[swahili, "Geschichte, Legende"]

Ein Bei ist eines Ischans wert

Ein armer Bursche entbrannte in Liebe zur Tochter des Beis, und auch sie gewann den Burschen von Herzen lieb. Als der Bei davon erfuhr, rief er den Armen und sprach: »Du willst dich mit meiner Tochter vermählen, denkst jedoch nicht daran, dass du für sie ein hohes Brautgeld zahlen musst. Dabei bist du so arm, dass man deine Kibitka auf ein Huhn laden und wegfahren kann. Doch ich will mich dem Wunsch meiner Tochter nicht widersetzen und gebe sie dir zum Weib. Nur gelte eine Bedingung: Du musst bei mir fünf Jahre unentgeltlich arbeiten, das mag das Brautgeld sein für mein Kind.« So arbeitete der arme Jüngling, ohne seine Kräfte zu schonen, für den Bei.

Als die fünf Jahre abgelaufen waren, sprach der Bei: »Während du fürs Brautgeld gearbeitet hast, hat sich der Sohn eines Beis in meine Tochter verliebt. Drum habe ich es mir anders überlegt und gebe sie dir nicht zum Weib. Doch deine Mühen sollen nicht umsonst gewesen sein. Ich will ein passendes Mädchen für dich suchen, aber unter einer Bedingung: Da ich das Brautgeld zahlen muss, sollst du noch weitere drei Jahre für mich arbeiten.« Den Jüngling übermannte der Zorn: »Ich habe fünf Jahre lang unentgeltlich für dich gearbeitet. Halte also auch du dein Wort und gib mir deine Tochter zur Frau.« Der Bei jagte den Jüngling vom Hof. Der beschloss, in die Fremde zu gehen.

Über kurz oder lang kam er in eine Stadt und erblickte eine Menschenmenge, die sich um zwei streitende Männer drängte. Einer der Streitenden schrie: »Weshalb hast du ein Stück von meinem Land eingezäunt?« Schrie der andere: »Das ist mein Land!« Die Leute liefen zum Ischan, auf dass er den Streit schlichte. Der Ischan kam und sprach zu den Streitenden: »Lohnt es, sich um eine Handvoll Erde zu streiten, da ihr beide doch sterben müsst und selbst zu Erde werdet.« Und er nahm eine Handvoll Staub von der Erde und streute sie in den Wind.

Nachdem der Ischan den Streitenden diese Lehre erteilt hatte, begab er sich in die Moschee. Da der heimatlose Jüngling nicht wusste, wo er nächtigen sollte, folgte er ihm in der Hoffnung, der Ischan würde ihm Obdach gewähren. Die Moschee stand unweit einer Wassermühle. Als der Ischan die Moschee betrat, sank er in die Knie und begann zu beten. Es war bereits dunkel, und der Jüngling dachte: Nach dem Abendgebet geht der Ischan heim, dann will ich ihn bitten, mich im Hof übernachten zu lassen. Doch der Ischan schien auf jemanden zu warten und traf keine Anstalten, fort zu gehen. Da schlich sich der Jüngling in die Moschee und verbarg sich dort.

Nach einiger Zeit kamen Menschen mit einer schweren Traglast in die Moschee. »Sagt, was habt ihr heute gebracht?« fragte der Ischan. »Die Tochter des Padischahs, wie du befohlen hast«, erwiderte einer der Leute. »Leitet rasch das Wasser von der Mühle ab«, befahl der Ischan. Die Leute erfüllten seinen Befehl. Als das Wasser abgelaufen war, erblickte der Jüngling auf dem Grund eine Steinplatte. Mehrere Leute hoben sie an. Darunter aber war der Eingang zu einem unterirdischen Gelass. Die Leute ließen die gefesselte Tochter des Padischahs hinab und anschließend mehrere Krüge Wein. Dann verschwanden sie mit dem »heiligen« Ischan im Kellergewölbe und verschlossen es von innen.

