[swahili, "Geschichte, Legende"]

Drei Fladen

Eines Morgens mahlte die Alte Gerstenmehl in der Handmühle, rührte Sauermilchteig an und entfachte das Feuer im Tamdyr. Alsdann buk sie drei lockere Fladen. Sie bestrich sie mit Baumwollöl, legte sie in ein Schüsselein, band sie ein sauberes Tüchlein ein und zog sich die Itschigen an. »Wohin willst du, Edshe-dshan?« fragte Jarty-gulak. Die Mutter antwortete: »Will Vater das Mittagessen aufs Feld bringen.« Begann Jarty zu betteln: »Geh nicht! Ich will ihm selbst das Essen bringen.« Doch die Mutter widersprach: »Dafür bist du noch zu klein!« Jarty lachte: »Ich bin klein, aber hurtig! Hab keine Sorge, Vater wird das Mittagsmahl zur rechten Zeit bekommen.« Die Mutter musste ebenfalls lachen und war es zufrieden, denn sie hatte noch viel in der Wirtschaft zu bestellen. Zum Abschied ermahnte sie Jarty: »Mach aber unterwegs keine Dummheiten, Jungchen, und verweile dich nirgends, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Komm auch rasch zurück.« Doch nicht umsonst sagen die Leute: »Trägst du einem Kind etwas auf, so schau achtsam nach ihm aus.«

Behände stellte sich Jarty-gulak das Bündel mit den Fladen auf den Kopf und wanderte geschwind zum Feld. Dabei sang er sich ein fröhliches Liedchen: »Ich bin klein, aber mutig.
Am stärksten von allen bin ich!
Ich bin klein, aber mutig,
Am hurtigsten von allen bin ich!«
So schritt er fürbass und blickte sich neugierig nach allen Seiten um, denn rundum war vieles, was Jarty noch niemals im Leben gesehen hatte: Mal kroch ein Käfer vorbei, mal flog ein Schmetterling dahin, mal jubilierte ein Vogel hoch oben am Himmel.

Doch wer in die Luft guckt, der achtet nicht darauf, wohin die Füße gehen: Jarty stolperte und fiel in eine kleine Grube. Einem anderen an Jartys Stelle hätte das nichts ausgemacht, er wäre aus der Grube herausgeklettert und weitergegangen. Doch wie sollte Jarty-gulak sich aus der Grube helfen, wenn er nicht größer als ein halbes Kamelohr war! Für ihn war das nicht eine kleine Grube, sondern ein tiefer Brunnen. Nun ist's ja schlecht um mich bestellt, überlegte der Knabe, als er auf dem Boden der Grube saß, und untersuchte als erstes, ob die Schüssel auch heil geblieben war. Die Schüssel mit den Fladen war in den weichen Sand gefallen und nicht zersplittert. Jarty bot all seine Kräfte auf, wälzte sich das Bündel auf die Schultern und begann nach oben zu klettern. Doch der Sand rieselte unter seinen Füßen, und Jarty rutschte ab. Er hielt sich mit beiden Händen an den Wurzeln fest, die aus dem Erdreich ragten. Doch sie schnitten ihm in die Hände. Die dünnen rissen ab, und Jarty rutschte abermals rückwärts in die Grube. So sehr Jarty sich auch mühen mochte, hinauszukrabbeln, die schwere Bürde drückte ihn immer wieder nach unten! Miteins vernahm er Pferdegetrappel. Ein Dshigit galoppierte daher und sang ein fröhliches Lied: »Mein Ross, mein liebes Ross,
Bist schlanker als die Antilop'!
Mein Ross, mein schlankes Ross,
Bist stärker als der Leopard!
Mein Ross,
Dein Bruder ist wie der Steppenwind so stark!«
Das Hufgeklapper näherte sich. Jarty sah aus der Grube und gewahrte zwei Schritte von sich entfernt einen Reiter. »Onkel Dshigit!« rief Jarty. »Halt an, ich bitte dich! Dir ist es ein leichtes, mein Bündel aus der Grube zu ziehen, ich aber werde es wohl bis zur Nacht nicht schaffen.« Doch der Reiter hörte nicht einmal Jarty-gulaks zartes Stimmchen und galoppierte vorbei. So blieb Jarty weiter in seiner Grube sitzen. Da vernahm er ein anderes Liedchen: »Will eine zarte Feder sein.
Will eine Aprikosenblüte sein.
Will ein rascher Windsturm sein
und in ferne Berge wehen allein...«
Abermals sah Jarty aus der Grube und erblickte ein kleines Mädchen. Es marschierte den Weg entlang, sang sich ein Lied und trieb einen beladenen Maulesel vor sich her. »He, kys-dshah! Liebes Mädchen!« schrie Jarty-gulak so laut er konnte. »Hilf mir, nimm mir meine drei Fladen ab! Die Sonne steht schon hoch am Himmel, mein Vater aber hat noch nicht zu Mittag gegessen!« Doch das kleine Mädchen erschreckte die Stimme, die sie so laut aus der Erde anrief. Den kleinen Knaben aber konnte sie im Straßenstaub nicht sehen. Sie schrie ängstlich auf und rannte davon, so schnell sie ihre Füße trugen. Der Maulesel trabte hinterdrein. Jarty war abermals mutterseelenallein. Allmählich fand er es sehr langweilig, so verlassen in der Sandgrube zu sitzen. Wenn ich mich nicht verweilt hätte, überlegte der Knirps, dann wäre ich schon längst auf dem Feld, und mein Vater hätte seine Fladen bekommen.

