[swahili, "Geschichte, Legende"]

Klein, aber hurtig

Eines Tages kamen die Hirten in den Aul gelaufen und riefen: »Helft uns, Nachbarn! Ein Steppenwolf schleicht sich Tag für Tag in unsere Herde und holt sich ein Schäfchen! Wir haben schon Fallen aufgestellt, doch er ist nie hineingetappt, weil er schlau ist. Wir haben eine Grube ausgehoben, aber er ist auch nicht in die Grube gefallen, weil er klug ist. Wir haben uns alle gemeinsam in den Hinterhalt gelegt, konnten den Wolf aber nicht erschlagen, weil er stark und gewandt ist. Ein so großes Tier haben wir noch nie gesehen. Kommt mit uns, wir wollen ihm gemeinsam den Garaus machen.« Die Daichane schüttelten zweifelnd die Köpfe: »Was können wir gegen den Wolf ausrichten, wenn nicht einmal die Hirten mit ihm fertig werden?« Ratlos ließen sie die Arme sinken und gingen auseinander, ein jeder in sein Haus.

Jarty-gulak hatte alles mit angehört. Er saß auf dem Duwal und flocht seine straffen Zöpfchen. »He, ihr Hirten!« rief Jarty den Hirten mit hellem Stimmchen zu. »Nehmt mich mit, ich will eure Herde hüten. Ich hab' keine Angst vor dem Wolf.« Die Hirten musterten Jarty-gulak und brachen in lautes Gelächter aus. »Du kannst vielleicht gegen eine Fliege kämpfen, aber niemals gegen so ein schreckliches Untier!« Doch der Knirps ließ sich nicht abweisen: »Das Ross lernt man schätzen beim Rennen und den Dshigiten im Kampf! Stellt mich doch auf die Probe!« Sprach ein alter Hirte: »Vom Probieren säuert der Wein noch nicht. Wenn du uns vom Wolf befreist, so wollen wir dir von Herzen dankbar sein. Gelingt es dir jedoch nicht, so hast du halt Pech gehabt, wir verübeln es dir nicht. Sag nur, wie wir dir helfen können.«

»Die Hilfe des Freundes ist eine Stütze in der Not«, gab Jarty-gulak artig zur Antwort und verbeugte sich achtungsvoll vor den Hirten. »Wenn ich euch brauche, will ich euch rufen, vorerst aber geht zu eurer Herde zurück. Ihr werdet sehen, ich halte mein Wort und lasse es nicht zu, dass eure Lämmchen fortwährend gerissen werden.«

Die Hirten kehrten zu ihrer Herde zurück, Jarty aber rüstete sich hurtig auf den Weg. Er fertigte sich einen Bogen aus einem zarten Hühnerknochen und Pfeile aus den spitzen Stacheln des Schlehdorns. Als Speer nahm er sich eine alte Ahle. Dann bat er die Mutter: »Bitte, backe mir einen Fladen als Wegzehrung. Ich will zum Kampf gegen den schrecklichen Wolf ausziehen.« Die Mutter wollte den Sohn nicht zu einem so gefährlichen Unternehmen fortlassen, doch Jarty-gulak flehte so inständig und gab keine Ruhe, dass sie endlich einwilligte. Sie buk dem Sohn nicht einen einfachen Tschurek, sondern einen lockeren Fladen aus Blätterteig und bestrich ihn mit saurer Sahne. »Sei vorsichtig. Jungchen, und bedenke stets, dass du unser Einziger bist, so wie man nur ein Herz in der Brust trägt. Wenn wir dich verlieren, sterben wir gewiss vor Kummer.« Also sprach die alte Frau zu ihrem Sohn, als sie Abschied nahmen.

