[swahili, "Geschichte, Legende"]

Kerem

In alten Zeiten lebte einmal ein armer Mann. Er besaß sieben Töchter und einen einzigen Sohn mit Namen Kerem. Der Knabe war noch klein, als böse Geister, Dewe, seine Schwestern entführten und zu Frauen nahmen. Die Eltern trauerten aufrichtig um den Verlust ihrer Kinder und beweinten sie häufig. Als Kerem herangewachsen war, nahm er das Pferd seines Vaters sowie ein scharfes Schwert und begab sich auf die Suche nach seinen Schwestern. »Liebster Sohn«, flehten die Eltern, »zieh nicht fort. Die Unholde werden dich töten.« Doch Kerem hörte nicht auf Vater und Mutter.

Er ritt durch alle Steppen, erklomm alle Berge und gelangte endlich in eine große Stadt. Dort trat er in die erste Kibitka, die er erblickte, und sah eine weinende Greisin mit einem weinenden jungen Mädchen. »Weshalb weinet ihr?« fragte Kerem. »Wie sollten wir keine Tränen vergießen«, erwiderte die Greisin, »da unser Padischah so grausam ist. Tag für Tag fordert er vom Volk eine Jungfrau und lässt sie morgens hinrichten. Heute ist die Reihe an meiner Tochter, zu ihm zu gehen.« Was er da vernahm, trieb Kerem die Zornesröte ins Gesicht, seine Augen blickten wild, und sein Haar sträubte sich. In diesem Augenblick hielten drei Reiter vor der Kibitka und forderten die Jungfrau. Kerem erschlug zwei von ihnen, dem dritten aber gab er einen Brief für den Padischah. Darin schrieb er: »Grausamer Bösewicht, ich bin gekommen, um deine Krieger zu vernichten und dich hinzurichten! Kerem.«

Der Padischah las den Brief und befahl den Henkern: »Geht und erschlagt diesen unverschämten Kerem!« Der Wesir gab zu bedenken: »Mein Padischah, dieser verwegene Jüngling ist nicht so leicht zu erschlagen. Wenn er nicht von tiefem Glauben an seine eigene Kraft beseelt wäre, hätte er diesen Brief nicht geschrieben. Wir sollten ihn zunächst rufen lassen, um zu sehen, was für ein Mensch er ist, dann können wir ihn immer noch erschlagen.«

»Ich stimme dir zu, mein Wesir«, sprach der Padischah. »Geht und ruft ihn her.« Als Kerem die Botschaft des Padischahs überbracht wurde, sagte er: »Es heißt nicht von ungefähr: Schlage nie eine Einladung aus, aber zeige dich auch nicht ungebeten.« Rasch hatte er sich fertiggemacht, schwang sich in den Sattel und ritt zum Palast des Padischahs. »Du bist ein verwegener Jüngling«, sprach der Padischah, als Kerem vor ihn trat, »fürchtest weder mich noch meinen Zorn.«

»Oh, Padischah, wie hätte ein Feigling so einen Brief schreiben können?«

»Was forderst du von mir?« fragte der Padischah. »Sehr wenig«, entgegnete Kerem. »Ich will nur, dass du das Volk nicht länger unterjochst.«

Als der Padischah und der Wesir diese kühnen Reden vernahmen, begannen sie vor Erstaunen an den Fingern zu nagen. »Gut«, sprach der Padischah, »wir geben unser Wort, dass dies nicht länger geschehen wird. Zum Lohn für deinen Mut und deine Verwegenheit will ich dir jenes Mädchen zum Weibe geben, zu derer Rettung du meine beiden besten Nuker getötet hast.« Kerem dankte dem Padischah für das königliche Geschenk und kehrte in die Kibitka zu der ihm versprochenen Braut zurück.

Er lebte kurze Zeit mit seinem jungen Weib, doch dann zog es ihn wieder in die weite Welt. Über kurz oder lang erblickte er eine große Stadt. Kerem trat in die erste Kibitka ein. Da saßen die Bewohner im Dunkeln. »Warum entzündet ihr kein Licht?« fragte Kerem. »Wir fürchten uns«, entgegnete der Hausherr. »Was macht euch Angst?« wollte Kerem wissen. Der Hausherr wies auf einen riesigen Berg, der in der Nähe aufragte: »Dort wohnt ein Ashdarcha. Wenn wir Licht anzünden, kommt er und vertilgt uns.«

»Das wollen wir doch sehen!« rief Kerem. Wenn ihm auch alle abrieten, so beharrte er auf seiner Absicht: Schließlich ist der Gast höherer Ehren wert als der Hausherr. Kaum flackerte jedoch die kleine Flamme auf, da ertönte ein schreckliches Getöse. Die Kinder brachen in Tränen aus, und der Hausherr erblasste vor Angst. Kerem aber sprang mit gezogenem Schwert auf die Straße, und als der Ashdarcha näher kam, schlug er ihn in Stücke. Morgens ging das Gerücht von dem verwegenen Jüngling durch die Stadt, und die Menschen, die Kerem das Geleit gaben, wünschten ihm von Herzen Glück auf seinem Weg.

Kerem hatte Steppen und Wüsten weit hinter sich gelassen, da gelangte er an den Ort, wo die sieben Brüder, die Dewe, hausten, die seine Schwestern zu Frauen genommen hatten. Die Unholde waren auf der Jagd, als Kerem ihren Palast erreichte. Die Schwestern freuten sich über alle Maßen, als sie ihren geliebten Bruder erblickten. Doch als sie bedachten, dass jeden Augenblick ihre Männer heimkehren könnten, erschraken sie. Sie flehten Kerem an: »Liebster Bruder, reite von dannen, bevor es zu spät ist.« Erwiderte Kerem: »Ich bin nicht gekommen, um bei der ersten Gefahr nach Hause zu flüchten. Sagt mir lieber, wo eure Unholde ihre Seelen verborgen halten.« Eine Schwester erwiderte: »Die Seele meines Mannes lebt in einem Tiger. Er ist hinter vierzig Türen gesperrt. Die Seelen der übrigen Dewe sind in einer Flasche verschlossen, die Flasche aber befindet sich in einer goldenen Truhe.«

Kerem öffnete die Truhe und zerschlug die Flasche. Alsbald gaben sechs Unholde ihren Geist auf. Miteins erhob sich ein Wirbelsturm, packte Kerem und hob ihn in die Lüfte, um ihn dann zur Erde zu schleudern. Einmal und noch einmal. Auf und nieder. Da gelang es Kerem, sich an einem Wurzelstock festzuklammern. So blieb er auf der Erde. »Weshalb bist du hierher gekommen, Menschensohn?« schrie der siebente Unhold Dew und stand urplötzlich vor Kerem. »Um dich zu töten«, erwiderte Kerem und schlug dem Dew im selben Moment den Kopf ab. Dann schlug Kerem gegen eine, gegen die zweite und gegen die dritte Tür. So gelangte er schließlich zum Tiger. Mit dem ersten Schlag trennte er ihm den Kopf vom Leib. Dann begab sich Kerem mit seinen Schwestern auf den Heimweg.

Über kurz oder lang kamen sie in die Stadt, in der Kerem den gewalttätigen Ashdarcha getötet hatte. Die Menschen erinnerten sich des verwegenen Dshigiten und baten ihn, ein wenig bei ihnen zu leben. Doch Kerem zog es zu seinem Weib und seinen Eltern. So setzte er nach kurzer Rast mit seinen Schwestern den Weg fort. Bald langte Kerem zur Freude aller Freunde bei seinem Weibe an und begab sich alsdann zu seinen Eltern.