[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die schöne Rosenblüte

Ein König hatte vier Kinder, drei Mädchen und einen Knaben, und dieser sollte später einmal den Thron erben. Eines Tages sagte der König zum Prinzen: »Lieber Sohn, ich habe beschlossen, deine Schwestern mit dem erstbesten Manne zu verheiraten, der um zwölf Uhr mittags an unserem Palaste vorübergeht.« Nun kam um die Mittagsstunde zuerst ein Schweinehirt, dann ein Jäger und zum Schluss ein Totengräber vorüber. Der König rief alle drei herauf und sagte zum Schweinehirten, er wolle ihm seine älteste Tochter zur Frau geben, dem Jäger die zweite und die dritte dem Totengräber. Die Armen glaubten zu träumen. Doch sie merkten gar bald, dass der König nicht scherzte, sondern es ihnen in vollem Ernst befahl. Da antworteten sie verwirrt, aber erfreut: »Majestät, Euer Wille geschehe!«

Allein der Prinz, der besonders die jüngste Schwester zärtlich liebte, wollte an der Hochzeit nicht teilnehmen und ging in den Garten hinunter, der sich zu Füßen des Palastes ausdehnte. Und als nun der Priester im Hochzeitssaal die drei Schwestern segnete, erblühten auf einmal die schönsten Blumen im Garten, und aus einer weißen Wolke ertönte eine Stimme, die sprach: »Glücklich, wer einen Kuss von den Lippen der schönen Rosenblüte empfängt.« Den Prinzen überfiel ein Zittern, dass er sich kaum aufrecht halten konnte; er lehnte sich an einen Olivenbaum und weinte, weil er seine Schwestern verloren hatte, und blieb so viele Stunden in Gedanken versunken. Dann aber schüttelte er sich wie nach einem Traum und sprach zu sich selber: »Ich muss in die weite Welt ziehen und werde nicht ruhen, als bis ich einen Kuss von der schönen Rosenblüte erhalten habe.«

So zieht er und wandert dahin über Länder und Meere, über Berg und Tal, ohne je einem Menschen zu begegnen, der ihm Nachricht von der schönen Rosenblüte zu geben vermöchte. Drei Jahre sind seit seinem Auszug verflossen, da kommt er eines Tages aus einem Wald und schreitet ein schönes Tal entlang. Plötzlich steht er vor einem Palast, vor dem ein Brunnen springt, und da er durstig ist, beugt er sich nieder, um zu trinken.

Ein zweijähriges Kind, das neben dem Brunnen spielt, hat ihn kommen sehen; es beginnt zu weinen und ruft die Mutter. Als jedoch die Mutter den Prinzen erblickt, läuft sie ihm entgegen, schließt ihn in die Arme und küsst ihn mit den Worten: »Willkommen, schön willkommen, Bruder mein!« Im ersten Augenblick hatte der Prinz sie nicht erkannt, aber als er sie näher betrachtete, erkannte er seine älteste Schwester wieder, umarmte sie innig und rief: »Welch glückliches Wiedersehen, Schwester mein«, und der Freude war kein Ende. Die Schwester lud ihn in den Palast ein, der ihr gehörte, und führte ihn zu ihrem Gatten, der ihn freundlich begrüßte. Und alle drei küssten voller Liebe das Kind, welches die Ursache für all die Freude war, weil es die Mutter gerufen hatte.

Darauf erkundigte sich der Prinz nach den beiden andern Schwestern und erfuhr vom Schwager, es gehe ihnen gut und sie führten ein herrschaftliches Leben. Darüber wunderte er sich nicht wenig: doch der Schwager berichtete ihm, sein und der andern Schwäger Schicksal habe sich gewandelt, nachdem sie von einem Zauberer verzaubert worden seien. »Und könnte ich meine andern Schwestern nicht auch besuchen?« fragte der Prinz. Der Schwager erwiderte: »Wenn du immer in der Richtung gen Sonnenaufgang wanderst, kommst du nach einem Tag zu deiner zweiten und nach zwei Tagen zu deiner jüngsten Schwester.«

»Aber ich muss den Weg wählen, der zu der schönen Rosenblüte führt, und ich weiß nicht, muss ich dem Aufgang oder dem Untergang der Sonne entgegengehen?«

»Dem Sonnenaufgang natürlich; und das Glück ist dir doppelt hold: Einmal siehst du deine Schwestern wieder, und zum andern kannst du von der Jüngsten auch etwas über die schöne Rosenblüte erfahren. Bevor du jedoch von uns scheidest, möchte ich dir ein kleines Andenken überreichen.

Nimm diese Schweinsborsten. Solltest du in eine Gefahr geraten, aus der du dich allein nicht befreien kannst, so wirf die Borsten auf die Erde, und sie werden dir Hilfe bringen!«

Der Prinz steckte die Borsten ein, und nachdem er dem Schwager herzlich gedankt hatte, begab er sich wieder auf die Reise. Am Tage darauf gelangte er zum Palast der zweiten Schwester, wo man ihn mit großem Jubel empfing. Und auch dieser Schwager wollte ihm vor seiner Abreise ein Andenken geben, und da er Jäger gewesen war, schenkte er ihm einen Strauß Vogelfedern, wobei er ihm das gleiche sagte wie der erste Schwager. Der Prinz aber bedankte sich und zog seines Weges.

