[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die weiße Taube

Es war einmal ein reicher Khan, doch er blieb kinderlos. So beschloss er eines Tages, auf Reisen zu gehen, um eine Arznei gegen die Unfruchtbarkeit ausfindig zu machen. Er sattelte sein Ross und machte sich auf den Weg. Der Khan ritt über seine eigenen Berge, dann ritt er über die benachbarten Berge und schließlich über ferne Berge, bis er in ein Tal gelangte. Als die Dämmerung hereinbrach, erblickte er eine armselige Hütte und ritt zu ihr. In der Hütte saß ein Greis, fahl wie der Vollmond. In den Händen hielt er einen Rosenkranz und ein heiliges Buch. Fragte der Greis: »Woher des Wegs, mein Sohn, und wohin soll die Reise gehen?«

»Ich reite durch die Welt auf der Suche nach einer Arznei gegen die Unfruchtbarkeit«, erwiderte der Khan. Der Greis holte einen Apfel aus der Tasche. »Nimm diesen Apfel, mein Sohn, und reite heim«, sagte er. »Teile ihn in zwei Hälften. Die eine Hälfte gib deiner Frau, die andere iß selbst. Dir wird ein Sohn geboren werden. Wenn er achtzehn Jahre alt ist, bringe ihn her zu mir.« Der Khan dankte dem Greis, nahm den Apfel und ritt zurück. Daheim teilte der Khan den Apfel, aß die eine Hälfte und gab die andere seiner Frau. Bald darauf wurde die Frau guter Hoffnung und schenkte drei Monate später einem schönen Knaben das Leben. Der Knabe gedieh nicht in Tagen, sondern buchstäblich in Stunden. Nach einem Monat war er so groß, dass er wie ein einjähriges Kind wirkte. Mit fünf Monaten glich er einem Fünfjährigen, und als er zehn Jahre alt war, hielten ihn die Menschen für einen erwachsenen Jüngling.

An seinem achtzehnten Geburtstag brachte ihn der Khan an den Ort, wo er einst dem Greis begegnet war. »Bleib hier, mein Sohn«, sprach der Khan, »und suche dein Schicksal.« Mit diesen Worten begab sich der Khan auf den Heimweg und nahm das Ross des Sohnes mit. Als der Jüngling so mutterseelenallein zurückblieb, begann er sich zu fürchten. Er wanderte aufs Geratewohl los und gelangte bald zu einer großen Stadt am Ufer eines Sees. Gedankenverloren ließ sich der Jüngling unter einem Baum nieder. In der Dämmerung kam eine Witwe, um Wasser aus dem See zu schöpfen. Der Jüngling begann mit ihr ein Gespräch. Da sagte die Witwe: »Ich kenne den Greis, der dein Vater ist.« Der Jüngling sah erstaunt auf. »Wo kann ich den alten Mann finden?« Die Witwe entgegnete: »Er wird hierher kommen. Der Greis hat einundvierzig Töchter. Sie verwandeln sich in Tauben, fliegen hierher und baden in diesem See. Zuerst werden vierzig schwarze Tauben kommen. Sie werfen ihr Taubengewand ab und verwandeln sich in liebliche Jungfrauen. Als letzte kommt eine weiße Taube. Wenn sie ihr Federgewand abgeworfen hat, so verstecke es rasch. Das Mädchen wird dich anflehen, ihr das Kleid zurückzugeben. Sie wird dir erzählen, dass du der Sohn ihres Vaters und ihr Bruder bist. Doch erst wenn sie sagt: ›Ich will dich aus aller Not erretten‹, gib ihr das Taubengefieder zurück.«

