[swahili, "Geschichte, Legende"]

Jarty-gulak zieht in die Welt

Der Weg durch die Wüste ist lang, aber selbst die Wüste nimmt einmal ein Ende. Das Märchen ist lang, aber jedes Märchen nimmt einmal ein Ende. Ob es nun so war oder nicht, unweit des Auls, in dem Jarty lebte, lag mitten in der Wüste ein alter Brunnen. Neben dem Brunnen wuchsen drei hohe Maulbeerbäume. Weit und breit in der Wüste war dieser Brunnen für sein klares reines Wasser berühmt. Häufig rasteten hier im Schatten der Bäume die Karawanen, damit Menschen, Pferde, Esel und die zweihöckrigen Kamele ihren Durst am kühlen Wasser zu stillen vermochten. Nicht von ungefähr nannten die Pilger diesen Brunnen Ak-su, was Weißes Wasser bedeutet, Wasser, wie es kein reineres und klareres gibt.

Jarty lief häufig zu diesem Brunnen. Er beobachtete gern, wie sich Kamele, schwankend unter ihren Traglasten, dem Brunnen näherten. Gemächlich ließen sie sich im Sand nieder, und die Treiber nahmen ihnen mit lauten Zurufen und fröhlichen Scherzen die schweren Ballen von den Rücken. Er beobachtete, wie die Menschen, ihre Müdigkeit vergessend, im kühlen Schatten Koschmas und bunte Teppiche ausbreiteten. Sie zündeten Feuer an, setzten sich in der Runde um die großen Kasane und schickten sich an, nach dem langen ermüdenden Weg schmackhaft zu essen. Die Kamele trompeteten, die Maulesel schrieen, die schönen Pferde wieherten an der Tränke, und das Holzrad des Brunnens quietschte. Es förderte die großen ledernen Eimer aus der Tiefe, und das Wasser, durchsichtig wie Glas, plätscherte in Krüge und Burdjuks.

Vieles konnte man am alten Brunnen sehen, doch noch lieber lauschte Jarty den Erzählungen der Pilger über ferne Lande. Er hörte gern von heißen Ländern, wo wilde Elefantenherden durch die Wälder streifen, wo in Palmenhainen von der Morgenröte bis in die Abenddämmerung putzige Äffchen kreischen und springen, und in der Untiefe großer Flüsse faule Nashörner träge schlummern. Er hörte gern von großen alten Städten, in denen kunstfertige Meister lebten, die Papier herzustellen wussten, Stahl im Feuer zu schmieden verstanden, herrliche Häuser und Brücken bauen konnten und zartes Porzellan zu brennen vermochten, wie es kein schöneres gab auf der Welt. Er hörte gern von fernen Meeren, die bläulich im Sonnenglast schimmerten und sich schwarz färbten bei Sturm. Von hohen Bergen, auf deren Gipfeln Adler und Greifen nisten, von Tälern, die tief versteckt unterm Schnee ruhten, von Jägern in kalten Landen, die Füchse und Hermeline jagten und ihre Felle erbeuteten. Jarty hörte auch häufig von den Pilgern über gelehrte Leute aus dem Morgenland, die den Gang der Sterne beobachteten und alle Gebrechen zu heilen vermochten. Er hörte von den großen Basaren in Kun-Urgentsch und Buchara, von den schönen Mädchen in Indien und von den Weisen in China.

Vieles hörte Jarty am alten Brunnen, und so erwachte in ihm der Wunsch, überall zu weilen und mit eigenen Augen alles zu sehen, was gut und was schlecht ist in fernen Landen. Bei den Weisen wollte er Weisheit erlernen, bei den Gelehrten Gelehrsamkeit, bei den Meistern Meisterschaft und bei den Jägern Kühnheit und Tapferkeit. Doch der Vater sprach zu Jarty-gulak: »Mein Jungchen, dein Vater, dein Großvater und dein Urgroßvater haben ein langes Leben gelebt, doch sie kannten alle nur einen einzigen Weg, von ihrer Kibitka hinaus aufs Baumwollfeld. In ferne Lande zieht derjenige, der viel Geld besitzt. Mit einer einzigen kupfernen Tanga aber kommst du nicht über den eigenen Duwal hinaus.« Also sprach der Vater, also sprach die Not. Doch Jarty-gulak dachte anders. Er wollte sich unter Menschen zeigen und etwas von der Welt sehen. Er wäre schon längst in ferne Lande gezogen, doch er wollte seinen Eltern keinen Kummer bereiten.

