[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die schöne Mirshan und der Herrscher des Unterwasserreichs

Es war einmal eine arme Witwe. Sie hatte eine einzige Tochter, das schönste Mädchen in der Sippe. Sie hieß Mirshan. An einem warmen Tag gingen die Mädchen zum Fluss baden und nahmen Mirshan mit. Als sie ins Wasser liefen, sagten die Mädchen: »Wie schön du bist, Mirshan! Wenn der Khan dich sähe, würde er sagen: ›Mirshan, du mein Sonnenschein!
Ich gebe dir all meine Schätze, nur werde mein!‹«
Mirshan schlug verschämt die Augen nieder. »Warum spottet ihr über mich? Der Khan würde mir keinen einzigen Blick schenken. Ich bin doch die Ärmste im ganzen Aul.« Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, da schäumte das Wasser, und aus der Tiefe drang eine mächtige Stimme: »Mirshan, du mein Sonnenschein,
ich gebe dir all meine Schätze, werde mein!«
Die erschrockenen Mädchen rannten kreischend ans Ufer, packten ihre Sachen und liefen in den Aul. Mirshan vergaßen sie. So stand das schöne Mädchen am Ufer und sah auf ihrem Kleid eine siebenmal geringelte Riesenschlange liegen. Die hob den Kopf und schaute sie unverwandt an. »Mirshan, du mein Sonnenschein!« sprach die Schlange. »Ich bin der Herrscher des Unterwasserreichs. Ich liebe dich mehr als mein Leben. Werde mein! Ich schenke dir meinen Kristallpalast. Willige ein. Bist du bereit, mich zu heiraten, erhältst du dein Kleid zurück, wenn nicht, ziehe ich es auf den Grund des Flusses. Was wirst du dann tun?« Mirshan war fassungslos. Außer sich vor Schreck, willigte sie ein. Da war die Schlange auch schon wie vom Erdboden verschluckt, nur die Wellen kringelten sich und plätscherten ans Ufer. Das Mädchen zog sich eilig an und lief den Freundinnen nach.

In der Jurte fiel sie vor der Mutter nieder und weinte bitterlich. »Was hast du, Töchterchen?« fragte die Witwe besorgt. »Wer hat dir etwas zuleide getan?« Nun erzählte Mirshan, was sich zugetragen hatte, und rang die Hände. »Was soll nur werden? Ich habe mein Jawort gegeben. Darf man denn sein Wort brechen?« Die Mutter streichelte ihren Kopf, drückte sie an sich und tröstete sie: »Sei ruhig, mein Kind. Die schreckliche Schlange hast du dir wahrscheinlich eingebildet. So etwas gibt es doch nicht. Bleibe zu Hause und rühre dich nicht über die Schwelle.«

Eine Woche verging. Mirshan wurde wieder fröhlicher. Die Mutter ließ sie keinen Schritt aus der Jurte und ging auch selbst nicht weit fort. Eines Tages schaute die alte Witwe aus der Tür und erstarrte vor Entsetzen: »O weh, wir sind verloren! So weit das Auge reicht, kriechen schwarze Schlangen vom Fluss her auf unsere Jurte zu!« Mirshan erbleichte: »Die wollen mich holen!« Sie verriegelten die Tür, legten ihre Siebensachen davor, versteckten sich unter der Filzmatte und wagten nicht zu atmen.

Die Schlangen krochen näher und näher, in der Steppe hallte es laut. Jetzt hatten sie die Jurte erreicht, fanden aber keinen Eingang. Sie zischten, stürmten die Jurte, drangen ein, packten die leblose Mirshan und schleppten sie zum Fluss. Mit großem Wehklagen eilte ihnen die Witwe nach, streckte die Hände nach der Tochter aus, konnte sie aber nicht fassen. Die Schlangen tauchten ins Wasser, und mit ihnen war auch die schöne Mirshan verschwunden. Taumelnd vor Kummer kehrte die alte Mutter zu ihrer leeren Jurte zurück, warf sich auf den Boden und jammerte: »Meine Tochter ist tot! Die verfluchte Schlange hat mich auf immer elend gemacht!«

Monat für Monat verrann, die Zeit verstrich, die einsame Witwe wurde ganz gebrechlich, ihr Rücken krumm, das Haar weiß. Doch immer wartete sie auf etwas, schaute mit erloschenen Augen in die weite Steppe, wohin die schwarzen Schlangen ihre Tochter fortgeschleppt hatten. Eines Tages saß sie gramerfüllt vor ihrer Jurte, als sie auf einmal eine junge Frau in kostbaren Kleidern kommen sah. An der rechten Hand führte sie einen Jungen, auf dem linken Arm hielt sie ein Mädchen. Die Alte erbebte. »Mirshan! Meine Tochter! Bist du es?« Sie umarmten und küssten sich und gingen in die Jurte. Die Alte betrachtete die Tochter und die Enkel und wollte ihren Augen nicht trauen. »Woher kommst du, Mirshan?«