Der Jüngling verbarg sich hinter einem Strauch und wartete. Da flogen vierzig schwarze Tauben herbei, warfen ihr Taubengewand ab und verwandelten sich in wunderschöne Jungfrauen. Sie gingen in den See, badeten, schlüpften wieder in ihre Taubengewänder und flogen davon. Dann kam eine weiße Taube. Sie warf ihr Gefieder ab, verwandelte sich in die schönste Jungfrau, die der Jüngling je gesehen haue, und badete. Der Jüngling packte das Taubengewand und versteckte es. Als die wunderschöne Jungfrau aus dem Wasser kam, konnte sie ihr Kleid nicht finden. Da erblickte sie den Jüngling und flehte ihn an: »Du bist der Sohn meines Vaters, bist mein Bruder, gib mir mein Kleid zurück.«

»Nein«, erwiderte der Jüngling. »Ich will dich aus aller Not erretten, nur gib mir mein Kleid zurück!« rief die Jungfrau. Da gab ihr der Jüngling das Gewand. »Du wirst mein, ich werde dein«, sprach die wunderschöne Jungfrau, verwandelte sich in eine Taube und flog davon. Den Jüngling freuten diese Worte über alle Maßen, denn er hatte die Jungfrau auf den ersten Blick lieb gewonnen.

Bald darauf stand der Greis vor dem Jüngling und fragte: »Woher des Wegs, junger Mann? Was führt dich hierher, und wohin willst du?« Als der Jüngling dem Greis erzählte, wer er sei, rief jener aus: »Du bist mein Sohn!« Der Jüngling wusste nicht, was er antworten sollte. Er sagte nur: »Wunderbar.«

»Komm mit zu mir«, sagte der Greis, und sie machten sich auf den Weg. Sie wanderten die ganze Nacht, und im Morgengrauen erblickten sie eine silberne Truhe. Der Greis öffnete sie. In der Truhe war eine Treppe. Vater und Sohn stiegen sie hinab. Unvermittelt wurde es taghell, und der Jüngling schaute eine wunderschöne Stadt. Das war das Reich des Greises. Hier wohnte er mit seiner Frau und seinen Töchtern.

Fünf Tage verwöhnte der Vater den Sohn, doch am sechsten rief er ihn zu sich und sprach: »Ich will dir drei Aufgaben stellen. Wenn du sie löst, bist du frei und kannst gehen, wohin du magst. Wenn nicht, lass ich dir den Kopf abschlagen.« Abends führte der Greis den Jüngling in ein Zimmer und befahl: »Morgen früh sollen auf der Schlosswiese tausend Tassen, tausend Untertassen mit tausend Löffeln stehen, und in einem Behälter soll Wasser für tausend Tassen Tee brodeln.« Der Greis verließ ihn. Der Jüngling setzte sich auf einen Schemel und sann nach. Er wusste nicht, was er tun sollte. Da erschien die weiße Taube und fragte: »Was für eine Aufgabe hat dir der Vater gestellt?« Als sie die Antwort vernahm, sagte sie: »Begib dich zur Ruhe! Es wird alles geschehen, wie er befohlen hat. Doch hüte dich, etwas von mir zu erzählen.«

Am Morgen kam der Greis. »Nun, hast du die Aufgabe gelöst?«

»Es steht alles bereit!« entgegnete der Jüngling. Der Greis traute seinen Ohren nicht und begab sich auf die Schlosswiese. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Sohn die Wahrheit gesprochen hatte, ließ er ihn aus dem Gemach und verwöhnte ihn fünf Tage. Am sechsten aber stellte er dem Jüngling die nächste Aufgabe. »Errichte auf der Wiese ein Schloss aus purem Silber und rundherum silberne Häuser.« Betrübt saß der Jüngling in seiner Kammer, als wiederum die Taube herbei flog und fragte: »Was hat Vater dir diesmal befohlen?« Als sie die Antwort hörte, sagte sie: »Sei nicht traurig! Es wird alles geschehen. Wenn der Vater fragt, so antworte, dass alles fertig ist. Aber denk dran: Sag kein Sterbenswörtchen über mich.«

