[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die leichtfüßige Königstochter

Es lebte einmal eine Königstochter, die wegen ihrer Schönheit und ihrer Anmut weit und breit berühmt war. Viele Freier kamen zu ihr, von Nord und Süd, von Ost und West, so dass der königliche Hof oft die ganze Woche von den Pferden der Freier nicht leer wurde. Zu dieser Zeit aber war das Brautwerben nicht so einfach wie heutzutage, da die Männer oft an sieben Türen klopfen mussten und dennoch nicht den Mut verlieren durften. Bei der schönen Königstochter verhielt es sich nämlich ganz anders, denn ein jeder, der sie freien kam, musste auch außerordentlich kühn sein. Die Königstochter war sehr leichtfüßig, und sie hatte ihrem Vater gelobt, nicht eher zu heiraten, als dass ein Freier käme, der nicht nur ebenso schnell wäre wie sie, sondern er sollte schneller als sie sein. Das wäre nun nicht so schlimm gewesen, doch die Sache mit dem Wettlauf hatte einen Haken. Jeder Freier, der es nicht vermochte, mit ihr Schritt zu halten, verlor auch noch seinen Kopf! Darum wunderte man sich, dass sich trotzdem Edelmänner fanden, die diesen vagen Versuch unternahmen. -

Lange Zeit schon hatte kein Freier mehr das Königsschloß betreten, und das Volk war der Hoffnung, diese unsinnigen Freierzüge hätten nun ihr Ende gefunden. Doch eines Tages machte sich in einem fremden Lande wiederum ein Königssohn auf den Weg. Nun war er sich seiner sicher, denn im ganzen Reich seines Vaters gab es niemanden, der ihn im Wettlauf bezwungen hätte. Er machte sich mit Kutsche und Pferden auf den Weg, um dem Volk seinen Reichtum zu zeigen und um seine Beine zu schonen, damit sie nicht schon vor dem Wettlauf ermüdeten. Als Reisegeld diente dem Königssohn ein halber Sack Gold, den er wie einen Hafersack hinten an die Kutsche binden ließ.

Der Königssohn war noch nicht allzu weit von zu Hause fort, da sah er in der Ferne eine Menschengestalt dahersausen wie vom Winde getragen. Einen Augenblick später hatte die Gestalt den Königssohn schon überholt. »He, du, halt ein!« rief der Königssohn aus Leibeskräften, damit es der Leichtfüßige bestimmt hörte. Der Mann hielt im Lauf inne, um zu hören, warum er gerufen wurde. Jetzt erst bemerkte der Königssohn, dass der Läufer an je einem Bein einen Mühlenstein hängen hatte. Der Königssohn konnte sich über die Laufgewalt des Schnellfußes nur wundern, und er fragte: »Wozu hast du dir die Steine an die Beine gebunden?«

»Weil ich sonst im schnellen Lauf nicht den Erdboden berühren würde«, erwiderte der Mann, »und unversehens wer weiß wohin geraten könnte, wenn meine Beine nichts weiter als meinen Leib zu tragen hätten.«

Der Königssohn dachte im Stillen, solch einen Mann könnte ich gebrauchen, er könnte an meiner Stelle um die Wette laufen, wenn ich nicht schnell genug bin. Laut aber fragte er: »Hättest du nicht Lust, in meine Dienste zu treten?«

»Warum nicht, wenn wir uns einig werden. Was willst du mir als Lohn zahlen?« Der Königssohn erwiderte: »Reichlich Speis und Trank, soviel dein Herz nur begehrt, sowie prächtige Sommer- und Winterkleider und als Jahreslohn eine halbe Kanne voll Gold.«

Dem Mann war es recht, und der Königssohn hieß ihn, sich hinten auf den Goldsack setzen. Den Mann wunderte es, und er sagte: »Glaubt Ihr, dass Eure Rosse flinkere und kräftigere Beine haben als ich? Seid unbesorgt, ich werde Ihnen schon immer voraus sein.«

