[swahili, "Geschichte, Legende"]

Eine Frau auf dem Thron

Es war einmal ein Bei. Er besaß so viele Kamele, Kühe und Schafe, dass die Weiden rundum für seine Herden nicht ausreichten. Dieser Bei war habgierig und überaus geizig. Er aß sich niemals satt und ließ auch seine Tochter ein Hungerdasein fristen. Sie durfte nur die Schüsseln auskratzen und musste sich von den Abfällen ernähren. Der einzige Bruder dieses reichen Beis war sehr arm, doch der Bei half ihm nicht. Als der arme Bruder vor Hunger starb, war es dem Reichen leid um das Geld für den Sawan, und die Bewohner des Auls mussten den Armen auf Gemeindekosten bestatten. Der jüngere Bruder hinterließ einen Sohn. Dieser Jüngling war sechzehn Jahre alt und hütete das Vieh auf der Weide für ein paar Fladen. Nun begab es sich aber, dass dieser Jüngling ein Mädchen von solcher Schönheit lieb gewann, dass man Essen und Trinken darüber vergessen mochte und sich allein an ihrem Anblick erfreuen wollte. Das Mädchen, die Tochter armer Leute, erwiderte seine Liebe. Als die Eltern davon erfuhren, beschlossen sie, sich dem Wunsch ihrer einzigen Tochter nicht zu widersetzen, und verheirateten sie mit dem Hirten. Der Jüngling und das Mädchen waren über die Maßen glücklich, wenngleich sie in großer Armut leben mussten. Eines Tages begegnete der geizige Bei dem schönen Weib seines Neffen und entbrannte in heißer Liebe zu ihr. Der Bei, der nicht wusste, wer sie war, folgte ihr und sah, wie die schöne Frau auf dem verfallenen Hof seines Bruders verschwand, der Hungers gestorben war. Da sann der Bei, wie er an das Ziel seiner Wünsche gelangen könnte.

Anderntags rief er den Neffen zu sich, den er bislang nicht über die Schwelle seines Hauses gelassen hatte, und sagte freundlich: »Wie lebst du, lieber Neffe? Warum gehst du mir aus dem Weg? Es ist nicht gut, wenn man die eigenen Verwandten vergisst. Du bist schließlich der Sohn meines geliebten Bruders!« Diese Worte erstaunten den Jüngling, und er dachte bei sich: Was haben diese Worte meines Onkels zu bedeuten? Er hat niemals unseren Hof betreten, hat meinem Vater in der Not nicht geholfen und ihm nicht einmal den Sawan nähen lassen! Vielleicht quält ihn die Reue, und er will seine Schuld abtragen? »Gut, lieber Onkel«, erwiderte der Jüngling nach kurzem Bedenken, »in Zukunft will ich dich besuchen, und wenn du eine Arbeit für mich hast, so sprich. Es ist nun einmal mein Los, für andere zu werken.«

Der Bei tat, als kränkten ihn diese Worte, und entgegnete: »Ich bin doch kein Fremder für dich, dass du glaubst, für mich arbeiten zu müssen. Morgen, so Allah mir gnädig ist, begibt sich eine Karawane mit Waren, die ich ausgerüstet habe, auf den Weg. Da brauche ich einen zuverlässigen Mann, der ein Auge auf den Handel hat, den ich verschiedenen Leuten übertragen hab. Begleite deshalb morgen meine Karawane. Du wirst, so wir gesund und bei Kräften bleiben, Handel und Wandel erlernen und aus deiner Armut herauskommen.« Der Jüngling war es zufrieden: »Mir ist es gleich, wem ich diene. Doch wenn ich mit der Karawane für lange Zeit fortziehe, wer wird dann für mein Weib sorgen? Wenn wir bislang auch kein leichtes Leben hatten, so habe ich doch für Fladen und Tee stets genug erworben.«

»Ach, lieber Neffe«, versetzte der Bei, »ist es nicht sündhaft von dir, zu glauben, dass dein eigener Onkel nicht für dein Weib sorgen wird? Um sie will ich mich wahrlich kümmern!« Der Neffe glaubte arglos den Worten des Onkels und sagte: »Dann will ich mit der Karawane ziehen.«