So gelangte er am dritten Tage zu seiner jüngsten Schwester. Sie nahm ihren Bruder, der sie von allen Schwestern am meisten geliebt hatte, mit noch größerer Freude und Zärtlichkeit auf als die andern, und ebenso tat ihr Mann. Dieser schenkte ihm zum Abschied einen Totenknöchel, indem er ihm den gleichen Rat gab wie die andern Schwäger. Die Schwester sagte ihm noch, die schöne Rosenblüte wohne eine Tagereise entfernt, er solle sich aber genauere Auskunft bei einem alten Weibe holen, dem sie früher einmal Gutes getan hatte. Und sie schickte ihn auf den Weg zu der Alten. Kaum war der Prinz am Wohnort der schönen Rosenblüte angelangt, welche die Tochter des Königs war, so lenkte er seine Schritte zu der Alten. Als diese hörte, er sei der Bruder der Dame, die ihr so viele Wohltaten erwiesen hatte, da nahm sie ihn auf wie ihren eigenen Sohn.

Zum Glück stand das Haus der Alten gerade gegenüber der Fassade des Königspalastes, an dessen Fenstern die schöne Rosenblüte fast jeden Morgen bei Sonnenaufgang erschien. Eines strahlenden Morgens nun lehnte sie wieder am Fenster, nur mit einem weißen Schleier bedeckt. Als der Prinz diese holde Blüte der Schönheit erblickte, war er so überwältigt, dass er gestürzt wäre, hätte ihn die Alte nicht festgehalten. Und da diese hörte, er habe es sich in den Kopf gesetzt, das Mädchen zu heiraten, so versuchte sie ihn mit allen Mitteln davon abzubringen. Sie erinnerte ihn daran, der König werde seine Tochter nur dem Manne zur Frau geben, der ein ganz bestimmtes Versteck erriete. Alle andern aber ließ er töten, und schon viele Prinzen hatten auf diese Weise ihr Leben lassen müssen. Aber er erwiderte nur, wenn er die schöne Rosenblüte nicht bekomme, so wolle er sterben.

Nun hatte ihm die Alte erzählt, dass der König für seine Tochter die seltensten Musikinstrumente anschaffe. So hört denn, was sich der Prinz da ausdachte! Er ging zu einem Hersteller von Klavizimbeln und sprach zu ihm: »Ich möchte ein Klavizimbel haben, das drei Stücke spielt, und jedes Stück muss einen Tag lang dauern; dann muss das Klavizimbel so gebaut sein, dass sich ein Mensch darin verbergen kann. Dafür zahle ich dir tausend Dukaten. Wenn das Instrument fertig ist, krieche ich hinein, und du musst das Zimbel unter dem Palast des Königs spielen lassen, und wenn es der König kaufen will, so verkaufst du es ihm unter der Bedingung, dass du es alle drei Tage abholen musst, um es wieder instand zu setzen.«

Der Instrumentenbauer war einverstanden und tat alles, was ihm der Prinz aufgetragen hatte. Der König kaufte das Klavizimbel in der Tat und ließ sich auf die Bedingung des Verkäufers ein. Dann ließ er das Instrument ins Schlafzimmer seiner Tochter bringen und sprach: »Schau, mein Töchterchen, was ich dir bringe! Es soll dir an keiner Unterhaltung fehlen; selbst wenn du zu Bett liegen musst und nicht schlafen kannst.«

Neben der schönen Rosenblüte schliefen ihre Hofdamen. Während nun in der Nacht alles in tiefem Schlafe ruht, schleicht der Prinz aus seinem Versteck im Zimbel und ruft leise: »Schöne Rosenblüte, schöne Rosenblüte!« Sie erwacht erschrocken und schreit: »Hofdamen, rasch herbei, es ruft mich jemand!« Die Damen laufen herbei und sehen niemand, denn der Prinz ist schnell wieder in seinem Instrument verschwunden. Dies wiederholte sich noch zweimal, und jedes Mal waren die Hofdamen herbeigeeilt, ohne jemanden zu entdecken. Da meinte die schöne Rosenblüte: »Dann habe ich wohl phantasiert. Wenn ich noch einmal rufe, so kommt auf keinen Fall.«