Eines Tages kam Jarty zum Brunnen und sah, dass sich im Schatten der Bäume eine große Karawane zur Rast niedergelassen hatte. Die Karawane bestand aus dreihundert Kamelen und wollte, wie Jarty hörte, aus Chiwa in das ferne Kokand ziehen. Jarty sprang über Tonnen mit Baumwollöl, er kroch zwischen den Churdshunen aus Teppichstoff und den bunten Warenballen hindurch und gelangte an den Brunnen, wo die Treiber und Kaufleute standen. Mitten unter ihnen saß auf einem prächtigen Teppich ein Greis mit hoher Scharfellmütze und sang Lieder zum Klang des Dutars. Jarty aber liebte Lieder, wie wir wissen, über alles auf der Welt. Er war schon häufig Sängern am alten Brunnen begegnet, doch diesen weißbärtigen Greis hatte er noch niemals gesehen und so schöne Lieder hatte er auch noch niemals vernommen.

Er fragte einen Kameltreiber, den er kannte: »Durdy-dshan, sag, wer ist der Greis, der da singt wie die Nachtigall mitten in der Nacht?« Der Treiber antwortete: »Die Nachtigall singt schön, doch wer nur einmal gehört hat, wie der graubärtige Salich singt, will keine Nachtigall mehr schlagen hören.« Als Jarty vernahm, dass der Sänger kein anderer war als der berühmte Bachschi Salich, freute er sich von Herzen. Er hatte häufig diesen Namen von seinem greisen Vater gehört, doch hatte er ihn noch niemals singen hören. Jarty kroch also auf einen hohen Berg weicher Baumwollballen, um sich ja kein Wort entgehen zu lassen, und machte sich bereit, dem greisen Sänger zu lauschen.

Die Nacht senkte sich über die Wüste. Die Feuer flammten noch heller auf in der Finsternis, fern in der Wüste heulten die Schakale, der silberne Mond glitt wie ein Boot am dunklen Himmel dahin, der Bachschi aber sang. Ein Lied war schöner als das andere. Der Morgen erwachte. Ein leiser Wind wehte durchs Tal, die Hähne krähten in einem fernen Aul, die Sterne am fahlen Himmel verblassten, der Bachschi aber sang. Er hatte Zeit und Stunde und alle Müdigkeit vergessen. Die Menschen hörten ihm zu und konnten sich gar nicht genug erfreuen an seinen Liedern, denn das Lied ist wie ein breiter Fluss, dessen Wasser den Durst des Wanderers stillt. Der hurtige Jarty-gulak lauschte gemeinsam mit allen der »turkmenischen Nachtigall«. Er weinte, wenn das Lied wehmütig klang, und er lachte über alle fröhlichen Weisen. Er hatte es sich so bequem gemacht auf den weichen Baumwollballen, dass er sich gar ausstreckte, den Liedern lauschte und zum hohen Wüstenhimmel aufblickte. Nun hatte Jarty vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Feld gearbeitet, er hatte mit den anderen Jungen im Aul getobt und war sehr müde. Einen müden Menschen aber überfällt rasch der Schlaf. Dem Knaben rutschte der Kopf auf die Brust, die schwarzen Wimpern schlossen sich über seinen Augen, und Jarty fiel, in die weiche Baumwolle gekuschelt, in tiefen Schlaf. Das Lied wiegte ihn ein.

Ob Jarty lange geschlafen hatte, keiner wusste es zu sagen. Er erwachte, weil ihn jemand schaukelte, als läge er in einer Wiege. Der Knabe schlug die Augen auf und konnte nichts sehen, so dunkel war es. Er wollte sich strecken, doch seine Händchen hatten sich in seidigen Fasern verfangen. Jarty erschrak und schrie, doch keiner hörte ihn. Da nahm der Knirps alle Kräfte zusammen und kroch aufs Geratewohl los. Lange schob er mit seinen Händchen die widerspenstigen Fasern beiseite und kroch durch die Finsternis. Er hustete, der Staub benahm ihm den Atem, bis er endlich das Tageslicht erblickte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und brannte erbarmungslos auf die Erde. Vor sich erblickte Jarty die Wüste, unendlich wie das Meer. Nur hier und da ragten steile Barchane wie drohende Wachsoldaten in der Wüste auf. Da begriff Jarty, was geschehen war. Er brach in bittere Tränen aus. Beim Einschlafen war er in den Baumwollballen versunken, und die Treiber hatten den Knaben nicht bemerkt, als sie ihre Kamele beluden. So hatten sie Jarty-gulak zusammen mit der Baumwolle in ferne Länder mitgenommen. Jarty weinte, die Kamele aber zogen weiter und bimmelten mit ihren Schellen. Sie zogen die alte Karawanenstraße Scha-jelom entlang ins ferne Kokand und trugen den Knaben immer weiter fort von seinem Vaterhaus.