Darauf zogen sie weiter. Nach einer Weile sah der Königssohn am Wege einen Mann sitzen, der die Flinte angelegt hatte, als ziele er auf einen Vogel. Aber wie scharf der Königssohn und seine Diener auch hinsahen, konnten sie weder auf dem Erdboden noch in den Lüften etwas entdecken, worauf der Schütze hätte zielen können. »Was machst du da?« fragte der Königssohn den Mann. Der Schütze winkte ab, als hätte er sagen wollen: Nicht so laut, ihr verscheucht mir den Vogel. Als der Königssohn auch beim zweiten Mal keine Antwort erhielt, erkundigte er sich noch ein drittes Mal. »So schweigt doch endlich«, sagte der Schütze flüsternd, »bis ich sie getroffen habe.« Bald darauf knallte die Flinte des Schützen, er erhob sich und sprach: »Jetzt hab' ich sie getroffen und kann Eure Frage beantworten. Eine ganze Weile schon kreiste um den Turm zu Babel eine Mücke und wollte sich auf dessen Spitze niederlassen. Das durfte nicht geschehen, denn sie wog etliches und hätte die feine Turmspitze beschädigt. Deshalb hab' ich den Schädling abgeschossen.« Verwundert fragte der Königssohn: »Kannst du denn so weit sehen?«

»Was ist das schon weit«, lachte der Mann, »mein Auge reicht noch viel weiter!«

»Haltet ein!« rief nun der schnellfüßige Läufer. »Werde hinlaufen und sehen, ob er uns nicht zum Besten hält!« Und im Nu war er auf und davon, als hätte ihn der Wind fort geblasen, denn schon hatte der Königssohn ihn aus den Augen verloren.

Solch ein Schütze könnte mir von Nutzen sein, dachte der Königssohn und begann, mit dem Mann zu verhandeln. »Willst du nicht in meine Dienste treten?« fragte er den Scharfschützen. »Warum nicht«, erwiderte jener, »wenn wir uns einig werden. Was willst du mir als Lohn zahlen?«

»Reichlich Speis und Trank, soviel dein Herz nur begehrt, sowie prächtige Sommer- und Winterkleider und als Jahreslohn eine halbe Kanne voll Gold.« Dem Schützen war es recht. Da kam auch der Schnellfuß aus Babel zurück gerannt und trug auf dem Rücken die Riesenmücke, als wäre sie so leicht wie Daunen. Der Scharfschütze setzte sich hinten auf den Goldsack, und so ging es weiter.

Sie waren noch nicht lange unterwegs, als der Königssohn, der als pfiffiger Mann stets Augen und Ohren offen hielt, am Wegrand einen Mann erblickte, der sein Ohr, das wie ein Rohr und drei Klafter lang war, an den Erdboden drückte, als lausche er. »Was machst du da?« fragte der Königssohn ihn. »Fünf Könige, die einen Krieg im Schilde führen, haben in Rom eine geheime Sitzung. Da möchte ich erfahren, ob auch uns der Krieg droht.«

»Kannst du denn so weit hören?« war der Königssohn erstaunt. »Das ist doch nicht weit«, entgegnete der Mann, »mein Ohr reicht noch viel weiter. Es gibt wohl kaum auf der Welt etwas, was ich nicht höre.«

Der Königssohn aber dachte im Stillen, ein so hellhöriger Mann könnte ihm noch von Nutzen sein, und er fragte: »Möchtest du nicht in meine Dienste treten?«

»Warum nicht«, erwiderte der Hellhörige, »wenn wir uns einig werden. Was willst du mir als Lohn zahlen?«

»Reichlich Speis und Trank, soviel dein Herz nur begehrt, sowie prächtige Sommer- und Winterkleider und als Jahreslohn eine halbe Kanne voll Gold.« Dem Hellhörigen war es recht, er rollte sein Ohr zusammen, dass es nicht hinterher schleife, kletterte neben den Scharfsichtigen auf den Goldsack, und so setzten sie ihren Weg fort.