Der Greis war aufs äußerte verwundert, als er hörte, dass auch seine zweite Aufgabe gelöst war. Fünf Tage verwöhnte er den Sohn. Am sechsten aber sprach er: »Auf der Wiese vor dem Schloss soll ein gesatteltes Pferd stehen, bereit zum Feldzug, mit Reitzeug aus purem Gold. Wenn du das nicht fertig bringst, werde ich dir den Kopf abschlagen lassen.« Verzweifelt saß der Jüngling in seiner Kammer, als die weiße Taube herbei flog und fragte: »Welche Aufgabe hat dir Vater heute gestellt?« Als sie die Antwort vernahm, sagte sie: »Sei getrost, Jüngling, es wird alles geschehen. Sage dem Vater nur, dass du all seine Aufgaben ehrlich gelöst hast, und bitte ihn um die Hand einer seiner Töchter. Der Vater wird dir die Augen verbinden und sagen: Wähle dir eine! Dann trittst du an jede heran und berührst unsere Ohrläppchen. Wir tragen nämlich alle Ohrringe. Ich aber werde nur einen anlegen.«

Der Greis war noch verblüffter als die beiden ersten Male, dass sein Sohn auch diese letzte Aufgabe gelöst hatte. »Nun möchte ich dich um etwas bitten«, sagte der Jüngling. »Gib mir eine deiner Töchter zur Frau!« Der Greis entgegnete: »Leg dich zur Ruhe! Morgen früh darfst du dir eine von ihnen auswählen.« Am nächsten Morgen rief der Greis seine Töchter, verband dem Jüngling die Augen und befahl: »Nun wähle!« Der Jüngling trat zu jeder Jungfrau und befühlte ihr Ohrläppchen. Bei der dreizehnten merkte er, dass sie nur einen Ohrring trug. »Gib mir diese zur Frau«, bat er den Greis und löste die Binde von seinen Augen. Der Greis willigte ein und richtete dem jungen Paar eine großartige Hochzeit.

Nach dem Festmahl sagte er zu dem Jüngling: »Wenn du willst, bleib mit meiner Tochter hier. Wenn nicht, ziehe mit ihr fort.« Es war schon spät. Die Jungvermählten begaben sich in ihr Schlafgemach, doch die junge Frau war in den Zauberkünsten bewandert und hörte, worüber die Alten miteinander redeten. Ihre Mutter war nämlich eine Hexe und erzählte ihrem Mann, dass die Tochter, die der Jüngling geehelicht hatte, ihm bei der Lösung der drei Aufgaben geholfen habe. Das erzürnte den Greis, und er beschloss, die Tochter zu töten. Als jene das vernahm, weckte sie ihren Mann. »Höre, Vater will uns töten!« Erschrocken rief der Jüngling: »Was sollen wir tun?«

»Geh in den Hof und sattle die Pferde! Ich habe noch einige Vorkehrungen zu treffen.« Der Jüngling ging die Pferde satteln. Seihe Frau aber legte einen Zauberbann über das Zimmer, so dass nach ihrer Flucht menschliche Stimmen daraus ertönten.

Früh am Morgen machten sie sich auf den Weg. Als der Greis erwachte, klopfte er an die Tür des Schlafgemachs. Aus dem Zimmer ertönte eine Stimme: »Ja, gleich, wir stehen auf.« Der Jüngling und seine junge Frau waren indes über alle Berge. Nach einer Weile klopfte der Greis erneut. Die Stimme antwortete: »Wir waschen uns.« Schließlich dauerte dem Greis das Warten zu lange, er öffnete die Tür und trat ein. Das Zimmer war leer. Kam seine Alte und sprach: »Schicke ihnen Verfolger nach!« Der Greis sammelte sein Heer, und sie setzten den Flüchtigen nach. Die junge Frau hörte die Verfolger aus der Ferne, verwandelte ihren Mann in ein Fuhrwerk und sich selbst in einen alten Bauern. So setzten sie ihren Weg fort. Bald darauf holte sie der Greis mit seinem Heer ein und fragte: »Ist dir nicht zufällig ein junges Paar begegnet?«

