[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Erbschaft

Es lebte einmal ein Bauer, der hatte drei Söhne und war ein wohlhabender Mann. Als er auf dem Sterbebett lag, rief er sie zu sich und sprach: »Meine Söhne, ich muss euch verlassen. Ich möchte nicht, dass ihr euch streitet, wenn ich nicht mehr bin. In der Anrichte in meiner Stube werdet ihr mein Gold und Silber finden. Teilt es ehrlich und gerecht unter euch auf, arbeitet fleißig in der Wirtschaft und lebt friedlich zusammen.«

Kurz darauf ging der alte Mann von ihnen. Die Söhne begruben ihn, und als die Beerdigung vorbei war, wollten sie in der Schublade nach der Erbschaft sehen. Sie zogen sie auf - doch es lag nichts drin.

Wortlos standen sie eine Weile da. Dann meinte der jüngste: »Niemand kann sagen, ob überhaupt jemals Geld in der Schublade war.« Der zweite sprach: »Bestimmt war Geld darin. Wer weiß, wo es jetzt ist.« Und der älteste sagte: »Unser Vater hat niemals gelogen. Sicher war Geld da. Auch ich begreife nicht, wie es verschwinden konnte. Kommt«, fuhr er fort, »gehen wir zu dem alten Mann, der der Freund unseres Vaters war und ihn von Jugend an kannte. Sie gingen zusammen in die Schule, und niemand wusste über seine Angelegenheiten besser Bescheid als er. Ihn wollen wir um Rat fragen.«

So begaben sich die Brüder zum Haus des Alten und erzählten ihm, was geschehen war. »Bleibt bei mir«, sagte er, »ich will über den Fall nachdenken. Zwar kann ich nicht begreifen, was da passiert ist, aber eins ist sicher: Euer Vater hat nie gelogen. Das weiß ich, denn wir waren einander sehr zugetan. Als er Kinder hatte, war ich ihr Pate, und als ich Kinder hatte, war er ihr Pate.« Der Alte behielt die Söhne bei sich und bewirtete sie zehn Tage lang mit Speise und Trank.

Dann rief er sie und ließ sie neben sich Platz nehmen. »Hört gut zu«, sprach er. »Ich will euch eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein junger Mann, der war sehr arm. Er verliebte sich in die Tochter eines Reichen, und sie erwiderte seine Liebe. Weil er aber arm war, konnten sie an eine Ehe nicht denken. Schließlich verlobten sie sich doch, obwohl sie nicht wussten, ob sie würden heiraten können. Nach einiger Zeit stellte sich ein anderer Bewerber ein. Weil er wohlhabend war, veranlasste der Vater seine Tochter, in die Heirat einzuwilligen. Bald darauf heirateten sie. Als aber der Bräutigam am Abend zu seiner Braut kam, traf er sie weinend an. ›Was fehlt dir?‹ fragte er. Lange wollte die Braut ihm nichts verraten. Endlich aber gestand sie, dass sie schon mit einem andern verlobt war. ›Zieh dich an‹, sagte ihr der Mann, ›und folge mir.‹ Sie legte wieder ihr Hochzeitskleid an. Er nahm ein Pferd und ließ sie hinter sich aufsitzen. Dann ritt er mit ihr zum Haus des andern Mannes. Dort angelangt, klopfte er und rief: ›Ist da jemand?‹ Als der andre antwortete, ließ er die Braut vor der Tür, sagte nichts weiter und kehrte heim. Der Mann im Haus war inzwischen aufgestanden. Er hatte ein Licht angezündet, und wen fand er vor der Tür? Die Braut im Hochzeitskleid. ›Was hat dich hergeführt?‹ fragte er. ›Der Mann‹, antwortete die Braut, ›den ich heute geheiratet habe. Als ich ihm erzählte, dass wir einander versprochen waren, brachte er selbst mich her.‹ - ›Setz dich mal hin‹, sagte der Verlobte, ›bist du nicht jetzt verheiratet?‹ Dann sattelte er ein Pferd, ritt zum Priester und holte ihn in sein Haus. Vor dem Priester löste er die Frau von ihrem Versprechen. Er gab ihr auch ein Schreiben mit, in dem stand, dass er die Verlobung gelöst hätte und sie nun frei wäre.

Dann setzte er sie aufs Pferd und sagte: ›Kehr zu deinem Ehemann zurück.‹ In der Dunkelheit ritt die Braut in ihrem Hochzeitskleid davon. Als sie durch einen dichten Wald kam, hielten drei Räuber sie auf. ›Aha‹, sagte der eine, ›wir haben lange gewartet und nichts gefangen. Und nun ist uns die Braut selbst ins Netz gegangen.‹ - ›Oh‹, bat sie, ›gebt mich frei, denn ich möchte zu meinem Gemahl zurück. Der Mann, mit dem ich verlobt war, ließ mich auch gehen. Hier sind zehn Pfund in Gold. - Nehmt sie und erlaubt mir, dass ich meine Reise fortsetze.‹ Sie bettelte und bat und erzählte, wie es ihr ergangen war.

Zum Schluss sagte einer der drei, der besser geartet war als seine beiden Spießgesellen: ›Gut, da es die andern so gemacht haben, will ich dich selbst nach Hause bringen.‹ - ›Nimm du das Geld‹, sagte sie. ›Ich will davon keinen Penny‹, erwiderte er. Aber die andern Räuber riefen: ›Her mit dem Geld‹, und rissen die zehn Pfund an sich. Die Frau ritt heim, und der Räuber begleitete sie bis zur Tür. Sie trat in das Haus ihres Ehemannes und zeigte ihm das Schreiben, das der ehemalige Verlobte ihr gegeben hatte. Beide waren jetzt glücklich und zufrieden.«

Damit beendete der alte Mann seine Geschichte. Er fragte die drei Brüder: »Was denkt ihr wohl, wer von diesen allen hat am besten gehandelt?« Der älteste Sohn antwortete: »Ich glaube der Mann, der die Frau dem zurückschickte, mit dem sie verlobt war. Er war ein ehrenhafter, edler Mensch.« Der zweite Sohn sagte: »Ja, aber der Mann, mit dem sie verlobt war, handelte noch besser. Er schickte sie ihrem Gemahl zurück.«

»Ich weiß nicht recht«, meinte der jüngste. »Vielleicht waren die Räuber, die das Geld nahmen, die klügsten von allen.«

Da stand der alte Mann auf und sprach: »Jetzt hast du dich verraten. Du hast deines Vaters Gold und Silber genommen. Ich habe euch zehn Tage hier behalten und euch genau beobachtet. Ich weiß, dass euer Vater nie gelogen hat. Du hast das Geld gestohlen.« Beschämt gestand der jüngste Sohn die Tat. Er gab das Geld zurück und konnte von Glück reden, dass die Brüder ihm verziehen. Sie teilten das Gold und Silber gerecht unter sich auf und lebten friedlich zusammen, wie ihr Vater es gewünscht hatte.