Morgens verließ der Ischan mit seinen Leuten das unterirdische Gelass und befahl, das Wasser in der Mühle wieder anzustellen. Als das getan war, legte der Ischan einen Turban an und eilte, ohne, wie es sich geziemte, das Gebet verrichtet zu haben, in die Moschee, wo sich schon die Gläubigen versammelt hatten. Dort hub der Ischan zu beten an, die Gläubigen taten es ihm nach und fielen auf die Knie.

Der Padischah schickte, als er hörte, dass seine Lieblingstochter des nachts entführt worden war, Boten in alle Himmelsrichtungen und ließ dem Volk verkünden, dass derjenige, der die Bösewichte, die seine Tochter entführt hatten, anzeigen und den Ort angeben würde, wo sie sie verborgen hielten, eine hohe Belohnung bekommen solle. Der Jüngling begab sich spornstreichs in den Palast und sagte zum Padischah: »Wenn du mir erlaubst, drei Tage zu regieren und meine Weisungen auch fürderhin in Kraft lässt, so will ich deine Tochter suchen und dir die Bösewichte überantworten, die sie entführt haben.« Der Padischah war einverstanden: »Sei's drum! Tu in diesen drei Tagen alles, was du magst, aber finde meine Tochter wieder. Ich will dich königlich belohnen, doch findest du sie nicht, so lass ich dir nach drei Tagen den Kopf abschlagen.«

Der Jüngling setzte sich auf des Padischahs Thron und befahl alsbald aus dem Pferdestall des Herrschers die besten Pferde zu führen, ließ die Jessaule aufsteigen und schickte sie in sein Heimatdorf, auf dass sie jenen Bei und dessen Tochter in den Palast brächten. Alsdann befahl er dem »heiligen« Ischan einen Strick um den Hals zu legen und ihn ebenfalls in den Palast zu führen. Die Jessaule erschreckte dieser wahnwitzige Befehl, doch der Padischah bedeutete ihnen: »Tut, wie er euch geheißen!« Drauf warfen die Jessaule dem Ischan den Henkerstrick um den Hals und schleppten ihn in den Palast. Derweilen versammelten die Boten, wie ihnen der Jüngling befohlen hatte, alle Eltern, deren Töchter verschwunden waren, an der Mühle.

Als derart alles vorbereitet war, sprach der Jüngling zum Padischah: »Möge der Ischan die Stelle an der Mühle zeigen, wo man das Wasser ableiten kann.« Das erstaunte den Padischah und er begab sich mit dem Jüngling zur Mühle, um selbst zu sehen, wie der Ischan das Wasser ableiten würde. Der Ischan, der glaubte, einer seiner Mittäter hätte ihn angezeigt, verriet seinerseits alle anderen und leitete das Wasser aus dem Mühlbach eigenhändig ab, denn er hoffte dadurch auf Gnade. Als der Grund zu sehen war, befahl der Jüngling, die Steinplatte anzuheben, und alle betraten das unterirdische Gewölbe. Hier erblickten sie im Schein der Fackeln eine Vielzahl abgezehrter Mädchen. Die einen waren furchtbar gealtert, andere aber hatten sich so verändert, dass ihre Eltern sie kaum wieder erkannten.

Als der Padischah seine Lieblingstochter erblickte, befahl er also gleich den »heiligen« Ischan zu henken, gab den versammelten Eltern ihre Töchter zurück und führte sein eigenes Kind in den Palast. Die glücklichen Eltern wussten vor Freude kaum, welchen Ehrenplatz sie dem Jüngling zuweisen könnten, der noch vor einigen Tagen nicht einmal eine Stelle gefunden hatte, wo er sein müdes Haupt zur Nacht hätte hinbetten können. Inzwischen kehrten die berittenen Jessaule zurück und brachten den Bei und seine Tochter mit. Als der Jüngling sie erblickte, sagte er zum Padischah: »Meine drei Tage sind noch nicht verstrichen, so dass ich noch befehlen darf. Ich will einen nichtswürdigen Betrüger bestrafen.« Und er befahl den Bei an einem Galgen gemeinsam mit dem Ischan und dessen Komplizen zu henken. Alsdann vermählte sich der Jüngling mit seiner Liebsten, und das Hochzeitsgelage währte vierzig Tage und vierzig Nächte.