Als sie ein gutes Stück des Weges hinter sich gelassen hatten, gelangten sie in einen dichten Wald. Schon seit einer Weile war dem Königssohn aufgefallen, dass von Zeit zu Zeit einige Baumwipfel die anderen klafterhoch überragten und dann wieder verschwanden. Er fragte auch seine Diener, was das bedeuten sollte, doch sie wussten ihm keine Auskunft zu geben. Fällt jemand einen Baum mit der Axt, kann dieser zwar beim Niederstürzen dem Blick entschwinden, aber wie ein Baum, bevor er niederfällt, den Wipfel noch empor streckt, das vermochte ihr Verstand nicht zu erklären. Der Wald wurde nun immer dichter, und alsbald konnten die Wanderer sich selbst überzeugen, was es mit dem sonderbaren Emporsteigen der Bäume auf sich hatte. Sie waren noch nicht lange durch das schattige Dickicht gefahren, da trafen sie auf einen Mann, der Bäume aus der Erde riss. Er wählte sich einen passenden Baum aus, packte ihn mit beiden Fäusten am Stamm und riss ihn mitsamt den Wurzeln aus dem Erdboden, als wäre es ein Kohlkopf oder eine Rübe. Wie er die Kutsche halten sah, ließ er von seiner Arbeit ab und trat näher, denn er dachte, in der prächtigen Kutsche reise der Besitzer des Waldes, der ihm nun sein Tun verbieten wollte. Darum sagte er ergeben: »Hochverehrter Herr, nehmt es mir nicht übel, dass ich mir ohne Erlaubnis aus Eurem Walde etwas Kleinholz hole. Die größeren Bäume habe ich stehen lassen. Mein Weib will Brei kochen und hat mich in den Wald nach ein bisschen Holz geschickt, um unter dem Kessel ein Feuerchen zu machen. Ich wollte gerade noch ein paar dazunehmen, da sah ich Euch kommen.«

Den Königssohn wunderte die ungeheure Kraft des Mannes nicht wenig, doch im Stillen dachte er: »Werde mich zum Spaß als Herrn des Waldes ausgeben, mal sehen, wie stark der Mann wirklich ist.« Darum sagte er: »Ich verwehre es dir nicht, nimm dir meinetwegen noch ein paar von den dickeren dazu.« Das ließ sich der Mann nicht zweimal sagen. Vergnügt packte er einen Baum, den er mit beiden Händen nicht einmal umspannen konnte, und riss ihn mit einem Ruck aus dem Boden. »Hättest du nicht Lust, in meine Dienste zu treten?« schlug der Königssohn vor. »Warum nicht, wenn wir uns einig werden«, erwiderte der Mann. »Was willst du mir aber als Lohn zahlen?«

»Reichlich Speis und Trank, soviel dein Herz begehrt, sowie prächtige Kleider und als Jahreslohn eine halbe Kanne voll Gold.« Der Mann kratzte sich hinterm Ohr, als wäre er mit dem Lohn nicht zufrieden, sagte dann aber: »Lasst mir nur soviel Zeit, das Holz heim zu tragen und meinem Weib zu sagen, dass ich fortgehe, damit sie nicht unnötig auf mich wartet. Dann werde ich eilenden Fußes wieder da sein.« Der Königssohn willigte ein, und der Mann nahm sein Holz unter den Arm, ging raschen Schrittes davon und war in Kürze wieder da. Der Königssohn war froh, noch einen Diener gewonnen zu haben, auf dessen Hilfe er notfalls bauen konnte.

Alsbald hatten sie den Wald hinter sich und fuhren nun durch offene Flur, die ihnen einen weiten Blick gestattete. In der Ferne sahen sie eine Stadt und vor dieser am Wege sieben Windmühlen, die alle in einer Reihe standen. Dem Königssohn, der aufmerksam umherschaute, fiel sofort auf, dass die Flügel der Windmühlen sich drehten, obwohl solch eine Windstille herrschte, dass kein Hälmchen sich regte. Als sie weiterfuhren, verspürte er plötzlich einen Luftzug. Ein Stückchen weiter legte sich der Wind ebenso plötzlich wie er gekommen war.