Nachdem der Bei den Neffen auf die weite Reise geschickt hatte, wartete er, dass drei Monate und zehn Tage nach dem Abgang der Karawane vergingen. Inzwischen schickte er der Frau seines Neffen tagtäglich Fladen, die so vertrocknet waren, dass er selbst sie nicht mehr beißen konnte. Nach drei Monaten und zehn Tagen kam er zu dem schönen Weib, wehklagte heuchlerisch und sprach: »Oh, welches Leid ist uns widerfahren! Mein lieber Neffe, dein Mann, ist gestorben!« Behutsam zupfte er an seinem Chalat und tat, als wolle er vor Kummer sein Gewand zerreißen, rieb sich die Augen rot und suchte sich mit Gewalt ein paar Tränen abzuringen. Dann ging er fort und ließ das weinende Weib des Neffen in ihrem Schmerz allein.

Anderntags in der Frühe kam der Bei abermals zu ihr und sprach: »Tränen können unseren Schmerz nicht mildern! Höre lieber, was ich dir sage. Heute sind, wie das Gesetz es vorschreibt, drei Monate und zehn Tage deiner Witwenschaft vergangen. Vom morgigen Tag an kannst du mit dem Hab und Gut meines Neffen in mein Haus ziehen.« Bei diesen Worten streckte er die Arme aus, um die Frau des Neffen an sich zu ziehen, doch sie packte einen schweren Tonkrug, schlug ihn dem Bei auf den Kopf und rief: »Da nimm den Dank für deinen Rat!« Der Bei schleppte sich mühsam nach Hause. Dort wusch er das Blut von seiner Stirn und begann zu überlegen, wie er sich an der widerspenstigen Schönen rächen könne. Schließlich rief er zwei Landstreicher und bat sie, falsches Zeugnis wider des Neffen Weib abzulegen. Die waren einverstanden. Er gab ihnen ein wenig Geld und lehrte sie, was sie vor Gericht aussagen sollten.

Dann ging der Bei zum Kadi und klagte: »Der Sohn meines jüngsten Bruders ist mit der Karawane fortgezogen, um meine Handelsgeschäfte zu erledigen, und hat mir aufgetragen, ein Auge auf sein Haus und auf sein Weib zu haben. Kaum aber war er fort, da begann die Frau des Neffen ein liederliches Leben zu führen - jede Nacht nimmt sie irgendeinen Herumtreiber auf. Als ich ihr ins Gewissen zu reden suchte, hat sie mich gar mit dem Tode bedroht. Einmal habe ich sie beim Ehebruch überrascht. Der liederliche Bursche, der gerade bei ihr war, hat mir einen Tonkrug an den Kopf geworfen und mich an der Stirn verletzt. Wenn ich nicht davongelaufen wäre, hätte er mich womöglich umgebracht.«

»Hast du Zeugen für ihren Ehebruch?« fragte der Kadi. »Nach dem Gesetz musst du zwei Zeugen benennen.« Der Bei sagte, dass er Zeugen habe, und der Kadi befahl, sie zu rufen. Die falschen Zeugen kamen und wiederholten alles so, wie der Bei sie gelehrt hatte.

Drauf befahl der Kadi die Frau zu rufen, die des Ehebruchs bezichtigt worden war. »Erzähle alles, wie es sich zugetragen hat, du Ehebrecherin!« gebot er. Die Frau erzählte, wie der Bei ihr nachgestellt hatte, wie sie ihn davongejagt und ihm einen Krug an den Kopf geworfen hatte. Der Kadi glaubte ihr nicht. »Es gibt zwei Zeugen, die die Klage des Beis bestätigen«, sagte er. »Dafür, dass du Ehebruch getrieben hast, sollst du gesteinigt werden.« Die Wache schleppte die Frau aus der Stadt. An der Kreuzung von sieben Straßen huben sie eine Grube aus, so tief wie ein ausgestreckter Kuschak. Sie stießen die unschuldige Frau in die Grube und bewarfen sie solchermaßen mit Steinen, dass sich bald ein Steinhügel über ihrem geschändeten Leib häufte. Danach trollte sich die Wache.

