[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Büffelfrau

Vor unendlich vielen Jahren, als Menschen und Tiere noch eine gemeinsame Sprache redeten, lebte bei den Menschen ein mächtiger Zauberer, der von allen Leuten wegen seiner magischen Kräfte geachtet und gefürchtet wurde. Dieser Zauberer hatte einen Sohn, dessen Name Tapferkeit war, denn keiner war so klug und tapfer auf der Jagd wie dieser Sohn. Die Zauberkräfte des Vaters mochten dazu beigetragen haben, dass dem Sohn stets das Jagdglück lachte. Jedes Mädchen wollte ihn zum Gatten haben, denn keine Frau will schließlich einen Mann, der auf der Jagd von anderen übertroffen wird. Doch kümmerte sich der junge Jäger wenig um die Mädchen, sondern ging jeden Tag auf die Jagd und kehrte stets mit Beute beladen zurück.

Da begegnete ihm eines Tages, als er wieder einmal von der Jagd heim wanderte, ein junges Mädchen, das dem Jäger sogleich gefiel. Sie war jung und schön, und ihre Kleidung war reich mit Perlen bestickt. Der junge Mann hatte nichts dagegen, dass sie ihn ins Dorf begleitete, obwohl er wusste, was das zu bedeuten hatte. Nach altem Brauch fragte das Mädchen die Eltern des jungen Mannes, ob sie sie als Tochter für ihren Sohn haben wollten. So kam es, dass der Jäger noch am gleichen Tage verheiratet war.

Viel Zeit verging. Der Mann brachte wie immer reichlich Wild von der Jagd, die Frau kochte für ihn, hielt seine Kleidung in Ordnung und bestickte seinen Rock mit schönen Ornamenten. Als er wieder einmal heimkam, fragte sie ihn: »Ich kann dich mächtig machen, aber nur dann, wenn du das tust, was ich dir sage. Willst du mir dein Schicksal anvertrauen?« Der Jäger willigte ein, denn er sah keinen Grund, seiner Frau zu misstrauen. Da sprach diese: »Es ist Zeit, dass du meine Brüder und Schwestern kennen lernst, wir wollen morgen zu meinen Verwandten gehen.«

Bei Sonnenaufgang machten sich die beiden auf die Reise. Doch wie erstaunt war der Mann, als seine Frau ihm plötzlich auftrug, sich im Grase zu wälzen, ganz so, wie er es bei den Büffeln oft beobachtet hatte. Zögernd tat er ihr den Gefallen und stand mit einem Male als Büffel da! Auch seine Frau hatte sich in eine Bisonkuh verwandelt. Jetzt wurde ihm die Bedeutung der Ratschläge klar, die ihm seine Frau unterwegs gegeben hatte: er solle sich vor den jungen Männern vorsehen, die wahrscheinlich eifersüchtig auf ihn sein würden; er solle nicht wütend werden, da solches Benehmen die übrigen Mitglieder der Familie reizen könnte; er solle sich in keinen Zweikampf einlassen, da ihm darin jeder ihrer Verwandten überlegen sei; und was dergleichen gute Ermahnungen mehr waren.

Voller Staunen sah er vor sich eine unendliche Herde von Bisons, die ganze Prärie schien mit ihnen bedeckt zu sein. Drohend senkten die jungen Büffel die Köpfe, als die beiden näher kamen. Der Mann, dessen Menschenname Tapferkeit war, begann sich doch ein wenig zu fürchten, denn aus Erfahrung wusste er sehr wohl, dass es gefährlich war, mitten in eine Büffelherde zu dringen.

Eine Weile lebten beide bei den Bisons, wanderten mit der Herde über die endlose Prärie, immer auf der Suche nach Nahrung. Am Ende aber beschlossen sie, zu den Menschen zurückzukehren. Wieder wälzten sie sich auf der Erde und verwandelten sich so in menschliche Gestalt. Dann begaben sie sich zurück zu den Menschen. Doch kaum hatten sie das Dorf betreten, als der alte Zauberer seinen Sohn beiseite nahm und ihn fragte, wo er denn das ganze Jahr gewesen sei. Dieser aber gab eine ausweichende Antwort und wollte nichts von seinen Abenteuern berichten.