Der Königssohn ließ den Blick nach allen Seiten schweifen, gewahrte aber lange Zeit nichts Sonderliches, was auf die Ursache des Windes hinwies. Als sie nur noch einige Meter vom Stadttor entfernt waren, sah der Königssohn auf einmal einen Mann von mittlerem Wuchs, der sich gar eigenartig benahm, indem er die Füße gegen einen großen Stein stemmte und den Leib rückwärts bog. Der Königssohn hielt an und fragte den Fremden: »Was treibst du da, Brüderchen?«

»Was sollte ich armer Schlucker schon treiben!« antwortete der Mann. »Da ich nirgends eine dankbare Arbeit finden konnte, muss ich mich mit dem Amt eines Mühlenpusters begnügen. Aber was verdient man schon mit der lumpigen Beschäftigung, bei Windstille die Mühlen der Stadt in Gang zu halten? Zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu verhungern!«

»Fällt es dir denn nicht schwer, die Mühlen in Gang zu blasen?«

»Das könnt Ihr ja mit eigenen Augen sehen«, erwiderte der Mann. »Ich schließe den Mund und drücke noch ein Nasenloch zu, sonst könnte der Wind zum Sturm anschwellen, und die Mühlen würden mitsamt ihren Flügeln in die Lüfte fliegen.«

»Willst du nicht lieber in meine Dienste treten?« fragte der Königssohn. »Warum nicht«, sagte der Mühlenpuster, »wenn Ihr mir soviel zahlt, dass ich nicht mehr hungern muss. Und wie viel würde es in Euren Diensten sein?«

»Dienst du mir so, wie alle anderen, soll es auch dir an nichts fehlen. Du bekommst zu essen und zu trinken, soviel dein Herz begehrt, Kleider für Sommer und Winter und als Jahreslohn eine halbe Kanne voll Gold.« Der Mühlenpuster antwortete darauf wohlgemut: »Damit kann unsereiner schon zufrieden sein, solange sich nichts Besseres findet. Den Mann beim Wort, den Stier beim Horn, sagt ein alter Spruch - also, schlagen wir ein!«

So zog der Königssohn mit seinen fünf Dienern der Hauptstadt zu, sollte es ihm Glück oder Verderben bringen. Entweder er bekam die schöne Königstochter zur Gemahlin oder er würde seinen Kopf verlieren. In der Königsstadt stieg er im besten Wirtshaus ab und befahl dem Wirt noch nachdrücklich, seinen Dienern vorzusetzen, was ein jeder sich nur wünschte. Er warf eine Handvoll Goldmünzen auf den Tisch und sagte: »Diese Kleinigkeit hier nimm als Handgeld, den Rest bekommst du, wenn ich abreise.« Dann ließ er Schneider und Schuster zusammenrufen, die seinen Dienern schöne Kleider und neue Schuhe anfertigen sollten.

Der Vater der leichtfüßigen Jungfrau, der alte König, hatte inzwischen schon von der Pracht und dem Reichtum des Jünglings erfahren, noch ehe der Jüngling am dritten Tag selbst vor ihn trat. Als der König den edlen Jüngling erblickte, sagte er mit väterlicher Stimme: »Lieber Freund, Lasst ab von diesem Wettlauf! Hättet Ihr noch so geschwinde Beine, so könnten sie es niemals mit denen meiner Tochter aufnehmen, denen geradezu Flügel gewachsen sind. Mich dauert Euer junges Leben, das Ihr unbedacht hingeben wollt.«

»Gnädiger König«, erwiderte der Jüngling, »ich hörte von den Leuten hier, dass der, der mit Eurer Tochter nicht um die Wette zu laufen vermag, auch seinen Diener schicken dürfe.«

»Das stimmt zwar«, bestätigte der König, »doch wird Euch solch ein Gehilfe von geringem Nutzen sein. Verliert er nämlich, was zweifellos der Fall ist, so wird trotzdem Euch der Kopf abgeschlagen.«

»Es sei denn«, sagte der Königssohn, als er eine Weile überlegt hatte, mit fester Stimme: »Soll mein Diener sein Glück versuchen, ich werde mit meinem Haupt seinen Misserfolg büßen. Eher will ich meinen Kopf verlieren, als unverrichteter Dinge heimkehren und zum Spott in aller Leute Mund werden. Mögen die Leute lieber meinen toten Kopf verspotten.« Wie der alte König den Jüngling auch von seinem Vorhaben abzubringen versuchte, alles war vergeblich, und so musste er schließlich nachgeben.

