[swahili, "Geschichte, Legende"]

Lumpenrock

In einem großen Schloss am Meer wohnte einst ein reicher Edelmann. Seine Frau und seine Kinder waren gestorben, und es war ihm nur eine kleine Enkelin geblieben. Er hatte sie aber noch nicht ein einziges Mal angesehen, denn er konnte sie nicht leiden, weil ihre Geburt seiner Lieblingstochter das Leben gekostet hatte. Und als die alte Kinderfrau ihm einst die Kleine brachte, sagte er, er wolle ihr nie und nimmer ins Gesicht blicken. Damit drehte er sich um, schaute aus dem Fenster aufs Meer hinaus und weinte bittre Tränen, weil er seine Tochter verloren hatte. Lange saß er so da, und seine weißen Haare und sein Bart wuchsen und wuchsen, bis sie sich um den Stuhl ringelten und in die Fußbodenritzen krochen.

Seine Enkelin wurde indessen ein hübsches Mädchen, obwohl niemand für sie sorgte und sie kleidete. Nur die alte Kinderfrau gab ihr manchmal, wenn niemand in der Nähe war, eine Schüssel mit Küchenabfällen oder einen zerrissenen Rock aus dem Lumpensack. Die anderen Diener verspotteten die Kleine und nannten sie »Lumpenrock«. Der einzige, der ihr Gesellschaft leistete, war der Gänsehirt. Wenn sie hungrig war oder müde oder fror, dann blies er so fröhlich auf seinem Pfeifchen, dass sie ihre Sorgen vergaß und zu tanzen begann.

Eines Tages erzählten sich die Leute, der König wolle all den vornehmen Herren und Damen in der nahe gelegenen Stadt einen Ball geben. Auf diesem Fest sollte der Prinz, sein einziger Sohn, sich eine Frau wählen. Eine Einladung wurde auch ins Schloss am Meer gebracht, und die Diener trugen sie zu dem alten Edelmann hinauf. Der saß immer noch, gehüllt in sein langes weißes Haar, am Fenster und weinte. Das Haar hielt ihn fest wie einen Gefangenen, und er konnte sich nicht mehr bewegen. Als er von der Einladung des Königs hörte, bat er, eine Schere herbeizuholen, und ließ sich los schneiden. Danach legte er kostbare Kleider an und schmückte sich mit seinen Juwelen. Er befahl, seinen Schimmel zu satteln und ihm die golden verzierte Seidendecke aufzulegen. Nun konnte er zum König reiten.

Inzwischen hatte auch Lumpenrock gehört, was in der Stadt vor sich gehen sollte. Sie setzte sich weinend neben die Küchentür, weil sie nicht mitgehen und alles anschauen durfte. Als die alte Kinderfrau sie schluchzen hörte, ging sie zum Schoßherrn und bat ihn, seine Enkeltochter doch mit auf den Ball zu nehmen. Er runzelte nur die Stirn und gebot ihr zu schweigen. Die Diener aber sagten: »Lumpenrock ist ganz zufrieden mit ihrem Leben. Lasst sie, wo sie ist - zu was anderem taugt sie nicht.« Die alte Kinderfrau wollte Lumpenrock trösten, aber sie war schon fortgelaufen. Sie erzählte ihrem Freund, dem Gänsehüten, von ihrem Kummer. Der bat sie, nicht weiter zu klagen, und schlug vor, mit ihr gemeinsam in die Stadt zugehen, um sich den König und das schöne Fest anzusehen. Da blickte sie bekümmert auf ihre Lumpen und bloßen Füße hinunter, doch er nahm seine Pfeife und blies ein Liedlein. Das war so fröhlich, dass sie bald ihre Sorgen vergaß. Er fasste sie bei der Hand, und tanzend zogen die beiden mit ihrer Gänseschar die Straße hinab, dar zur Stadt führte.

Sie waren noch nicht weit gelaufen, da kam ein hübscher junger Mann angeritten, der aufs prächtigste gekleidet war. Er fragte sie nach dem Weg zum Schloss. Als er hörte, dass auch sie dahin unterwegs waren, stieg er vom Pferd und ging neben ihnen her. Der Hirtenjunge zog seine Pfeife heraus und spielte eine süße Melodie. Wieder und wieder blickte der Fremde in Lumpenrocks liebliches Gesicht, bis er sich Hals über Kopf in sie verliebte und sie bat, ihn zu heiraten. Doch sie schüttelte nur den Kopf und erwiderte: »Schön auslachen würden sie dich, wenn du ein Gänsemädchen zur Frau hättest. Geh und frag eine der vornehmen Damen, die du heute Abend beim Ball des Königs treffen wirst, und mach dich nicht über Lumpenrock lustig.« Aber je hartnäckiger sie ablehnte, desto süßer erklang die Hirtenpfeife, und desto heftiger verliebte sich der junge Mann in Lumpenrock. Und zum Beweis, dass er es ernst meinte, bat er sie, um zwölf Uhr in der Nacht auf dem Ball zu erscheinen. Sie sollte so kommen, wie sie war, mit dem Hirtenjungen und seinen Gänsen, in ihrem zerrissenen Rock und den bloßen Füßen. Vor dem König und all den vornehmen Herren und Damen wollte er mit ihr tanzen und sie als seine liebe und hoch geachtete Braut vorstellen.

In der Nacht war der Saal des Schlosses hell erleuchtet. Die Musik spielte, und die vornehmen Herren und Damen tanzten vor dem König. Da - genau als es zwölf Uhr schlug - traten Lumpenrock und der Hirtenjunge durch die großen Flügeltüren. Eine schnatternde Gänseschar folgte ihnen. Sie schritten geradewegs durch den Ballsaal, während zu beiden Seiten die Damen miteinander flüsterten. Die Herren lachten, und der König, der am anderen Ende saß, starrte ihnen erstaunt entgegen.

Nun waren sie vor dem Thron angelangt. In diesem Augenblick erhob sich Lumpenrocks Liebster von seinem Sitz neben dem König und ging auf sie zu. Er nahm sie bei der Hand, küsste sie vor allen Leuten dreimal und drehte sich zum König um. »Vater«, sagte er, denn es war niemand anders als der Prinz, »ich habe meine Wahl getroffen. Hier ist meine Braut, das lieblichste Mädchen im ganzen Land und das beste dazu.« Noch hatte er nicht zu Ende gesprochen, da setzte der Gänsehirt die Pfeife an die Lippen und blies einige leise Töne; es klang, als ob ein Vogel weit, weit weg im Walde sang. Da verwandelten sich die Lumpen der Braut in glänzende Kleider, mit glitzernden Juwelen besetzt, auf ihren goldenen Haaren saß eine goldene Krone, und die Gänse wurden zu niedlichen Pagen, die ihre lange Schleppe trugen.

Nun erhob sich der König, um sie als seine Tochter zu begrüßen. Zugleich erklangen zu Ehren der neuen Prinzessin laut die Trompeten, und die Leute draußen auf der Straße sagten: »Ach, nun hat der Prinz sich das hübscheste Mädchen im ganzen Land zur Frau gewählt!«

Der Gänsehirt aber ward nicht wieder gesehen, und niemand wusste, was aus ihm geworden war. Der alte Edelmann zog heim in sein Schloss am Meer. Er mochte nicht länger am Königshof bleiben, denn er hatte doch geschworen, seiner Enkeltochter niemals ins Gesicht zu blicken. Vielleicht seht ihr ihn dort eines Tages; vermutlich sitzt er noch heut am Fenster und schaut aufs Meer hinaus.