Die Frau erwachte aus der Ohnmacht und hub verzweifelt zu stöhnen an: Just in diesem Augenblick ritt ein Hirte auf einem Kamel vorbei. Als er das Stöhnen der Frau vernahm, rollte er die Steine beiseite und zog die blutüberströmte halbtote schöne Frau aus der Grube. Der Hirte nahm sie mit in seine Kibitka. Ein paar Tage behandelte er ihre Wunden mit Kräuteraufgüssen. Als es ihr ein wenig besser ging, kam der Bei zu ihm. Als er die Frau erblickte, sagte er schmeichlerisch: »Schöne Frau, heirate mich, sollst meine Lieblingsfrau sein. Meine alte Frau aber wird dich bedienen. Wenn du mich zum Manne nimmst, wirst du es nicht bedauern.«

»Niemals werde ich deine Frau!« entgegnete das schöne Weib entrüstet. Als die Frau des Beis erfuhr, dass ihr Mann sich eine zweite Frau nehmen wollte, begann sie arge Eifersucht zu plagen. Zu allem Unglück erblickte auch der Sklave des Beis die schöne Frau, als sie mit dem Krug Wasser holen ging, und entbrannte in Liebe zu ihr. Er folgte ihr zum Bach und riss sie in seine Arme. Die Frau entwand sich den Händen des Sklaven und schrie voller Zorn: »dass dein Arm verdorre!« Im selben Augenblick hing der Arm des Sklaven, mit dem er die Frau umfangen hatte, wie leblos an seinem Körper herab. Der Sklave sann auf Rache und beschloss, die Frau aus der Welt zu schaffen, ohne dass ein Verdacht auf ihn fallen würde. Nachts, als der Bei mit seiner Frau und dem dreijährigen Sohn eingeschlafen waren, drang der Sklave durch das Ofenloch in die Kibitka und erstach den Knaben mit einem Messer. Dann gelangte er auf demselben Weg ins Freie, schlich sich zu der Kibitka, in der die schöne junge Frau schlief, und schob ihr das blutbeschmierte Messer unters Kopfkissen. Drauf versteckte er sich.

Morgens erblickte der Bei den ermordeten Sohn und begab sich auf die Suche nach dem Mörder. Bald entdeckte er das blutverschmierte Messer unter dem Kopfkissen der jungen Frau. Der Bei weckte sie und fragte: »Wie ist dieses Messer unter dein Kissen geraten?« Die Frau schwor, dass sie das Messer zum ersten Mal sehe. Drauf dachte der Bei, sein eigenes Weib habe den Knaben, blind vor Eifersucht, ermordet, um alsdann die schöne Frau zu verleumden und dem Tod preiszugeben. »Verlasse sofort das Haus, sonst wird alles ein schlimmes Ende nehmen!« sagte er und gab der jungen Frau vierzig Goldmünzen. Sie gehorchte und stahl sich davon.

Über kurz oder lang kam sie zu einer Stadt und erblickte vor den Toren einen Galgen. Unter dem Galgen stand ein Mann, den die Henker hinrichten wollten. Die Frau mischte sich unter die Menge und fragte: »Wofür soll dieser Mensch gehenkt werden?« Man antwortete ihr: »Er ist ein nichtsnutziger Dieb. Doch man würde ihn freilassen, wenn er vierzig Goldmünzen in den Staatsschatz zahlt. Soviel Geld besitzt er aber nicht, und kein anderer will ihn loskaufen.« Die Frau dauerte der Dieb, sie eilte zu den Henkern und sprach: »Henkt diesen Mann nicht, ich will für ihn vierzig Goldmünzen in euren Staatsschatz zahlen.« Die Henker zählten das Geld, das sie ihnen gab, nahmen dem Dieb die Schlinge vom Hals und sagten: »Danke dieser Frau und schere dich fort! Pass auf, dass du uns nicht mehr in die Hände fällst!«