Der Wettlauf sollte am nächsten Tag stattfinden. Und kaum war der Königssohn gegangen, da wandte sich der König an seine Tochter mit den Worten, die der Hellhörige im Wirtshaus erhorchte und sogleich dem Königssohn weitererzählte: »Liebes Kind, du hast bis heute viele Jünglinge ins Verderben gestürzt, was mir oftmals schon das Herz betrübte. Aber keiner der hingerichteten Freier war mir so nach dem Sinn, wie der junge Königssohn, der sich morgen mit dir im Wettlauf messen will. Er ist im blühenden Alter und klug. Laufe morgen aus Liebe zu mir etwas langsamer, damit der Freier oder sein Diener siege und dass ich endlich einen Schwiegersohn bekäme, der nach meinem Tode das Reich erben könnte, denn ich selbst habe ja keinen Sohn.«

»Was?« rief die Königstochter hochmütig. »Ich sollte um eines Burschen willen die Kraft meiner Beine verleugnen, nur um unter die Haube zu kommen? Da bleibe ich lieber schon mein Leben lang eine alte Jungfer! Warum ist er denn hergekommen? Habe ich ihn gerufen, oder die, die vor ihm hier waren? Habt Ihr Mitleid mit dem Freier, so schickt ihn heim, ehe er den Wettlauf wagt, von mir aber erwartet keine Gnade für ihn. Wer nicht hören will, muss fühlen!«

Der König sah, dass seine Tochter nicht nachgeben wollte, und er gab es auf.

Als der Hellhörige dem Königssohn von diesem Gespräch berichtete, trat der Schnellfuß in die Stube und sagte: »Ich schäme mich, vor allen Leuten mit diesen Mühlsteinen herumzulaufen. Kauft lieber sechs Ochsenfelle, und Lasst daraus einen Ranzen anfertigen mit soviel Eisen darin, wie die Mühlsteine wiegen, und alles wird seine beste Ordnung haben. Die Leute werden mich dann für einen wandernden Handwerker halten.« Der Königssohn erfüllte den Wunsch des Mannes ohne Widerspruch, ließ herbeiholen, was nötig, und am anderen Morgen war der Ranzen rechtzeitig fertig. Der Mann schnürte ihn sich auf den Rücken und machte einige Schritte, obwohl die ungewohnte Last den Beinen etwas fremd erschien, alsbald jedoch fügten sie sich.

Am Wettlaufplatz hatten sich unzählige Schaulustige eingefunden, die einen lachten über den Felleisenträger, die anderen meinten: »Ein gescheiter Mann wirft beim Wettlauf die überflüssigen Kleider ab, der kommt aber nicht einmal darauf, seinen Ranzen abzulegen.« Der Hellhörige erzählte dies sofort dem Königssohn, doch der Läufer kümmerte sich nicht im Geringsten darum. Die Wettlaufstrecke maß genau eine Meile, und von beiden Seiten dieser wuchsen Bäume, die den Laufenden vor den sengenden Sonnenstrahlen Schatten boten. Am Ende der Strecke sprudelte ein Quell aus dem Erdboden. Die Läufer sollten mit einer leeren Flasche zum Quell eilen, diese mit Wasser füllen und zurückkehren. Wer auch nur einen Schritt vor dem anderen anlangte, war Sieger.

Als die Königstochter und der geschwinde Diener des Königssohnes auf das Zeichen hin gleichzeitig losliefen, war der Schnellläufer der Königstochter wie der Wind voraus, füllte am Quell die Flasche und lief zurück. Auf halbem Wege traf er die Königstochter, die erst noch zum Quell eilte. »Halt ein, Brüderchen!« rief sie. »Habe mir das Bein verrenkt. Gib mir ein paar Tropfen aus deiner Flasche, um das Bein zu kühlen und mich etwas zu laben, dann kann es wieder weitergehen.«

»Meinetwegen«, erwiderte der Mann, »ich habe es ja nicht eilig. Wenn Ihr wollt, warte ich hier, bis Ihr wieder da seid, und wir können gemeinsam weiterlaufen.« Als er sich aber ohne Argwohn zur Rast niederließ, hielt ihm die Königstochter ein Schlafkraut unter die Nase, und der Mann verfiel auf der Stelle in tiefen Schlaf. Da nahm die Jungfrau ihm die gefüllte Flasche aus der Hand und eilte mit ihr zurück.