Jarty-gulak wickelte den Fladen in ein Weintraubenblatt, verneigte sich ehrfurchtsvoll vor der Mutter und machte sich auf den Weg. Munter sang er ein Liedchen dabei: »Ich bin klein, aber mutig,
Der Weg ist weit und dornig.
Wo das Kamel nicht weiter kann,
Steht das Mäuslein seinen Mann.«
Er wanderte lange kreuz und quer durch die Wüste und suchte vergeblich nach der Fährte des Wolfes. Endlich entdeckte er das Tier im Saksaulgestrüpp. Der Wolf schlief. Er schnarchte so laut, dass die Blätter an den Bäumen zitterten. Doch der Knabe erschrak nicht. Er schlich sich an den Wolf heran, spannte den Bogen und schoss dem Tier einen Pfeil nach dem anderen in den Leib. Die Dornenpfeile konnten den Wolf zwar nicht verwunden, doch einer traf ihn in die Nase, und das Wildtier erwachte.

Jarty sprang auf, fuchtelte dem bösen Wolf wild mit seinem spitzen Speer vor den Augen herum und schrie: »Deine letzte Stunde hat nun geschlagen! Ich bin ein mächtiger Palwan, bin der Herr der Wüste! Ich befehle dir - ergebe dich!« Aber der Wolf dachte überhaupt nicht daran, sich zu ergeben. Er bemerkte den mächtigen Palwanen nicht einmal im hohen Gras. Doch der Duft des frischen Fladens, den Jarty an seinen Gürtel geknüpft hatte, ließ den Wolf aufmerken. Das Tier setzte sich auf, sträubte sein Fell, riss den Rachen auf, leckte sich das Maul und hatte im nächsten Augenblick den Fladen mitsamt dem mächtigen Palwanen verschlungen. Ach, wie schlecht erging es Jarty nun im Wolfsmagen! Der Knirps wäre vor Angst fast in Tränen ausgebrochen, doch er besann sich im rechten Moment. Es geziemt sich eines Reckens nicht zu weinen, dachte er. Ein rechter Palwan rettet sich nicht nur aus einem Magen, der findet selbst unter der Erde wieder ans Tageslicht, an die Freiheit! Er bot all seine Kräfte auf und kletterte den Wolfsrachen hinauf, um zu sehen, was weiter geschehen würde.

Der Wolf aber schlief sich aus, schüttelte sich alsdann und trabte den wohlbekannten Pfad zur Herde entlang. Bald erblickte er die Schafe. Er verbarg sich im Wermutgestrüpp und wartete ab, bis die Beute von allein näher kam. Dann suchte er sich das fetteste Lämmchen aus und schlich sich, im tiefen Gras verborgen, an das Tierchen heran. Er kroch so lautlos vorwärts, dass nicht einmal der Sand unter seinem Leib knirschte. Er war sich seines Sieges sicher. Er wusste, dass die Hirten ihn nicht bemerken würden, weil der Wolf ein Fell hat, so grau, wie das von der Sonne ausgedorrte Wüstengras.

Aber Jarty-gulak hatte alles mit angesehen. Als der Wolf schon zum Sprung ansetzte, um seine Beute zu packen, ertönte aus dem Wolfsrachen ein lauter Ruf: »He, ihr Hirten, hütet die Schafe! Jagt den Wolf!« Die Hirten sprangen auf und schrieen ebenfalls: »Jagt den Wolf!« Sie hetzten die Hunde auf das Wildtier und schwenkten drohend ihre Hirtenstäbe. Der Wolf ergriff die Flucht. Die Hunde verfolgten ihn. Den Hunden folgten die Hirten. Jarty-gulak aber schrie aus Leibeskräften: »Hierher! Mir nach! Der Wolf lebt im Saksaulgesträuch! Schlagt ihn tot!« Mit Mühe und Not entkam der Wolf seinen Verfolgern. Er erschrak nicht so sehr vor den Hunden als vielmehr vor dem, der da in seinem Leib saß und schrie. So etwas war ihm sein Lebtag nicht passiert!