Da kam abermals jemand des Weges: Ein dicker Kaufherr wiegte sich auf dem Buckel eines weißen Kamels und summte mit verschlafener Stimme vor sich hin: »Sonne wirft goldene Strahlen zur Erde,
Ai-ai-ai, weshalb streut sie kein Gold aus?
Mond wirft silberne Strahlen zur Erde,
Ai-ai-ai, weshalb streut er kein Silber aus?
Wolke treibt Diamantenregen zur Erde,
Ai-ai-ai, weshalb streut sie keine Diamanten aus?
Würde alles einfangen,
Würde großen Reichtum erlangen!«
Jarty hatte sein Wohlgefallen an dem herrlichen Kamel, das mit einer bestickten Decke geschmückt war, und lauschte andächtig dem Klang der silbernen Glöckchen, die an seinem Halse bimmelten. Als der Kaufherr auf gleicher Höhe mit dem Knaben war, wandte sich der Knirps achtungsvoll an ihn: »Aga-bei, strecke bitte deine Hand aus und hebe meine Traglast aus der Grube. Glaube mir, sie ist für dich sicher nicht schwer.« Doch der Kaufherr würdigte Jarty-gulak keines Blickes und fragte mit einer Stimme, süßlich wie Weintraubensirup: »Was zahlst du mir für diesen Dienst, mein Junge?« Jarty erzürnte der geizige Kaufherr derart, dass er kein einziges Wort erwiderte. Der Kaufherr ritt weiter, die Glöcklein bimmelten, Jarty aber dachte im Stillen: Sieben Gedanken, ein Kopf! Ich muss allein das Bündel aus der Grube ziehen, sonst bekommt Vater das Mittagsmahl erst bei Sonnenuntergang.

Wenn es dir an Kraft gebricht, rufe den Verstand zu Hilfe. Der Knirps nahm seinen wollenen Kuschak, zerriss ihn der Länge nach und wand ihn zu einem kräftigen Strick. An einem Ende knüpfte er das Bündel fest, das andere Ende klemmte er sich zwischen die Zähne und kletterte nach oben. Es heißt nicht von ungefähr: Auch der längste Weg nimmt einmal ein Ende. Nun, da das Bündel dem Knirps nicht mehr auf den Schultern lastete, fiel es ihm viel leichter, aus der Grube zu klettern. Jarty bot all seine Kraft auf und stand bald auf dem Weg. Er sah sich um und bemerkte nicht weit ein weißes Lämmchen. »Wach, wach! Wenn man kein Pferd hat, kann man auch auf einem Maulesel reiten!« rief das Knäblein aus.

