[swahili, "Geschichte, Legende"]

Königin Rose oder der kleine Thomas

Es war einmal ein König. Der hatte einen kleinen Sohn von vierzehn Jahren, der hieß Thomas, jeden Nachmittag machte die königliche Familie einen Spaziergang an einen Ort, der wurde die »Quelle im Sand« genannt. Am Wegesrand standen drei weiße Knospen, und eines Tages, als die Königin nicht fortgehen mochte, hatten sich die Knospen geöffnet, und der König pflückte eine Rose ab, um sie der Königin mitzubringen. Sie legte sie in eine Handschuhschachtel auf den Nachttisch, der in einem Zimmer vor dem Schlafgemach stand.

Um Mitternacht hörte der König plötzlich mehrere Male sagen: »König, öffne mich!«

»Rufst du mich, Isabella?« fragte er die Königin. »Ich? Nein!«

»Aber man hat mich doch gerufen!«

»Ich nicht. Lass mich doch schlafen!«

Die Aufmerksamkeit des Königs wurde so sehr darauf gelenkt, dass er schließlich die Königin fragte, wo sie die Rose gelassen habe, und sie sagte es ihm. Als sie wieder eingeschlafen war, stand er auf, öffnete die Schachtel und hervor kam eine Prinzessin, die hieß Königin Rose und sagte ihm, sie wolle jetzt seine Gemahlin sein, denn die andere wäre es lange genug gewesen und die solle er töten. Doch der König wollte nicht. »Du musst es tun, es gibt gar keinen Ausweg; wenn du es nicht tust, musst du selber sterben.«

»Und wie wollen wir sie denn töten?«

»Ich fasse sie an den Füßen und du am Kopf.« Das tat dem König in der Seele leid, und er entschloss sich, seiner Frau die Augen auszureißen und steckte sie in seine Tasche; die Leblose warf er in einen Keller. Dann legten sich die beiden zu Bett, und als am nächsten Tag der kleine Thomas kam, um seiner Mutter guten Morgen zu sagen, blieb er nachdenklich stehen und sagte: »Das ist nicht meine Mutter.«

»Ich bin deine Mutter, und du hast mich als solche zu achten; tust du es nicht, töte ich dich.« Als sie aus dem Zimmer ging, sagte sie zur Dienerschar, sie sei Königin Rose und jeder, dem sein Leben lieb sei, habe sie zu achten.

Indessen hörte der kleine Thomas nicht auf, um seine Mutter zu weinen.

Eines Tages, als er wieder so traurig in seinem Zimmer saß, vernahm er unter der Erde Wehklagen. Er ging darauf zu und hörte durch das Gitter eines Kellers, wie seine Mutter ihn rief und zu ihm sagte: »Mein Sohn, wo bist du nur, dass ich dich nicht sehen kann? Bring mir ein Stückchen Brot, wenn es auch noch so hart ist, damit meine Kräfte mich nicht verlassen. Wirf es nur hier durch.« Als Königin Rose erfuhr, dass man der anderen zu essen gab, wurde sie fuchsteufelswild und schlug die Dienerin, die es getan hatte. Alle fürchteten Königin Rose sehr, auch der König.

Voller Zorn sagte sie eines Tages zum kleinen Thomas: »Hör, Knabe, ich bin sterbenskrank, und du musst mir Wasser aus der ›Quelle im Sand‹ holen.« Das Kind nahm ein Pferd und einen Krug und ritt los. Unterwegs traf es einen Alten, der sagte zu ihm: »Kleiner Thomas, wohin gehst du?«

»An die ›Quelle im Sand‹, um Wasser zu holen.«

»Hör, das musst du im Trab holen, ohne anzuhalten und dich umzudrehen, wenn man dich auch ruft oder nach dir greift oder dir ein Lasso um den Hals wirft.«

Als er dort im Trab anlangte, kamen einige Frauen auf ihn zu und sagten: »Kleiner Thomas, sieh einmal her, nimm dies!« Und sie wollen ihm ein Lasso um den Kopf werfen. Er aber nahm einen Fuß hinunter, schöpfte im Trab das Wasser, und, ohne sich darum zu kümmern, was sie ihm sagten, oder anzuhalten, erreichte er das schloss. Königin Rose, die ihn nicht mehr zurückerwartete, wurde fuchsteufelswild, und zornig sprach sie zu ihm: »Du musst mir jetzt drei Zitronen von der Quelle im Sand holen.«