Die Frau setzte ihren Weg fort. Der freigelassene Dieb schloss sich ihr an. Unterwegs begegnete ihnen eine Kaufherrnkarawane. Der Dieb hielt einen Kaufherrn an, deutete auf seine Retterin und fragte: »Willst du mir eine Sklavin abkaufen, Kaufherr? Sie war mir entflohen, aber ich habe sie eingefangen. So eine Sklavin will ich jedoch nicht behalten. Ich fordere nicht viel für sie.« Dem Kaufherrn gefiel die schöne Frau, und er willigte in den Handel ein. Die Frau erzählte ihm, dass sie dem Dieb das Leben gerettet hatte, sie weinte und klagte, doch der Kaufherr schenkte ihr keinen Glauben. Er eilte, den Preis zu zahlen, denn er fürchtete, dass ein anderer Kaufherr, geblendet von der Schönheit des Weibes, einen noch höheren Preis für sie zahlen würde. Nachdem er die Frau gekauft hatte, zwang er sie, Männerkleidung anzulegen, auf dass alle, die ihnen entgegenkämen, sie für einen Karawanentreiber hielten. Beim Abschied sagte der Dieb zu der Frau: »Das Geld, das der Kaufherr mir für dich gegeben hat, will ich beim Knöchelspiel einsetzen. Vielleicht bringt es mir Glück.«

»Wenn du Gewissen besäßest, so würde es sich mit schwarzen Flecken bedecken«, erwiderte die Frau. »Doch da du kein Gewissen besitzest, möge sich dein Körper mit schwarzen Flecken bedecken!« Kaum hatte die Frau diese Verwünschung ausgesprochen, da bedeckten schwarze Flecken den Körper des Diebes.

Die schöne Frau aber zog, als Karawanentreiber verkleidet, mit dem Kaufherrn weiter. Die Karawane gelangte ans Ufer eines breiten reißenden Stromes. Hier verlud der Kaufherr seine Waren auf ein Schiff, trieb die Leute und auch die Sklavin an Bord und schwamm mit ihnen stromabwärts. Bald kam ein Sturm auf. Das Schiff kenterte. Alle ertranken, außer der schönen Frau. Sie hatte sich im letzten Augenblick an einen Überrest des Mastes geklammert und wurde ans Ufer geschleudert. Solcherart der Sklaverei entronnen, brach die Frau in ihrer Männerkleidung einen Zweig vom Baum, schnitt sich einen Stecken zurecht und machte sich aufs Geratewohl auf den Weg.

Nachts gelangte sie an eine fremde Stadt. Das Tor war verriegelt, und die Frau musste vor der Stadtmauer übernachten. In jener Nacht aber starb der Padischah dieses Reichs, und nach der Landessitte mussten die angesehensten Ältesten der Stadt den ersten Wanderer, der durchs Tor trat, als neuen Herrscher begrüßen. Im Morgengrauen taten sie das Stadttor auf und erblickten als erste die verkleidete schöne Frau. Da sie sie für einen Mann hielten, nahmen sie den »Wanderer« bei den Händen und führten ihn in den Palast. Die schöne Frau flehte sie an: »Lasst mich weiterziehen, gute Leute! Ich habe keinem etwas zuleide getan! Ich bin ein armer Wandersmann, der nicht weiß, wohin er sein müdes Haupt betten kann!« Versetzte einer der Ältesten: »Jüngling, alles Reden hilft dir nicht. Wir rufen dich zum Padischah aus.« Die Schöne fuhr in ihrem Flehen fort: »Ich eigne mich nicht zum Padischah. Bin nur ein armer heimatloser Bettler, vor dem alle rechtschaffenen Menschen ihre Tür verschließen.« Doch keiner gab etwas auf des »Wanderers« Worte. Die Ältesten legten der schönen Frau die Gewänder des Padischahs an und setzten sie auf den Thron. So trat sie die Regentschaft an. Bald ging von ihr der Ruhm durch die Lande, dass sie ein sehr gerechter Padischah sei. Wer immer sie um Hilfe bat, sie verweigerte sie keinem. Zudem besaß sie die Gabe, die Menschen von ihren Gebrechen zu heilen. Möge sie vorerst regieren, ihr aber hört, was sich derweilen mit dem geizigen Bei und seinem Neffen begab.

