[swahili, "Geschichte, Legende"]

Ein sonderbarer Name

Es war einmal ein Vater, der hatte drei Söhne - die zwei ältesten von der ersten Frau, den jüngsten, Aspan, von der zweiten. Obgleich Aspan gutmütig, klug und nachgiebig war, hatten ihn die Brüder von Kind an nicht gern. Viele ungerechte Beleidigungen, Puffe auch Spötteleien musste der Kleine hinnehmen, oft weinte er im Stillen, beklagte sich aber nie beim Vater, wünschte oder tat den Brüdern niemals etwas Schlechtes.

Tage und Monate vergingen, die Kinder wuchsen heran, der Vater wurde älter. Nach seinem Tod teilten die älteren Brüder zwischen sich alles, was der Vater erworben hatte, dem Jüngsten ließen sie nur die alte Jurte und ein paar Schafe. »Wenn die Kuh aus dem Eisloch Wasser trinkt, leckt das Kalb das Eis«, sagten sie höhnisch zu Aspan. Der junge Bursche aber stritt und zankte nicht mit den Brüdern. »Werde mich schon irgendwie durchschlagen«, sagte er sich. »Ein reines Gewissen ist mehr wert als aller Reichtum.«

Nach einiger Zeit warf Aspan ein Auge auf ein armes Mädchen, heiratete es und lebte mit seiner jungen Frau in Liebe und Eintracht.

Ein Jahr verging. Eines Tages riefen die Brüder den Jüngsten zu sich und sprachen: »Uns hat über das ›lange Ohr‹ die Kunde erreicht, dass in der Hauptstadt die Bullen teurer geworden sind. Wir wollen eine Herde zum Verkauf dorthin treiben. Hilf uns, unterwegs mit den Bullen fertig zu werden. Geht der Handel gut aus, erhältst du einen Wallach.«

»Danke für das Versprechen, liebe Brüder«, antwortete Aspan, »aber ich will euch auch gern ohne Geschenk helfen.«

»Das ist fein!« Die Brüder blinzelten sich verschlagen zu. »Wenn du keinen Lohn willst, dann ist es umso besser. Der Vater hat dich nicht umsonst für dein gutes Herz gelobt. Rüste dich auf den Weg. Im Morgengrauen ziehen wir los.«

Am Morgen nahm der Dshigit Abschied von seiner Frau. Sie umarmte ihn, weinte und sprach: »Möge deine Reise glücklich sein, mein Sonnenschein! Kehre wohlbehalten heim. Wenn du wiederkommst, erwartet dich dein Erstgeborener in der Wiege.« Aspan musste sich in der Steppe arg mit den Bullen plagen, denn die älteren Brüder hatten ihn ja nur deshalb mitgenommen, um weniger Arbeit und Mühe zu haben. Doch wenn der Jüngste an die Worte seiner Frau vom Erstgeborenen dachte, vergaß er die Müdigkeit, den langen Weg und hielt sich für den glücklichsten Menschen unter der Sonne.

Endlich gelangten die Brüder in die Hauptstadt. In der Nähe des Basars mieteten sie sich in eine Viehhürde ein und schlugen hier ihr Nachtlager auf. Kaum hatten sie alles besorgt, da hörten sie Pferdegetrappel, und ein Trupp von Leibwächtern des Khans kam auf die Viehhürde zugeritten. »Heda, ihr Kaufleute«, sagte der Anführer des Trupps, »lasst eure Bullen und folgt uns. Wir sollen euch zum Khan bringen.« Den älteren Brüdern hämmerte das Herz vor Angst, der jüngere aber beruhigte sie: »Wir haben nichts Böses getan, und der Khan wird uns nichts antun. Seid nur ehrerbietig zu ihm und antwortet gescheit auf seine Fragen.«

Und wirklich, als die Brüder in den Palast geführt wurden, empfing der Khan sie gnädig und sprach ohne Strenge: »Jeder Monat hat seine Gräser, jeder Ort seine Gebräuche. Wir haben folgenden Brauch: Jeder, der in unsere Hauptstadt kommt, um mit etwas zu handeln, muss vor den Khan treten und das Rätsel raten, das ihm aufgegeben wird. Wer das Rätsel rät, wird belohnt und darf Handel treiben, wer das Rätsel nicht rät, wird aus der Stadt gejagt. Bereitet euch also auf die Prüfung vor.«

»Wir sind verloren«, flüsterten sich die älteren Brüder zu. »Verlasst euch nur auf mich«, sagte Aspan kaum hörbar. »Nun hört die drei Rätsel, antwortet dem Alter nach«, fuhr der Khan fort. »Das erste: ›Höher als das Pferd und niedriger als der Hund‹, was ist das? Das zweite: ›Von Lebendigem wird Totes geboren, von Totem - Lebendiges‹, was ist das? Das dritte: ›In einem Nest vierzig Falken‹, was ist das?«