»Aus dem Unterwasserreich, wo mein Gatte der Herrscher ist.«

»Geht es dir gut unter Wasser?«

»Niemand kann glücklicher sein als ich. Aber ich habe Sehnsucht nach dir, liebe Mutter, ich wollte dir unsere Kinder zeigen.«

»Willst du etwa wieder zu dieser verwünschten Schlange zurück, liebe Tochter? Willst du etwa deine vergrämte Mutter wieder allein lassen?« fragte die Witwe und dachte im Stillen: Das wird nie geschehen. Um nichts auf der Welt trenne ich mich nun von meiner Mirshan.

»Liebe Mutter, verzeihe mir, aber ich kann nicht lange bei dir bleiben«, antwortete Mirshan. »Am Abend müssen wir zu Hause, im Unterwasserpalast sein. Mein Gatte erwartet uns. Ich liebe und achte ihn. Er nimmt ja nur auf der Erde Schlangengestalt an, in seinem Reich ist er ein herrlicher Recke.«

»Es ist wohl unser Los. Aber wie findest du den Weg ins Unterwasserreich zurück?«

»Ganz einfach. Ich gehe ans Ufer und rufe: ›Achmet! Achmet! Deine Frau ruft dich, zeige dich, mein Sonnenschein, tauche auf aus den Tiefen!‹ Sofort steht mein Gatte vor mir und führt uns in den Palast.« Aha, jetzt weiß ich, was zu tun ist, dachte die Alte. Sie begann zu weinen und flehte die Tochter an: »Wenn du nicht für immer bleiben willst, so verweile wenigstens eine Nacht in deiner Jurte!«

Mirshan bekam Mitleid mit der alten Mutter und willigte ein, bis zum Morgen zu bleiben. Da freute sich die Alte und wurde zusehends jünger. Der Tag ging zur Neige. Die Nacht brach an, die Kinder schliefen ein, auch die schöne Mirshan fiel in tiefen Schlaf. Da stand die Alte leise auf, suchte im Dunkeln das Beil und schlich sich heimlich aus der Jurte. Sie ging zum Fluss, stellte sich an den Abhang und rief mit lauter Stimme: »Achmet! Achmet! Deine Frau ruft dich, zeige dich, mein Sonnenschein, tauche auf aus den Tiefen!« Im selben Augenblick tauchte die Schlange aus dem Wasser auf, legte den Kopf ans Ufer und sprach zärtlich: »Endlich bist du wieder da, meine Mirshan! Wie habe ich dich erwartet! Bin vor Sehnsucht nach den Kindern fast vergangen...« Ohne Zaudern schwang die Alte das Beil und schlug der Schlange den Kopf ab... Der Kopf rollte am Ufer entlang. Das Wasser im Fluss färbte sich blutrot...

Am Morgen wachte Mirshan auf, nahm die Kinder und verabschiedete sich von der Mutter: »Lebe wohl, Mutter, in einem Jahr komme ich wieder.« Die schöne Mirshan näherte sich dem Fluss, den Jungen an der einen Hand, das Mädchen auf dem Arm. Sie stellte sich ans Wasser und rief den Gatten: »Achmet, Achmet! Deine Frau ruft dich, zeige dich, mein Sonnenschein, tauche auf aus den Tiefen!« Aber niemand antwortete. Mirshan wartete ein Weilchen und rief dann abermals: »Achmet! Achmet! Deine Frau ruft dich, zeige dich, mein Sonnenschein, tauche auf aus den Tiefen!« Der Herrscher des Unterwasserreichs aber ließ sich nicht blicken. Da wurde Mirshan traurig, schaute auf den Fluss, und der war blutrot...

Da begriff Mirshan, was geschehen war, weinte und küsste ihre Kinder: »Euer Vater ist tot! Ich trage Schuld daran. Was soll nun mit euch Waisenkindern werden?« Durch einen Tränenschleier schaute sie die Kinder an und sprach: »Du, mein Töchterchen, werde eine Möwe- fliege dicht über dem Wasser! Und du, mein Söhnchen, werde eine Nachtigall - singe im Morgengrauen deine Lieder! Und ich, eure heimatlose Mutter, werde ein Kuckuck, hüpfe von Nest zu Nest, traure dem Gatten nach, kuckue freudlos!« Nachdem sie das gesagt hatte, verwandelten sich alle drei in Vögel, flatterten mit den Flügeln und flogen in verschiedene Richtungen.