Der Prinz im Klavizimbel hatte alles genau verfolgt und auch diese Worte vernommen. Kaum sind die Hofdamen wieder eingeschlummert, so stellt er sich neben das Bett der Geliebten und flüstert: »Schöne Rosenblüte, gib mir doch einen Kuss, sonst muss ich sterben.« Am ganzen Leibe zitternd, ruft sie nach ihren Damen, doch infolge ihres Verbotes rührt sich keine von der Stelle. Da spricht sie zum Prinzen: »Du bist der Glückliche und hast gesiegt. Neige dich zu mir herab!« Und sie gibt ihm den Kuss, doch auf den Lippen des Prinzen bleibt eine herrliche Rose hängen. »Nimm diese Rose«, spricht sie, »und bewahre sie an deinem Herzen, sie wird dir Glück bringen.« Der Prinz verbarg sie an seinem Herzen und erzählte dann der Geliebten seine Geschichte von dem Zeitpunkt an, da er das Vaterhaus verlassen hatte, bis zu dem Augenblick, da er in ihre Kammer gedrungen war. Die schöne Rosenblüte freute sich herzlich und zeigte sich gern bereit, ihn zum Mann zu nehmen. Doch damit sie ihr Ziel erreichten, müsse er noch viele Schwierigkeiten überwinden, die ihm der König bereiten werde. Zuerst werde er den Weg erraten müssen, der in ein Versteck führe, wo der König sie mit hundert Hofdamen einschließen werde; dann müsse er sie unter den hundert Hofdamen herausfinden, die alle gleich gekleidet und obendrein verschleiert seien. »Doch über diese Schwierigkeiten«, meinte sie, »mach dir keine Gedanken, denn die Rose, die du mir von den Lippen gepflückt hast und die du ständig am Herzen tragen musst, zieht dich wie ein Magnet zuerst in das Versteck und dann in meine Arme. Doch der König wird dir noch andere Hindernisse, womöglich fürchterliche, in den Weg legen, und mit denen musst du allein fertig werden. Vertrauen wir auf Gott und auf unser Glück!«

Der Prinz ging unverzüglich zum König und bat ihn um die Hand der schönen Rosenblüte. Der König sagte nicht nein, stellte ihm aber die Bedingungen, von denen sie bereits gesprochen hatte. Er ging darauf ein und überwand die ersten Schwierigkeiten mit Hilfe der Rose. »Bravo«, rief der König, als der Prinz die schöne Rosenblüte zwischen den vielen Hofdamen herausgefunden hatte, »allein damit ist es noch nicht getan.« Und er sperrte ihn in ein großes Zimmer ein, das von oben bis unten mit Früchten angefüllt war, und befahl ihm unter Todesstrafe, alle diese Früchte an einem Tag aufzuessen. Der Prinz ist verzweifelt, doch zum Glück fallen ihm die Schweinsborsten und der Rat ein, den ihm sein erster Schwager erteilt hat. Er wirft die Borsten auf die Erde, und schon trabt eine große Herde von Schweinen herbei, die alle diese Früchte verzehren und sogleich wieder verschwinden.

Doch der König hatte eine weitere Aufgabe bereit. Er verlangt vom Prinzen, dass dieser seine Braut, bevor er mit ihr ins Bett geht, von Singvögeln einschläfern lässt, welche die süßesten Stimmen und das schönste Gefieder besitzen. Dem Prinzen fällt sogleich der Strauß Federn ein, den ihm sein Schwager, der Jäger, geschenkt hat, und er wirft ihn zu Boden. Eine Schar bunt schillernder Vögel flattert herbei und singt so wunderlieblich, dass der König selbst in einen wohligen Schlummer versinkt.

Doch ein Diener, den der König damit beauftragt hat, weckt ihn wieder, und der König sagt zum Prinzen und zu seiner Tochter: »Jetzt könnt ihr euch nach Lust und Liebe umarmen. Doch wenn ihr morgen euer Lager verlasst, so muss ich bei euch ein Kind von zwei Jahren vorfinden, das sprechen und euch mit Namen nennen kann, andernfalls seid ihr des Todes.«

»Jetzt legen wir uns erst einmal ins Bett, liebste Frau«, sagt der Prinz zur schönen Rosenblüte, »und morgen wird uns schon irgendein Heiliger helfen.«

Anderntags fällt dem Prinzen das Totenknöchlein ein, das ihm sein Schwager, der Totengräber, geschenkt hatte. Er steigt aus dem Bett und wirft es auf die Erde, und auf einmal steht ein bildhübscher Knabe vor ihnen, der hält einen goldenen Apfel in der Rechten und ruft die Eltern mit Namen. Der König tritt ins Zimmer, und der Knabe läuft ihm entgegen und will ihm den goldenen Apfel auf die Krone legen, die der König auf dem Kopfe trägt. Da kann sich der König nicht enthalten, das Kind zu küssen, und er segnet die Brautleute, nimmt seine Krone vom Haupte und setzt sie seinem Schwiegersohn mit den Worten auf: »Von nun an gehört die Krone dir.«

Dann feierten sie ein prächtiges Hochzeitsfest, zu dem sie auch die drei Schwestern des Prinzen mit ihren Männern einluden. Und als der Vater des Prinzen die frohe Nachricht von seinem Sohn erhielt, den er bereits tot geglaubt hatte, kam er herbeigeeilt und überließ ihm ebenfalls seine Krone. So wurden der Prinz und die schöne Rosenblüte König und Königin von zwei Reichen und lebten fortan froh und glücklich bis an ihr seliges Ende.