Lange lag der Wolf in seiner Höhle. Doch der Hunger ließ ihm keine Ruhe, so dass er nachts kein Auge schloss. Gegen Morgen, bevor die Sonne aufging, als die Hirten noch fest schliefen, kroch Isegrim darum aus seiner Höhle und begab sich auf die Jagd. Doch abermals hatte das Wildtier Pech. Kaum näherte es sich der Herde, da schrie es aus seinem Rachen: »He, ihr Hirten! Der Wolf ist da! Hütet die Herde!«

Also gleich vertrieben die Hirten den Räuber. Nun kamen für den Wolf schwere Tage. Weder tagsüber noch bei Nacht konnte er sich an die Herde heranschleichen. Versuche einmal, dich anzuschleichen, wenn der wachsame Wächter nicht in der Steppe bei der Herde sitzt, sondern sich in deinem eigenen Leib versteckt! Was unternahm der Wolf nicht alles, um sich von Jarty-gulak zu befreien: Er sprang auf und wälzte sich auf der Erde, er riss sich blindwütig das Bauchfell in Fetzen aus, doch der freche Wächter blieb und trieb seinen Spott mit ihm: »Oh, weisester aller Wölfe! Zerreiße doch deinen unersättlichen Bauch, dann will ich schon Ruhe geben!« Der Wolf heulte tagelang vor Wut und vor Hunger.

Doch nun höre, was weiter geschah. Die Hirten fanden heraus, wo sich der Steppenwolf verbarg, und holten Menschen herbei, um eine Treibjagd zu beginnen. Wenn aber das Volk sein Wort spricht, dann ist es, als ob ein Donnergrollen vom Himmel bricht. Des Wolfs letztes Stündlein hatte geschlagen! Wie ein mächtiger Gebirgsstrom jagten die Jäger durch den Wüstensand. Als der Wolf sie hörte, flüchtete er, so rasch er konnte, und versteckte sich in ausgetrockneten Aryks. Doch die Hunde spürten ihn auf. Er verbarg sich hinter Barchanen, wühlte sich in den Sand ein, doch überall entdeckten ihn seine Verfolger. Bald war der Wolf am Ende seiner Kräfte, aber da er schlau und gerissen war, sprang er in einen ausgetrockneten Brunnen und verbarg sich auf seinem Grund. Die Hirten verloren die Fährte und kehrten um. Doch Jarty-gulak schlief nicht: Als er hörte, dass sich der Lärm der Verfolger entfernte, schrie er aus dem Rachen des Wolfs: »He, Nachbarn, wohin? Der Räuber sitzt doch hier! Er verbirgt sich im tiefen Brunnen!« Die Jäger kamen zum Brunnen zurück, fanden Isegrim und erschlugen ihn.

Es war der größte Wolf weit und breit in der Wüste gewesen. Ein alter Hirte zog ihm das Fell ab. Da sprang Jarty-gulak unversehrt aus dem Wolfsleib ans Tageslicht. Alle verwunderten sich über die Maßen, der Knirps aber sprach: »Sei gegrüßt, Hirte! Jetzt siehst du wohl, dass ich mein Wort gehalten habe!«

Antwortete der Hirte: »Wirklich, du hast dein Wort gehalten, Kleiner.« Er wandte sich zu den Daichanen um und sprach: »Dieser Dshigit hat Tag und Nacht unsere Herden bewacht und uns von dem schrecklichen großen Raubtier befreit. Drum wollen wir ihm zum Lohn unsere fünf besten Hammel geben.« Am selben Abend noch trieb Jarty-gulak fünf der besten Fettschwanzhammel zu seines Vaters Haus und sang sein fröhliches Liedchen: »Ich bin mutig und noch klein,
Das winzige Mäuslein
Schlüpft in jedes Löchlein hinein!«
Die beiden Alten freuten sich von Herzen, als sie ihren kleinen Sohn mit einer so reichen Belohnung erblickten. Auch wir wollen uns mit ihnen freuen!