Das blieb aber dem Scharfäugigen nicht unbemerkt. Er riss seine Flinte an die Backe und schoss geschickt einen Zweig vom Baum, der dem schlafenden Schnellfuß genau auf die Nase fiel. Zu seinem Schrecken entdeckte der Läufer die leere Flasche und das Mädchen, das schon eine gute Strecke voraus auf dem Rückweg war. Der Schreck fuhr ihm derart in die Beine, dass seine Fersen Funken sprühten, als er zum zweiten Mal zum Quell eilte, die Flasche füllte und wie der Wind zurückeilend die Königstochter gerade noch vorm Ziel überholte und wenige Augenblicke vor ihr anlangte.

Nun hatte der Freier gesiegt und konnte seinen Kopf behalten. Die Königstochter aber lief voller Wut nach Hause, denn solch einen Streich hatte ihr das Leben noch nicht gespielt, dass jemand flinkere Beine gehabt hätte als sie. Der Königssohn kehrte zurück ins Wirtshaus, ließ ein stattliches Mahl anrichten und den Schnellfuß reichlich belohnen, aber auch den Schützen, der den Läufer gerade noch zur rechten Zeit geweckt hatte.

Der Lärm der lustigen Gesellschaft vermochte jedoch nicht zu verhindern, dass der Hellhörige das Zwiegespräch auffing, das im Königsschloß zwischen Vater und Tochter stattfand: »Jetzt, liebes Kind«, sagte der König, »wirst du dich vermählen müssen, denn die Beine eines anderen waren schneller als deine. Es ist mir auch ganz recht, denn nun werden keine jungen Männer mehr sterben, und ich bekomme einen Schwiegersohn, wie ich mir einen besseren nicht wünschen kann.« Er wollte noch etwas hinzufügen, da löste sich aber die Zunge der Tochter, die Zorn und Ingrimm bisher gefesselt hatten, und nun stürzte aus ihrem reizvollen Munde ein Wasserfall, so dass der König gar nicht mehr zu Worte kam. Die Tochter bestand hartnäckig darauf, eher ihrem Leben ein Ende zu machen, wenn der Vater sie zur Ehe zwinge, als die Frau eines Mannes zu werden, der sie durch seinen Diener zufällig bezwungen hatte. Der Vater versuchte, ihr zu drohen, zu schmeicheln, aber alles vergeblich. »Bietet Ihr ihm auch das halbe Königreich«, rief die Königstochter, »seine Frau werde ich nie und nimmer!«

Der Königssohn war tief betrübt, als er dies vom Hellhörigen erfahren hatte. Doch der Baumausreißer sagte: »Nehmt es Euch nicht allzu sehr zu Herzen, es gibt noch andere Jungfrauen auf der Welt, auch schönere und feinere als diese Königstochter hier. Verlangt als Lohn soviel Gold, wie ein Mann in einem Sack fortzuschleppen vermag, und Lasst die Königstochter verrunzeln, dass niemand sie mehr anschauen mag, geschweige denn heiraten wollte!«

Der Königssohn gab sich mit diesem Rat zufrieden, umso mehr, als er am nächsten Morgen aus dem Munde des Königs erfuhr, was ihm der Hellhörige schon berichtet hatte. Darum sagte er: »Soll es von mir aus mit der Hochzeit nichts werden. Ich will mich zufrieden geben, wenn Ihr mir aus Eurer Schatzkammer als Ersatz meiner Reisekosten soviel Gold gebt, wie ein einziger Mann fort zu tragen vermag.« Ohne lange zu zögern, erfüllte der König diesen Wunsch und war noch froh dazu, so leicht davongekommen zu sein. Hätte der Jüngling das halbe Königreich gefordert, hätte er es hingeben müssen, nun sollte es ihn nur einen Sack voll Gold kosten. Im Stillen dachte der König: »Ich hätte den Jüngling für gewitzter gehalten, er ahnt ja nicht, wie schwer das Gold ist, denn selbst der stärkste Mann kann nicht viel davon forttragen.« Und die beiden trennten sich in der Meinung, den anderen übertroffen zu haben. Im Wirtshaus riet der Baumausreißer dem Königssohn: »Schickt einen Diener in die Stadt, dass er sämtliches Leinentuch, welches feilgeboten wird, aufkaufe. Dann ruft fünfzig Schneidergesellen zusammen, damit sie daraus einen sechsfachen Sack nähen, so groß und breit, wie der Stoff hinreicht. In diesem Sack werde ich das Lösegeld für die Jungfrau holen.«

