[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Schwester mit den neun Brüdern und der neunköpfige Drache

Es lebten einmal neun Brüder mit ihrer Schwester zu zehnt. Die Schwester heiratete, und so blieben die Brüder allein im Hause.

Einmal bat die Schwester ihren Mann, sie zu ihren Brüdern zu Besuch fahren zu lassen, sie hatte sich schon lange nach ihnen gesehnt. Ihr Mann spannte für sie ein Pferd an, sie nahm einen Napfkuchen und fuhr los. Sie kam an einen Wald. Da sieht sie: Ein neunköpfiges Ungeheuer jagt hinter ihr her. Als der Drache herangekommen war, sagte er: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch den Napfkuchen«, und sie warf ihn aus dem Wagen.

Sie war ein gutes Stück gefahren, bis der Drache den Napfkuchen verschlungen hatte. Doch da fing der Drache wieder an ihr nachzujagen. Als er herangekommen war, sagte er: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch ein Rad.«

Sie zog ein Rad von der Achse und fuhr mit drei Rädern weiter. Das neunköpfige Ungeheuer verschlang das Rad. Dann holte es sie wieder ein und sagte: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch das zweite Rad.«

Sie zog das zweite Rad von der Achse und fuhr auf zwei Rädern weiter. Der Drache machte sich daran, es zu zerbeißen. Und sie war schon ein gutes Stück gefahren, ehe das neunköpfige Ungeheuer sie wieder einholte. Sie sah, dass es wieder angerannt kam, und hörte den Drachen sagen: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch das dritte Rad.«

Sie nahm es ab und überließ es ihm. Der Drache fing wieder an, es zu zerknacken. Dann fuhr sie ein gutes Stück, bis sie sah: Wieder kam der Drache hinter ihr hergejagt. Und er sagte: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch das letzte Rad.«

Sie streifte es von der Achse ab und überließ es ihm. Jetzt wurde ihr das Fahren schwer, das Pferd musste den Wagen schleppen und schleifen. Der Drache kaute das Rad und verschlang es, holte sie wieder ein und sagte: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch den Wagen.«

Und sie überließ dem Drachen den Wagen, sie selbst aber ritt los, was das Pferd nur springen konnte. Der Drache kaute viel längere Zeit an dem Wagen, und sie ritt ein großes Stück Weges weiter. Sie sieht: Da kommt das neunköpfige Ungeheuer wieder hinter ihr her und sagt: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch das ganze Geschirr.«

Sie gab es hin und ritt los, was das Pferd nur springen konnte. Der Drache begann das Geschirr zu kauen. Als er es aufgefressen hatte, jagte er ihr wieder nach. Sie sah, dass er sie gleich erreicht hatte, und ließ das Pferd frei. Der Drache kam angerannt und sagte: »Jungfer, Jungfer, wohin fährst du?«

»Ich will meine Brüder besuchen.«

»Wir werden dich abschlachten!«

»Schlachtet mich nicht, ich gebe euch das Pferd.«

Sie überließ ihm das Pferd und lief zu Fuß weiter. Der Drache fraß das Pferd auf und begann wieder hinter ihr herzujagen. Als sie sah, dass der Drache angerannt kam, kletterte sie auf eine Eiche. Der Drache begann die Eiche durchzubeißen. Als sie sah, dass die Eiche schon fast durchgebissen war, sagte sie: »Wachs zu, wachse zu,
Hasenfett heile zu!«
Und die Eiche wuchs wieder zu. Da kam ein Kuckuck auf die Eiche geflogen. Sie streifte ihm ihren Ring auf einen Fuß und ließ ihn fliegen, damit er den Brüdern sagen sollte, sie möchten doch schnell kommen, um sie zu retten. Der Kuckuck flog zum Hause der Brüder, setzte sich auf das Fenster und fing an zu rufen: »Ihr Brüder neun, hört, kuckuck,
Die Schwester zehnte, kuckuck,
Im Eichenbaum sitzt, kuckuck,
Der Neunkopf beißt gleich, kuckuck,
Die Eiche ganz durch, kuckuck.«
Der älteste Bruder verjagte den Kuckuck und sagte: »Was plappert er da?« Da flog der Kuckuck auf das Fenster des zweiten Bruders und fing an zu rufen: »Ihr Brüder neun, hört, kuckuck,
Die Schwester zehnte, kuckuck,
Im Eichenbaum sitzt, kuckuck,
Der Neunkopf beißt gleich, kuckuck,
Die Eiche ganz durch, kuckuck,
Die Rosse sattelt, kuckuck,
Die Schwerter schleifet, kuckuck.«
Da verjagte auch der zweite Bruder den Kuckuck. Als der Kuckuck sah, dass sie nicht auf ihn hörten, da flog er zum Fenster des jüngsten Bruders, das offen stand, und warf von seinem Fuße den Ring in das Zimmer des Bruders. Da sahen die Brüder, dass es wirklich so war, wie der Kuckuck sagte. Sie sattelten die Pferde, nahmen die Schwerter und ritten los. Das neunköpfige Ungeheuer hörte ein dumpfes Dröhnen und sagte: »Jungfer, Jungfer, was donnert da so?« »Der liebe Wind weht, der liebe Wald braust,
Noch reiten nicht herbei die Brüder mein.«
Nach kurzer Zeit hörte der Drache in der Ferne wieder dumpfes Dröhnen. Wieder fragte er: »Jungfer, Jungfer, was donnert da so?« »Der liebe Wind weht, der liebe Wald braust,
Noch reiten nicht herbei die Brüder mein.«
Jetzt biss der Drache so hastig in die Eiche, dass sie gleich brechen musste. Da hörte er ein heftiges Donnern, hob einen seiner Köpfe und lauschte. Währenddessen stimmte sie den Sang an: »Wachs zu, wachse zu,
Hasenfett heile zu!«
Und die Eiche wuchs wieder zu. Von neuem begann der Drache zu beißen. Er biss und biss, und wieder hörte er es brausen. Er hob den Kopf und lauschte. Da hub sie wieder zu singen an: »Wachs zu, wachse zu,
Hasenfett heile zu!«
Die Eiche wuchs auch wieder zu. Der Drache begann wieder so heftig zu beißen, dass die Eiche aufs Neue anfing zu wanken, und die Schwester wäre fast aus der Krone geschleudert worden. Da sieht sie: Die Brüder kommen geritten. Der Drache fragt wieder: »Was dröhnt da so?« »Der liebe Wind weht, der liebe Wald braust,
Schon reitet heran der Brüder Schar.
Meine neun Brüderlein kommen schnell geritten,
Schlagen ab dir deine neun Köpfe.«
Da kamen die Brüder auch schon heran geritten. Sie sehen: Der Drache hat die Eiche gleich durchgebissen. Sie reiten an den Drachen heran und beginnen ihm die Köpfe abzuschlagen. Der erste Bruder hieb den ersten Kopf ab, der zweite den zweiten, der dritte den dritten, der vierte den vierten, der fünfte den fünften, der sechste den sechsten, der siebente den siebenten, der achte den achten, der neunte den neunten, und der Drache fiel tot zur Erde. Dann brachten die Brüder ihre Schwester nach Hause, alle feierten ein Fest, tranken und aßen, und sie erzählte ihnen ihre ganze Reise hierher. Nach sechs Monaten reiste sie wieder in das Land ihres Mannes. Doch sie fürchtete sich, allein durch denselben Wald zu gehen. Die Brüder begleiteten sie.