Von dem Tage an, da der Bei die unschuldige Frau verleumdet hatte, begann er zu erblinden. Nach einiger Zeit kehrte der Neffe mit den Waren zurück, die er in fremden Landen gekauft hatte. Als er sein Weib daheim nicht vorfand, fragte er den erblindeten Onkel, was ihr widerfahren sei. Der Bei hub heuchlerisch zu schluchzen an und wiederholte die Verleumdungen, mit denen er die arme Frau ins Unglück gestürzt hatte: »Als die anderen verheirateten Frauen den liederlichen Lebenswandel deines Weibes sahen, begannen sie es ihr gleichzutun. Der Kadi musste sich einmischen, um diese Laster auszurotten. Ihr wurde die Strafe zuteil, die sie verdient.« Nach diesen Worten brach der Bei in noch heftigeres Weinen aus. Der Jüngling schenkte ihm Glauben und blähte sich vor Zorn über seine Frau so auf, dass er einem runden Tonkrug glich. Anderntags kam er zum Bei und sagte: »Ich habe in vielen Ländern und Städten geweilt. In einem Reich, so habe ich vernommen, herrscht ein Padischah, der die Menschen von allen Gebrechen zu heilen vermag. Ich will dich zu ihm bringen, er wird auch dich von deiner Blindheit heilen.« Der Bei willigte freudig ein, Onkel und Neffe sattelten die Kamele und ritten in jenes Reich.

Unterwegs mussten sie bei einem Bei nächtigen. Beim Nachtmahl bediente sie ein Sklave, dessen Hand wie eine verdorrte Ranke an seinem Körper hinab hing. Der geizige Bei fragte den gastfreundlichen Hausherrn: »Was ist mit dem Arm deines Sklaven geschehen?«

»Eine Frau hat ihn verflucht, da ist ihm sein Arm verdorrt«, erwiderte der Hausherr. Der Jüngling, der Neffe des geizigen Beis, trug dem Hausherrn an, gemeinsam mit dem Sklaven zu jenem Padischah zu reisen, der alle Gebrechen zu heilen vermochte. Der Bei willigte ein, und sie setzten zu viert ihre Reise fort. Bald begegnete ihnen ein Mann in abgerissenen Kleidern, dessen Körper mit schwarzen Flecken bedeckt war. »Woher hast du diese Flecke?« fragte der Neffe des Beis. »Eine Frau hat mich verflucht«, entgegnete der Wanderer. »Wenn dem so ist«, schlug der Jüngling vor, »so reise mit uns zu einem Padischah, der die Menschen von allen Gebrechen befreit.« Der Wanderer war es zufrieden, und sie setzten ihre Reise zu fünft fort.

Ob sie nun lange Zeit ritten oder kurze Zeit, endlich gelangten sie in die Hauptstadt jenes gerechten Padischahs und gingen in seinen Palast. Die Jessaule jagten sie nicht fort, sondern ließen sie ein in die Gemächer. Als sie eintraten, erkannte die Padischah-Frau alsbald alle, doch keiner erkannte sie. »Teure Gäste, mit welchen Nöten seid ihr vor mich getreten?« fragte sie die Wanderer. Die huben von ihren Gebrechen zu erzählen an. Die Padischah-Frau hörte sie alle an und wandte sich als erstes an den geizigen Bei: »Du hast wahrscheinlich eine große Sünde auf dein Gewissen geladen, wenn du erblindet bist? Bekenne deine Sünde, dann kann ich dich heilen.« Der geizige Bei wollte jedoch um nichts in der Welt sein gemeines Verbrechen eingestehen. »Ich habe keinerlei Schuld auf mich geladen«, beteuerte er.

Sprach die Padischah-Frau: »Wenn du selbst nicht sprichst, so will ich deine Sünden erzählen.« Und sie berichtete der Reihe nach alles, was der Onkel ihres Mannes ihr angetan hatte. Der Bei fiel auf die Knie und weinte mit Augen, die nicht mehr heuchelten. »Erbarme dich, oh Padischah!« rief er aus. »Alles, was du erzählt hast, ist die reinste Wahrheit. Ich Sünder bereue mein Verbrechen!« Der Neffe zog sein Messer und trat vor den Onkel: »Du sollst den Tod meines armen Weibes mit deinem Blut sühnen!« Die Padischah-Frau befahl den Jessaulen, den jungen Mann zu packen, und warnte alle: »Wenn ihr mir keine Achtung entgegenbringt, so will ich euch niemals heilen.«

Dann wandte sie sich an den Sklaven: »Auch du hast offenbar ein schweres Verbrechen auf dich geladen! Beichte, wenn du nicht willst, dass ich selbst alles erzähle, was du verbrochen hast.« Der Sklave fiel auf die Knie und bekannte alles. Da zog sein Herr das Messer und stürzte sich auf ihn. »Ach, du Wegelagerer!« schrie er. »Du warst es also, der meinem dreijährigen Sohn die Kehle durchschnitten hat! Und ich habe gedacht, meine Frau hätte es getan, und habe die unschuldige junge Frau aus dem Hause gejagt. Für das Blut meines Sohnes sollst du mir nun mit deinem Blut büßen!« Die Jessaule schleppten den Bei auf Befehl des Padischahs fort.