Der kleine Thomas ging los, und es geschah ihm dasselbe wie beim ersten Mal. Da wurde die Königin noch wilder, denn sie hatte ihm den Auftrag nur gegeben, damit er dort verzaubert bliebe, aber das gelang ihr nicht. Sie schickte ihn nun zum dritten Mal wegen dreier Apfelsinen aus. Vor seinem Aufbruch ging der kleine Thomas zu seiner Mutter, um sie noch einmal wieder zu sehen, falls er nicht zurückkehren würde. Dann machte er sich auf den Weg, und wieder begegnete er dem Alten, und wieder ereignete sich das gleiche wie die beiden vorigen Male. Da warf Königin Rose ihn aus dem schloss, und weinend bat der kleine Thomas eine Dienerin, Sorge für seine Mutter zu tragen.

Er brach auf und wanderte und wanderte immer weiter, bis er einen Alten traf, der sprach zu ihm: »Kleiner Thomas, ich weiß alles, was dir geschehen ist. Sieh her!« Er strich ihm mit der Hand über das Gesicht, das sich veränderte; er kleidete ihn als Engel an und verwandelte sein Haar in viele kleine Löckchen. Dann gab er ihm folgenden Auftrag: »Wir gehen jetzt in ein schloss, in dem befinden sich zwei Frauen, die werden zu mir sagen: ›Lasst das Kind doch eine Weile hier, wir wollen ihm das schloss zeigen.‹ - Das sind die beiden Schwestern der Königin Rose. - Du musst dann sagen: ›Geht nur, Papa; Lasst mich hier!‹ Ich lass dich dann ungefähr zwei Stunden bei ihnen. Sie werden dir alles zeigen außer einem Gemach, das verschlossen ist. Besteh darauf, dass man es dir zeigt, und wenn du drinnen bist, mach, was du willst.«

Es geschah alles so, wie der Alte ihm gesagt hatte, und als die Frauen ihm den Garten zeigten, sagten sie zu ihm: »Hier warten wir auf einen kleinen Knaben, der Thomas heißt. Den wollen wir töten und ihn an einem Stock aufhängen. Willst du ihn sehen?«

»Ja, sicher!« Schließlich gelangten sie an das verschlossene Zimmer, und er bat so sehr um Einlass, dass sie ihn eintreten ließen. Es war ganz voll schwarzer Tücher, und drei brennende Kerzen standen darin. Der kleine Thomas fragte die Frauen, die an der Tür stehen blieben, was das bedeute.

Und die eine antwortete: »Die Kerzen dort sind unser Leben; das hier ist meines, daneben das meiner Schwester und das letzte das der Königin Rose. Wenn die Kerzen auslöschen, ist unser Leben beendet.« Da ergriff der Knabe die beiden Kerzen, die ihm am nächsten standen, und sagte: »Und ich bin der kleine Thomas.« Er pustete sie aus, und im selben Augenblick sanken die beiden Frauen tot um. Dann nahm er die dritte Kerze, die noch brannte, und ging nach draußen, wo er den Alten traf. »Jetzt wollen wir ins schloss deines Vaters gehen, mein Sohn. Ich habe das alles gemacht, um zu sehen, was du tun würdest.«

Sie kamen an das schloss, und der kleine Thomas ließ seinen Vater ans Tor rufen und sagte zu ihm: »Welches Leben liebt Ihr mehr, das meiner Mutter oder das jener Frau dort?«

»Das deiner Mutter.«

»Dann pustet diese Kerze aus!« Als der König das tat, gab es einen Knall, und Königin Rose war verschwunden. Dann ging der Alte mit ihnen in den Keller, erbat vom König die Augen und strich mit seiner Hand über das Gesicht der blinden Königin, die wieder sehend wurde. Dann sagte der Alte, dass er der heilige Joseph sei; ihm war die Königin immer besonders ergeben gewesen. Der König bat auf den Knien um Verzeihung, und die Königin sagte, er habe keine Schuld an dem, was geschehen sei. Sie gingen ins schloss und überhäuften die Dienerin, die die Königin gepflegt hatte, mit vielen Geschenken. Der gute Alte erteilte allen seinen Segen, herzte den kleinen Thomas, und über allen waren der Friede und die Gnade Gottes.