Wie gesagt, so geschehen. Der Königssohn versprach den braven Schneidern reichlichen Lohn, würden sie den Sack über Nacht fertig nähen. Am frühen Vormittag war der Sack fertig genäht. Die Schneidergesellen bekamen außer dem Arbeitslohn noch ein so gutes Trinkgeld, dass sie für die Arbeit einer einzigen Nacht drei Tage lang im Wirtshaus zechen konnten. Der Baumausreißer warf sich den leeren Sack über die Schulter und begab sich zur Schatzkammer des Königs.

Als der Schatzmeister den riesigen Sack erblickte, lachte er voller Hohn: »Hast wohl den Weg verfehlt, Brüderchen? Du wolltest sicher in eine Heuscheune, für das bisschen Gold hätte es wahrlich nicht eines solchen Sackes bedurft!« Der Sackträger entgegnete: »Na, der Sack wird dem leeren Raum keine Träne nachweinen, auch kann ich nicht mehr hineintun, als ich fort zu tragen schaffe.« Unter solchem Wortgeplänkel erreichten sie die Schatzkammer. Als die Türen geöffnet waren und das Gold in den Truhen aufblinkte, fragte der Schatzmeister: »Was meinst du, genügt das hier, deinen Sack zu füllen und ihn dann fortzuschleppen?« Worauf der Sackträger erwiderte: »Wir werden sehen, wer kann es schon im voraus wissen. Mein Herr war, als er herreiste, der festen Hoffnung, sein junges Weib heimzuführen, nun muss er sich mit einem Säckelchen schnöden Goldes begnügen. Aber immerhin ist ein guter Sack voll Gold besser als ein schlimmes Weib.«

»Wie schade, dass du keine Schaufel mitgebracht hast«, spottete der Schatzmeister. »Das würde dir die Arbeit verkürzen, denn es ist höchst langweilig, den Sack mit der Hand zu füllen, zumal er so groß ist.«

Doch der Baumausreißer hob die erste Goldtruhe an, als wäre sie ein Daunenkörbchen, bat den anderen, er möge ihm den Sack aufhalten, und schüttete das blinkende Gold hinein, dass es nur so schepperte. Als der Schatzmeister dies sah, beschlich ihn ein ungutes Gefühl, als aber mit den nächsten Truhen das gleiche geschah, wurde er bleich wie eine weiße Wand. Es dauerte nicht lange, da waren alle Truhen leer, der Sack aber erst halbvoll. Der Sackträger fragte nun: »Ist das denn wirklich der ganze Schatz Eures Königs?«

»Dort hinten in den Kästen findet sich noch Gold in Barren, es ist aber noch nicht geprägt.«

»Immer her damit!« rief der Baumausreißer und kippte die Kästen genauso munter in den Sack wie vorher die Truhen. Als dann alle Ecken sauber wie ausgefegt waren, hob er den Sack auf die Schultern und schritt zurück zum Wirtshaus.

Diesmal brauchte sich der Schatzmeister wegen des Abschließens keine Sorgen zu machen. Darum lief er Hals über Kopf, als hätte er einen Bienenschwarm im Nacken, zum König und berichtete ihm von dem Unglück. Erschrocken ließ der König seine Tochter rufen und schalt: »Sieh nun, welch Unglück deine Dreistigkeit uns beschert hat! Unser ganzer Staatsschatz ist hin, dein Freier hat mich arm gemacht wie eine Kirchenmaus! Was bin ich noch für ein König? Wie soll ein Herrscher ohne Gold das Reich vor seinen Feinden schützen? Sobald die Krieger hören, dass ich nichts habe, um ihnen ihren Lohn zu zahlen, laufen sie auseinander.«