Während die älteren Brüder die Stirn runzelten und die Augen aufrissen, trat der Jüngste vor: »Großer Khan, erteile mir das Wort, ich habe schon alle drei Rätsel erraten.«

»Das kann nicht sein!« staunte der Khan. Der Dshigit sagte: »›Höher als das Pferd und niedriger als der Hund‹ - das ist der Sattel, nicht wahr, Tachsyr, mein Gebieter? ›Von Lebendem wird Totes geboren‹ - das ist das Ei, und ›Von Totem wird Lebendiges geboren‹ - das ist das Kücken. ›In einem Nest vierzig Falken‹ - das sind die Pfeile im Köcher.«

»Erraten!« rief der Khan. »Wenn du noch drei Fragen beantwortest, erhältst du von mir eine kostbare Gabe.«

»Ich höre, Tachsyr, mein Gebieter!« sagte Aspan bereitwillig. »Welches ist der schwerste Stein?« fragte der Khan. »Jener, der uns auf den Kopf fällt, mein Khan.«

»Richtig! Und was ist spitzer als das Schwert?«

»Die Zunge ist spitzer als das Schwert.«

»Stimmt! Und was weiß kein einziger Mensch auf der Welt?«

»Keiner, nicht einmal der Weiseste unter den Weisen weiß, was ihm im nächsten Augenblick zustößt.«

Der Khan betrachtete bewundernd den Dshigiten. »Groß ist dein Verstand, Jüngling. Sage mir doch, woher du kommst und wie du heißt. Vielleicht werde ich dich noch brauchen.« Nachdem der Khan die Antwort gehört hatte, befahl er seinem Großwesir, Aspan auf der Stelle einen Beutel Gold zu geben, zu den älteren Brüdern aber sagte er: »Obgleich euch der Verstand nicht reichte, die Rätsel zu raten, dürft ihr um eures jüngeren Bruders willen so lange in der Hauptstadt bleiben, bis ihr euer Vieh verkauft habt.« Die Brüder dankten dem Khan, und die Wache begleitete sie zur Viehhürde, wo die Bullen friedlich wiederkäuten. Die Brüder konnten die ganze Nacht kein Auge zutun: Der jüngste vor Freude über so viel Glück, die älteren vor Neid auf dessen Verstand und die reiche Gabe des Khans.

In der Morgendämmerung wurde es laut auf dem Basar. In kurzer Zeit verkauften die Brüder alle Bullen mit großem Erlös und verließen die Mauern der Stadt. In der menschenleeren Steppe teilten die beiden Älteren den Erlös untereinander auf, der Jüngste aber sagte: »Liebe Brüder, lasst mich zu eurem Geld so viel von der Gabe des Khans hinzugeben, dass wir drei gleich viel Gold haben.« Die älteren Brüder nahmen ohne Scham das Geld. Aspans Großmut stillte nicht ihre Gier, sondern entfachte sie. Sie wollten alles Gold aus dem Beutel des Khans besitzen. Sie blieben absichtlich ein Stück zurück und schmiedeten einen Plan: »Wir bringen Aspan um und sagen, er sei bei der Rast von einer Schlange gebissen worden. Es gibt keine Zeugen, wer kann uns überführen?« Sie zogen ihre Messer und gaben den Pferden die Sporen.

Als Aspan sie mit den gezückten Messern sah, redete er auf die Neider ein, sich seiner zu erbarmen. »Brüder, wozu braucht ihr mein Blut?« sagte er. »Nehmt das Geld, aber lasst mir mein Leben. Das Feuer in meiner Jurte darf nicht erlöschen.« Die Bösewichte aber beantworteten sein Reden nur mit Lachen: »Das sagst du jetzt! Wir erbarmen uns deiner, du aber verrätst uns beim Khan. Der lässt uns hinrichten, und du erhältst all unser Hab und Gut. Nein, auch wenn du sehr klug bist, uns führst du nicht an der Nase herum.« Verzweifelt sagte der jüngere Bruder: »Nun, wenn ihr kein Erbarmen kennt, tötet mich. Aber erfüllt mir wenigstens meine letzte Bitte.«

»Was erbittest du von uns?«

»Wenn ihr heimgekehrt erfahrt, dass mir ein Sohn geboren wurde, sagt meiner Frau, sie soll ihn Karaul nennen. Das ist mein letzter Wille...« Die Brüder lachten: »Diese Bitte kann uns nicht zum Schaden gereichen. Es soll sein, wir versprechen dir, deinen Wunsch zu erfüllen.« Und sie erhoben die Messer gegen den leiblichen Bruder...