Von jetzt an kam es oft vor, dass der Jäger und seine Frau monatelang aus dem Dorfe verschwanden, und die Menschen wunderten sich, wohin sie wohl gehen mochten. Doch hüteten die beiden ihr Geheimnis. Einst, als sie als Büffel bei der Herde weilten, beschlossen die jungen Bisons., diesen Menschen aus ihrer Mitte zu vertreiben, denn sie glaubten, dass ein Jäger bei ihnen nichts zu suchen habe. Zu diesem Zwecke schlugen sie einen Wettlauf vor. Natürlich dachten sie, dass ein Bisonbulle ja viel schneller und ausdauernder sei als ein Mensch. Auf diese Weise hofften sie, dem Eindringling den Garaus zu machen. Tapferkeit musste wohl oder übel annehmen, wenn er nicht als feige gelten wollte.

Am Tage vor dem Wettlauf erschien plötzlich ein Unbekannter bei dem Bison. »Morgen wirst du um dein Leben laufen müssen, aber wenn du auf mich hörst, sollst du dennoch gewinnen. Nimm diese Wurzel hier, geheime Zauberkräfte ruhen in ihr. Wenn dir beim Wettlauf einer der Büffel zu nahe kommt, dann wirf die Wurzel hinter dich. Auch wird der Nächste, der dir den Platz streitig machen will, weit zurückbleiben, wenn du von diesem Lehm hinter dich wirfst. Doch musst du sogleich zu Beginn allen voraus sein, sonst kann ich dir nicht helfen. Kommst du dann nahe ans Ziel, so will ich dir selbst helfen, und wenn ich dir helfe, dann helfen dir auch andere Wesen.« Bei diesen Worten war der Sprecher verschwunden, und nur der Wind pfiff leise durch das hohe Gras.

Von weit her strömten die Bisons zusammen, um diesen Wettlauf zu erleben, denn nie hatte es dergleichen je gegeben. Dicht drängten sich die Leiber an der Stelle, an der das Rennen beginnen sollte. Die jungen Bullen lachten über den Menschen in Bisongestalt, der mit ihnen um die Wette laufen wollte. Tapferkeit stellte sich mitten unter sie und machte sich bereit. In den Händen hielt er die beiden Gaben des Unbekannten. Als ein alter Bulle das Zeichen gab, rannte alles auf das Ziel zu; allen voraus Tapferkeit; der ein guter Läufer war. Schon manches Mal war er auf der Jagd einem angreifenden Büffel davongerannt. Aber bald fingen seine Kräfte an zu erlahmen, und einer der Bullen kam immer näher. Da warf der Mann die Wurzel hinter sich und hatte mit einem Male wieder einen großen Vorsprung vor den anderen. Mit dem geheimnisvollen Lehm gewann er noch einmal eine Atempause und ließ die Verfolger hinter sich. Kurz vor dem Ziel aber sah er sich wiederum bedrängt. Da erhob sich plötzlich ein Sturm und trug ihn mit Windeseile über die Prärie zum Ziele. Da wusste Tapferkeit, dass der Wind jener unbekannte Helfer gewesen war, der für ihn das Rennen gewonnen hatte.

Von nun an lebte er unbehelligt bei den Büffeln, kehrte ab und zu ins Dorf zurück, und bald kannte er alle Geheimnisse der Menschen und der Bisons. Auch sein Sohn wuchs bald als Bison, bald als Mensch heran. Wenn sie im Dorfe waren, dann achtete die Mutter darauf, dass das Kind nicht mit den übrigen Jungen des Dorfes spielte und so das Geheimnis verriet. Eines Tages jedoch schlüpfte der Junge aus der Hütte und mischte sich unter die Kinder des Dorfes. Dort spielte man gerade Jäger und Büffel. Der Junge wälzte sich wie ein Bison im Gras und stand im nächsten Augenblick als Büffelkalb da! Schreiend liefen die übrigen Kinder auf ihn zu. Da sah die Mutter das Verhängnis und eilte mit ihrem Kinde zum Dorfe hinaus. Dort wälzte sie sich ebenfalls, und die erstaunten Menschen sahen kurz darauf zwei Büffel in die Prärie hinauslaufen.

Als der Mann von der Jagd heimkehrte, erzählte man ihm den Vorfall. Lange Zeit streifte er durch das Land, jede Bisonherde beobachtete er, aber nie fand er eine Spur von seiner Frau und von seinem Sohne. Und sooft er sich auch im Grase wälzte, stets stand er als Mensch wieder auf, er hatte die Kraft verloren, sich in einen Büffel zu verwandeln.