»So darf es freilich nicht bleiben«, meinte die Königstochter. »Wir müssen den Schatz wiederkriegen, sei es denn mit List oder mit Gewalt.« Doch ehe sie sich etwas ausdenken konnten, erreichte sie die Kunde, dass der Königssohn die Stadt verlassen habe. »Nun hilft nur noch Gewalt«, sagte die Königstochter. »Ruft augenblicklich das gesamte Heer zusammen und jagt dem spitzbübischen Freier nach, der mit seiner Last ja noch nicht weit sein kann.« Der König erteilte den Befehl, der sofort ausgeführt wurde. Am nächsten Tag stand das Heer unter Waffen und rückte aus, dem schwerreich gewordenen Fremden nachzusetzen. Voran ritten die Reiter, hinterdrein rannte das Fußvolk, und zuletzt in einer Kutsche fuhr der König und seine Tochter. Ein Drittel des Goldes, das dem Freier entrissen werden sollte, wurde den Kriegern versprochen, um sie zu heftigerem Angriff anzuspornen.

Der Königssohn hatte sich derweil mit seinem Schatz schon ein gutes Stückchen entfernt. Der sechsfache Goldsack hemmte den Schritt des Baumausreißers keineswegs, anders wäre es aber auch unmöglich gewesen, die ganze Last fortzuschleppen. Die nötigen Zugtiere hätte man ja für gutes Geld kaufen können, aber wo hätte man solch ein Fuhrwerk hergenommen, dessen Achsen unter diesem Gewicht nicht gebrochen wären?

Der Schatzträger war eben über einen hohen Berg gestiegen und hatte sich am Fuße dessen unter einem Busch niedergelassen, um auszuruhen, als der Hellhörige mitteilte, was hinter ihnen in der Königsstadt ausgeheckt und vorgenommen worden war. Als der Scharfsichtige nun von der Bergspitze aus das ihnen nachsetzende Heer erkennen konnte, wurde dem Königssohn doch etwas bange zumute. Der Mühlenbläser aber beruhigte ihn: »Wir müssen ein wenig weiterziehen, denn sobald sie den Berg erklommen haben, wird ein Windstoß aus meinem Munde sie um so sicherer treffen.«

So zogen die Freunde denn weiter, bis sie ein geschütztes Plätzchen fanden. Da meldete der Scharfsichtige, dass die voran ziehende Reiterschar den Berg erstiegen habe, und der Mühlenbläser begann zu blasen. Und als hätte ein Wirbelwind Staub und Asche in die Höhe gefegt, flogen Mann und Ross bis hoch in die Wolken und stürzten herab. Die gleiche Luftreise musste etwas später auch das Fußvolk antreten, so dass zuletzt nichts weiter übrig blieb, als die Kutsche des alten Königs und seiner leichtfüßigen Tochter. »Soll ich auch sie fliegen lassen?« fragte der Mühlenbläser. Der Königssohn war damit nicht einverstanden, denn er sagte: »Versuchen wir es noch ein letztes Mal, uns im Guten zu einigen«, und fuhr den Berg hinan, dem König entgegen, grüßte höflich und sprach: »Ihr seid auf einen Schlag ein armer Mann geworden, habt weder Schatz noch Krieger mehr, was für ein Herrscher seid Ihr da noch? Gewährt Ihr mir aber die Hand Eurer Tochter, hat alle Not sogleich ein Ende.«

Nun konnten sich der alte König und die leichtfüßige Königstochter nicht länger weigern, und alsbald wurde man sich einig. Der Königssohn tröstete den alten König: »Seid unbesorgt, den Schatz werde ich sogleich zurücktragen lassen, und unter einer fürsorglichen Regierung wird die Zahl Eurer Untertanen, anstelle derer, die heute in die Lüfte geschleudert wurden, rasch wieder zunehmen. Meine braven Diener werden die Grenzen Eures Reiches schützen. Einer vermag es, die winzigste Mücke in den Wolken zu erspähen, der andere hört mit seinem Ohr das Niesen einer Maus hundert Klafter unter dem Erdboden, der dritte hat die Kraft, das gesamte Gold und Silber einer Schatzkammer auf dem Rücken davon zu schaffen, und der vierte bläst mit seinem Munde egal welches Heer auseinander.«

So zogen sie denn gemeinsam in die Königsstadt zurück, wo eine prächtige Hochzeit gefeiert wurde, die ganze vier Wochen dauerte. Der Schwiegersohn aber blieb im Schloss des alten Königs und wurde nach seinem Tode Herrscher des Königreiches.