Zehn Jahre vergingen. Der Khan war älter geworden, aber noch im Besitz seiner Kräfte. Sein Großwesir dagegen war schon sehr gealtert und konnte seinem Herren weder mit Rat noch mit Tat dienen. Da erinnerte sich der Khan an den weisen Jüngling, der ohne Zaudern sämtliche Rätsel geraten hatte, und er entschloss sich, ihn an seinen Hof zu holen und zum Großwesir zu ernennen. Der Khan hieß die Pferde satteln und ritt mit einem großen Gefolge in die Steppe, dorthin, wo nach seiner Vermutung Aspans Sippe ihr Lager aufgeschlagen hatte. Die Suche dauerte lange.

Eines Tages kamen die Reiter in einen Aul und hörten von weitem eine Frau schreien: »Karaul! Karaul!«

»Mir nach!« Der Khan schwang die Peitsche. »Dort wird einer Frau Schimpf angetan. Eilen wir ihr zu Hilfe!« In vollem Galopp ritt er los. Als nun plötzlich der Khan und die vielen bewaffneten Reiter vor der Frau standen, zitterte sie vor Entsetzen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Der Khan fragte sie gütig: »Liebe Frau, was ist geschehen? Warum schreist du um Hilfe? Wer hat dir etwas angetan?« Die Frau, die sich allmählich fasste, antwortete: »Großmächtiger Khan, keiner hat mir etwas angetan. Mein Sohn heißt Karaul. Er ist mit den anderen Jungen in die Steppe gelaufen, und ich rief ihn zum Mittag.«

Der Khan wunderte sich: »Was für ein sonderbarer Name! Den höre ich zum ersten Mal. Wie kamst du und dein Mann auf den Gedanken, den Sohn so zu nennen?« Und die Frau erzählte dem Khan, wie sich ihr Mann vor zehn Jahren mit seinen zwei Brüdern zum Handel in die Hauptstadt begab, auf dem Rückweg aber von einem Schlangenbiss starb und vor seinem Tode darum bat, seinen Erstgeborenen Karaul zu nennen. Der Khan sann nach. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Unruhe ab. »Sage mir, wie hieß dein Mann? Doch nicht etwa Aspan?«

»Ja, er hieß Aspan«, antwortete die Frau. »Nun gibt es keinen Zweifel mehr!« rief der Khan aufgebracht. »Nicht vom Gift der Schlange, sondern von der Arglist der Menschen starb ein weiser und edler Mensch. Als er darum bat, dem Sohn den Namen Karaul zu geben, schickte er im entscheidenden Augenblick die Kunde von seinem schrecklichen Los aus. Sag mir nun zu guter Letzt, ob dir die beiden Mörder, die Brüder, das Gold gegeben haben, das Aspan gehörte?«

Die Frau stand fassungslos da: »Vergib mir einfältigen Frau, dass ich nicht verstehe, wovon du sprichst, großmächtiger Khan. Wir besaßen nie einen Groschen und jetzt erst recht nicht. Die Brüder meines Mannes haben mir das letzte Vieh genommen, das mir vom Schwiegervater blieb.« Der Khan geriet in großen Zorn. »Die Mörder vorführen!« Man brachte die Brüder. Sie begriffen schnell, dass Leugnen und Lügen sinnlos waren, und sie gestanden ihr Verbrechen. Der Khan befahl, sie an den Ort ihrer Missetat zu bringen und ihnen dort die Köpfe abzuschlagen und alles, was sie Aspan geraubt hatten, seiner Witwe zurückzugeben.

Unterdessen kam Karaul aus der Steppe. Er wollte sich schon auf die Mutter stürzen, aber der Khan rief ihn herbei, fasste ihn an den Schultern und fragte: »Karaul, kannst du Rätsel raten?«

»Kann ich«, antwortete der Junge unbefangen. »Dann sage: ›Ein bunter Arkan reicht von Hügel zu Hügel‹ - was ist das?«

»Der Regenbogen«, sagte der Junge, ohne nachzudenken. Der Khan lächelte und strahlte: »Das lob ich mir! Du hast den Verstand deines Vaters. Ich nehme dich mit in meinen Palast. Du sollst Unterricht erhalten und mir dienen. Wenn du groß bist und die Wissenschaften beherrschst, ernenne ich dich zum Wesir.«

Karaul schmiegte sich an die Mutter und sprach: »Tachsyr, mein Gebieter, hast du denn nicht Diener genug? Findet sich denn in unserem Volk kein weiserer Ratgeber als ein barfüßiger Junge? Meine Mutter aber hat nur einen Diener, nur einen Ratgeber, nur einen Gefährten nach dem Tod des Vaters, und der bin ich. Erlaube mir, bei der Mutter zu bleiben!« Der Khan fand keine Worte der Entgegnung.