Er schlang dem Lämmchen den Strick um die Beine, suchte sich ein langes Reis und trieb das Lämmchen mit lauten Rufen von der Grube fort. Das Lämmchen erschrak, begann kläglich zu mähen und lief davon. Aber wir wissen ja, dass der Strick an seinen Hinterlauf geknüpft war, am Strick aber hing das Bündel mit den Fladen. Das Lämmchen lief los und zog es aus der Grube. »Hab Dank!« Jarty verneigte sich tief vor dem Lämmchen und knüpfte den Strick von seinem Lauf. Das Lämmchen lief davon, Jarty gürtete sich wieder den Kuschak um, stellte sich das Bündel auf den Kopf, richtete sich auf und ging aufs Feld, als sei nichts geschehen. Dabei sang er ein fröhliches Liedchen vor sich hin: »Ich bin klein aber mutig.
Am stärksten von allen bin ich,
Ich bin klein aber mutig,
Am hurtigsten von allen bin ich.«
Der Knabe war fast an des Vaters Feld angelangt, als miteins über seinem Kopf lautes Gekrächze anhob. Jarty blickte auf und entdeckte einen Feind: Der schwarze Rabe der Wüste kreiste über seinem Kopf. Geräuschvoll schlug er mit den Schwingen und zog immer niedrigere Kreise über der Erde. Jarty versuchte zu fliehen. Aber es ist gar nicht leicht, einem Feind zu entkommen, wenn man auf seinem Kopf eine schwere Bürde trägt. Fast hätte der Vogel Jarty eingeholt. Da duckte sich der Knabe ins hohe Gras und schlug, um dem Vogel zu entkommen, Haken: Er lief mal nach rechts und mal nach links. Doch das abscheuliche Krächzen kam immer näher. Der gierige Vogel riss schon den Schnabel auf, um seine Beute zu packen. Aber da hatte er sich vertan: Der hurtige Jarty ließ sich auf den Grund eines ausgetrockneten Aryks rollen und lief durch den schmalen Kanal geradewegs auf seines Vaters Acker. Es fiel ihm viel leichter, über den glatten Grund des Aryks zu laufen, als sich durch das dichte Gras einen Weg zu bahnen. Der Gegner blieb zurück.

Jarty eilte dahin wie von Flügeln getragen, er sah bereits den grünen Streifen des väterlichen Feldes vor sich und hätte vor Freude fast zu singen angehoben. Doch da tauchte ein neuer Feind vor ihm auf: Mit weit aufgerissenem Rachen preschte, grauenerregend knurrend, der struppige Bar dem Knaben entgegen. Dieser Köter war der Schrecken aller Kinder im Aul. Jarty setzte sich gleich hin vor Angst. Alsbald blieb der Hund reglos stehen. »Meine Fladen sind verloren!« schrie Jarty aus vollem Hals. »Wenn sie der schwarze Räuber nicht verzehrt hat, so kommen sie nun in den unersättlichen Rachen des Hundes!« Doch auch der Rabe war wieder da. Der Hund setzte sich abwartend auf die Hinterläufe, bereit, sich jederzeit auf Jarty-gulak und dessen leckere Bürde zu stürzen.

Doch der hurtige Jarty wusste sich zu helfen. Er warf sein Bündelchen auf die Erde, riss einen Fladen heraus und warf ihn dem Hund hin. Natürlich vollzog sich alles so, wie Jarty erwartet hatte: Der Hund sprang auf die Beute los, doch der Rabe kam ihm zuvor. Er packte den Fladen und schlug mit den Flügeln, um sich in die Lüfte aufzuschwingen, da tat der struppige Bar einen Riesensprung und packte den Vogel mit seinen Fängen. Der Rabe ließ den Fladen fallen und begann mit seinen scharfen Krallen auf den Gegner loszuhacken. Im nächsten Augenblick wälzten sich beide mit lautem Krächzen und drohendem Knurren auf dem Grund des Aryks. Jarty aber saß auf dem Rand des Grabens und ermunterte den Hund: »Fass, fass ihn! Gib dem Bösewicht nicht den Fladen!« Der Hund schüttelte den Feind nur noch wütender. Doch Jarty rief bereits dem Raben zu: »He, du langschnabliger Rabendieb! Willst du, König der Wüste, dich etwa von einem Hofköter besiegen lassen?!« also gleich hackte der Rabe noch grimmiger mit seinem scharfen Schnabel auf den Hund ein.

So rauften sie miteinander, Jarty knüpfte indessen sein Bündel fester und rannte geradewegs zu seinem Vater. »Ata-dshan! Ich habe dir Fladen zum Mittag gebracht!« rief der Knabe, als er den Vater sah. Der Alte ließ gerade Wasser in den Aryk strömen und lächelte seinem Sohn freundlich zu. Er wischte sich die Hände mit einem Grasbüschel, nahm Jarty das Bündelchen mit den Fladen ab, setzte sich den Knaben auf die Hand und sagte: »Da ist uns ein guter Sohn herangewachsen! Ehe wir es uns mit Mutter versehen haben, bist du zu einem echten Dshigiten geworden! Bedenke stets mein Sohn: Jedem Vater wird warm ums Herz, wenn er neben sich einen fürsorglichen Sohn weiß.« Dann machte sich der Alte daran, die lockeren Fladen aus Gerstenmehl zu verzehren und brach auch seinem Sohn ein kleines Stückchen ab. Niemals früher und niemals später hatte Jarty so schmackhafte Fladen verzehrt!