Nun kam die Reihe an den Mann, dessen Körper schwarze Flecken bedeckten. Er fiel auf die Knie und bereute sein Verbrechen: »Ich bin der Unwürdigste unter den Menschen und ein unverbesserlicher Dieb! Eine gute Frau hat mich vor der Hinrichtung gerettet, ich aber habe sie als flüchtige Sklavin ausgegeben und sie an einen Kaufherrn verkauft. Seit mich die Frau verfluchte, bedecken schwarze Flecken meinen Körper.« Die Padischah-Frau erhob sich von ihrem Thron und sprach: »Ich habe euch angehört, geht nun in die Karawanserei und ruht euch aus von dem Weg. Ich aber will nachsinnen, wie ich euch von euren Gebrechen heilen kann.« Um Mitternacht trat ein Jessaul der Padischah-Frau in die Karawanserei und weckte den Neffen des Beis: »Steh auf«, sagte er, »der Padischah ruft dich.« Der Neffe des Beis ging in den Palast. Er konnte nicht begreifen, weshalb der Padischah mitten in der Nacht nach ihm geschickt hatte. Bei sich überlegte er: Ich habe über kein Gebrechen geklagt und habe kein Verbrechen begangen. Was beabsichtigt der mächtige Padischah mit mir?

Als er die Gemächer des Padischahs betrat, sah er auf dem Thron eine schöne Frau in königlichen Gewändern. Doch er erkannte sein Weib nicht und blieb mit ehrfürchtig gesenktem Haupt vor dem Thron stehen. Da sprach die Padischah-Frau: »Mögen deine Augen klarer blicken! Erkennst du dein Weib nicht mehr?« Der Jüngling hob den Kopf, da erkannte er sein geliebtes Weib und riss sie in seine Arme. Die schöne Frau erzählte ihm all ihre schlimmen Abenteuer und endete mit den Worten: »Mein geliebter Mann, besteige nun du den Thron und regiere. Dein Vater ist Hungers gestorben, drum lass nicht zu, dass in deinem Reich jemand darbt.« Mag der glückliche Mann mit seiner glücklichen Frau weiter des Gesprächs nun pflegen, ihr aber hört, welche Wunder sich indessen in der Karawanserei begaben.

Als gegen Morgen das Leben in der Karawanserei erwachte, erhoben sich auch die Gäste des Padischahs. Was aber war geschehen? Der Blinde hatte sein Augenlicht zurück, am Körper des Diebes waren die schwarzen Flecke verschwunden, und dem Sklaven war die Hand genesen, er konnte wieder Holz hacken, um Tee aufzubrühen. Nachdem alle den Morgentee getrunken hatten, erschien der Jessaul und rief sie zum Padischah. Als sie den Palast betraten, erblickten sie auf dem Thron den Neffen des Beis in königlichem Gewand und neben sich eine Frau, schön wie das silberne Mondenlicht. Alle erkannten in ihr jene schöne Frau, in die ein jeder von ihnen seinerzeit verliebt gewesen war. Der geizige Bei schlug die Hände zusammen. Vor Schreck sträubten sich ihm die Haare. »Was soll mit ihm geschehen?« fragte der Neffe des Beis sein Weib. »Ich will ihn zusammen mit dem Sklaven, der dich ins Unglück stürzte, und mit dem Dieb, der dich in die Sklaverei verkaufte, hinrichten lassen.«

»Nein«, entgegnete die schöne Frau. »Sie haben ihre Verbrechen bereut, und ich verzeihe ihnen. Mögen sie gehen, wohin sie wollen.« Den Hirten aber, der die Frau unter dem Steinhaufen ausgegraben und ihr das Leben gerettet hatte, belohnte sie reich. Alsdann gab sie ein großes Fest, das vierzig Tage und vierzig Nächte währte.