Leichnams, jeder ein Härchen. Nur so könnt ihr euch vor mir und voreinander rechtfertigen.«

Die Brüder gaben sich ihren Gedanken hin. Als erster unterbrach Sabit das Schweigen: »Ich bin kein Dieb. Doch möge der Verdacht und die Schuld auf mir lasten, aber das, was Ihr, verehrter Beltekej, verlangt, bringe ich nicht fertig.«

»Auch ich bin kein Dieb«, sagte Gabit, »doch auch ich verweigere Euch den Gehorsam, hoch verehrter Beltekej, obgleich Ihr der Freund unseres Vaters und zweimal älter seid als wir drei.« Chamit sagte: »Meine Brüder haben anscheinend Grund, die Wahrheit zu fürchten. Waren sie etwa zu zweit, ohne mein Wissen, in der Höhle? Auch ich bin kein Dieb, weiser Beltekej, deshalb bin ich bereit, sofort zum Grab des Vaters zu reiten und Ihr Gebot zu erfüllen. Möge die Wahrheit ans Licht kommen!« Und er trat zur Tür.

Da streckte der weißbärtige Beltekej die Arme aus, drehte die Handflächen nach oben und sprach eindringlich: »Jüngling, habe keine Eile! Die Wahrheit ist schon gefunden. Chamit, du hast das Geld gestohlen, du und kein anderer. Wer bereitwillig das Grab seines Vaters schänden würde, ist zu allem fähig: zu Diebstahl und Verbrechen, zu niedrigem Betrug und zu Eidbruch. Womit willst du Unglückseliger deine Schande und dein Verbrechen wiedergutmachen?« Kreidebleich stand Chamit vor dem weisen Mann. Den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen, hörte er die Beschuldigung, dann lief er wortlos, die Hände vors Gesicht geschlagen, davon, schwang sich auf sein Pferd und ritt in die verschneite Ferne.

Seither wurde er in keinem Aul, in keinem Nomadenlager gesehen, niemand hat je seinen Namen gehört und in Gesprächen über Vergangenheit und Gegenwart je seinen Namen genannt.

Die älteren Brüder dankten weinend dem greisen Beltekej für seinen Urteilsspruch und kehrten mit dem Gold des Vaters zu ihren Familien zurück. Niemals gab es Zwist zwischen ihnen, zusammen schlugen sie ihr Lager auf, züchteten Vieh, zogen gemeinsam Kinder und Enkel auf und lebten lange Jahre, bevor auch ihre Tage mit Mühe und Plagen, mit Freuden und Kümmernissen zur Neige gingen.