»Was gehen mich junge Leute an«, erwiderte der alte Bauer auf seinem Fuhrwerk. »Mein Urgroßvater liegt im Sterben, da will ich ihn noch einmal sehen.« Das Heer zog weiter, und die junge Frau verlieh ihrem Mann und sich die frühere Gestalt. Da der Greis und sein Heer die Flüchtlinge nirgends zu entdecken vermochten, machten sie schließlich kehrt. Als sie sich dem jungen Paar erneut näherten, verwandelte die junge Frau ihren Mann in einen Gärtner und sich selbst in eine Gurke. Der Greis fragte den Gärtner: »Hast du nicht zufällig ein junges Paar gesehen?«

»Was scheren die mich«, gab der Gärtner zur Antwort. »Meine Gurken sind noch immer nicht reif.« So kehrte der Greis unverrichteterdinge heim. Die Alte empfing ihn mit lautem Gezeter. »Du Dummkopf! Dir ist ein alter Bauer auf einem Fuhrwerk begegnet - das waren die beiden. Dann hast du einen Gärtner vor seinem Gurkenbeet getroffen - das waren sie auch!«

Nun machte sich die Alte auf, um das junge Paar einzuholen. Sie musste einen weiten Weg zurücklegen, über nahe Berge und über ferne Berge. Schließlich machte sie an einer Quelle Rast. Die junge Frau aber legte ihr Ohr an die Erde und hörte alles. Sie riss sich ein Haar aus, schlug damit ein Zeichen und verwandelte sich in ein Meer. Ihrem Mann aber befahl sie: »Sammle goldene Muscheln auf dem Meeresgrund und verkaufe sie in der Stadt auf dem Basar.« Inzwischen war die Alte herbeigeeilt. Sie versuchte die Tochter mit süßester Stimme zu überreden. »Liebes Kind, kehre in unser Haus zurück!« Doch die Tochter erwiderte: »Ich mag nicht.« Da rief die Mutter wieder: »Kehre heim in das Haus deines Vaters!«

»Nein!« entgegnete die Tochter fest. »So bleib denn sieben Jahre lang ein Meer!«

Der Bann tat seine Wirkung. Sieben Jahre blieb die junge Frau in ein Meer verwandelt, der Mann aber fischte goldene Muscheln auf dem Grund und verkaufte sie in der Stadt. Eines Tages begegnete ihm ein anderes Mädchen, und er heiratete sie. Durch den Verkauf der goldenen Muscheln war der Jüngling reich geworden, lebte in Freuden und war dem Schicksal dankbar.

Die Jahre vergingen. Seine Frau gebar ihm einen Sohn und eine Tochter. Doch als sieben Jahre vergangen waren, verwandelte sich das Meer wieder in eine wunderschöne Frau. Die Verlassene zog durch die Welt auf der Suche nach ihrem Herzallerliebsten. Sie schlug mit einem Haar aus ihrem Zopf ein Zeichen, und vor ihr erstand eine Stadt. Dort ging sie zu einer alten armen Frau und bat sie um etwas zu essen. Die alte Frau stillte ihren Hunger und bot ihr ein Nachtlager an. Am nächsten Morgen besorgte sich die verlassene Ehefrau zwei sprechende Raben und ging, sie zu verkaufen. Zu ebendieser Zeit kamen die Kinder ihres ehemaligen Mannes auf den Basar. Als sie die sprechenden Raben erblickten, blieben sie lange vor ihnen stehen. Daheim erzählten sie von der Frau, die sprechende Raben feilbot, und baten den Vater, sie ihnen zu schenken. Der Vater ging auf den Basar und erkannte seine junge Frau. Aufs Neue empfand er eine so große Liebe zu ihr, dass er seine zweite Frau verließ und mit der ersten, der Taubenfrau, fortzog an einen fremden Ort. Dort lebten sie fortan in Liebe und Glück.