Endlich hörte einer der Treiber, dass etwas in seinen Ballen piepste. Er schaute sich um und erblickte Jarty-gulak. »Wo kommst du denn her, Kleiner?« rief er erstaunt. »Weshalb hast du dich an unsere Fersen geheftet? Die Vögel werden dich tot picken, und die Kamele werden dich zerstampfen! Ohne Vater und Mutter ergeht es dir schlecht!« Jarty wusste ja selbst, dass es ihm schlecht ergehen würde. Er brach in noch verzweifelteres Weinen aus, doch da vernahm er eine sanfte Stimme: »Ich will dir Vater und Mutter ersetzen!« Und eine starke große Hand hob den Knaben hoch. Jarty sah auf und erblickte einen weißen Bart. Es war so ein weißer Bart, wie ihn sein eigener Vater trug. Er sah sanfte Augen, sie waren so sanft wie die Augen seiner Mutter. Von diesen Augen liefen kleine gütige Falten wie Sonnenstrahlen übers ganze Gesicht. Sofort erkannte Jarty den alten Bachschi Salich. Der Greis zog ein rotes Seidentuch aus der Tasche seines Chalats, wischte dem Knaben behutsam die Tränen ab und sprach: »Weine nicht mehr, mein Kleiner. Es steht einem braven Gesellen nicht an, zu weinen. Ich will dir in meiner Tasche eine Kibitka bauen, will dich mit meinem Bart vor der glühenden Sonne schützen und dich bei rauen Winden im Ärmel meines Wattechalats verbergen. Das Essen aber reicht aus für uns zwei.«

»Ach, Großvater Salich!« erwiderte Jarty. »Ich weiß, dass ich bei dir keine Not leiden werde, aber ich habe von Vater und Mutter keinen Abschied genommen. Sie werden sich grämen und denken, ich sei tot. Wenn sie aber erfahren, dass ich, ohne zu fragen, in fremde Lande gezogen bin, so werden sie mich für undankbar halten.«

Der greise Bachschi gab lächelnd zur Antwort: »Das ist sehr schön, mein Kind, dass du deine Eltern liebst und dich um sie ebenso sorgst, wie sie sich um dich Sorgen machen. Aber vermögen Tränen etwa unseren Gram zu lindern? Drum weine nicht mehr, ich weiß, wie dir aus deiner Not geholfen werden kann. Bald wird in der Wüste ein Wind aufkommen, flüstere ihm ein paar Worte zu, schicke mit dem Wind deinem ehrwürdigen Vater und deiner gütigen Mutter einen Gruß. Der Wind wird deine Worte in den heimatlichen Aul tragen.« Also sprach der greise Bachschi. Die Karawane setzte indessen ihren Weg fort. Leise bimmelten die Glöckchen, und Schritt für Schritt folgten die Kamele gemächlich dem weißen Maulesel des Karawanenführers, des Karawan-baschis...

Wo die Karawane gewesen war, da ist sie nicht mehr. Auch unserer Füße Spur verweht der heiße Wüstensand. Der Alte und sein Weib begrüßten diesmal voller Wehmut den dämmernden Morgen. Die Sonne stand schon hoch am Firmament, doch Jarty kehrte nicht zurück. Da sang die alte Frau: »Wo bist du, mein Söhnelein,
Mein hurtiges Söhnelein,
Schön wie ein Blümelein
und der liebe Sonnenschein?«
Der Alte seufzte und fiel ein: »Wo bist du, mein Söhnelein,
Gewandt und stark
Wie Adler und Leopard?«
Die alte Frau hub zu weinen an: »Die Leute haben recht, wenn sie sagen, ein Kind ist süßer als Honig. Unser Jarty ist verschwunden, nun hat unser Leben den Sinn verloren.« Der Alte schwieg. Er schwieg. Vor Schmerz und Trauer kamen ihm keine Worte mehr über die Lippen. Sie nahmen einander bei den Händen und gingen in die Wüste. Sie standen am Rand des Auls und ließen ihre Blicke über die Wüste, unendlich wie das Meer, schweifen. Doch keine Menschenseele ließ sich blicken. Die Sonne neigte sich allmählich dem Untergang.

Miteins vernahmen sie ein leises Pfeifen. Es war der Sand, der da sang, er gab seine Wärme ab an die Abendkühle, zusammen mit diesem eintönigen Gesang berührte ein sanfter Wind wie ein ferner Seufzer ihr Ohr. Er berührte den Bart des Alten, er spielte mit den Zipfeln am Kopftuch der alten Frau, und im Lied der Wüste vernahmen Vater und Mutter eine vertraute Stimme: »Ata-dshan, Edshe dshan! Wartet auf mich! Trauert nicht! Ich kehre bald wieder heim. Will euch Geschenke mitbringen. Für Vater einen Seidenchalat aus Kokand und für Mutter einen bemalten indischen Schal. Will mich nur ein wenig umsehen in der großen weiten Welt...«

Also flüsterte der Wind und flog von dannen in die Karakum, und mit ihm verklang in der Ferne die Stimme von Jarty-gulak. Die alten Eltern trockneten ihre Tränen. Friedlich lächelnd kehrten sie in ihre Kibitka zurück und begannen zu warten, bis Jarty gewandt und stark, vom Leben belehrt und weise zu ihnen heimkehren würde. Die alte Frau sagte: »gewiss kommt unser Junge zurück. Denn es gibt viele herrliche, viele reiche Länder in der Welt, doch kein Land ist den Menschen heiliger als die Erde, auf der sie geboren sind.«