[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Brüder wandern durch die Welt

Es war einmal vor langer Zeit ein tugendhafter und gelehrter Mann, der hatte drei Söhne. Es wird gesagt: Der Sohn des Jägers spitzt die Pfeile, der Sohn des Schneiders schneidet Chalate zu. Die Söhne des Gelehrten verbrachten von klein auf all ihre Zeit über klugen Büchern. Der älteste von ihnen konnte noch nicht aufs Pferd steigen, aber die Leute kamen schon zu den Brüdern, um bei ihnen Rat zu holen.

Eines Tages erschienen zwei Männer mit zwei Kamelen und einem Kameljungen. »Wir haben folgende Sache vorzutragen«, sagten sie. »Jeder von uns besitzt ein Kamel. Stets weideten sie zusammen in der Steppe. Vor ein paar Tagen lagen nun zwei neugeborene Kameljungen neben ihnen. Eines war am Leben, das andere tot. Nun wissen wir nicht, wem das Kameljunge gehört, wessen Kamel seine Mutter ist. Beide nähren und hegen das Kleine, und es ist zu beiden gleichermaßen zärtlich.« Der älteste Bruder sprach: »Führt die Kamele zum Fluss.« Der mittlere Bruder riet: »Bringt das Kameljunge in einem Kahn ans andere Ufer.« Der jüngste fügte hinzu: »Dann wird sich der Fall von selbst klären.« Sie taten, wie ihnen die Brüder geheißen. Als das kleine Kamel allein am Ufer war, lief es ängstlich hin und her und schrie herzzerreißend. Die Kamele waren auch sehr aufgeregt und kreischten. Eines lief unruhig am Ufer entlang, das andere stürzte vom Abhang ins Wasser und schwamm zum Kameljungen. Da bezweifelte niemand mehr, dass dies seine Mutter war.

Die Kunde von dem großen Verstand der ungewöhnlichen Kinder verbreitete sich von Reiter zu Reiter, von jedem Vorübergehenden zum anderen durch die ganze Steppe. Der alte Gelehrte war glücklich und stolz auf seine Söhne. Jahre gingen hin. Der Vater wurde älter, die Kinder wuchsen heran. Als die Brüder das Jünglingsalter erreicht hatten, sagte der Gelehrte zu ihnen: »Nicht der weiß viel, der lange gelebt hat, sondern jener, der viel gesehen hat. Wer kennt den wahren Wert des Goldes? Nicht der Reiche, sondern der Goldschmied. Wer kennt den Wert des Essens? Nicht der, der es isst, sondern der, der es zubereitet. Wer kann den richtigen Weg weisen? Nicht der, der sich auf den Weg macht, sondern jener, der ihn gegangen ist. Legt eure Bücher aus der Hand und zieht durch die Welt, lest das Buch des Lebens, das weiseste aller Bücher.« Der Vater gab den Söhnen seinen Segen, und sie verließen für lange Zeit ihre Heimat.

So gingen die Brüder nun einen der tausenden Erdenwege und unterhielten sich.

Der älteste sagte: »Diesen Weg ist vor kurzem ein müdes Kamel gegangen.« Der mittlere sprach: »Ja, und dieses Kamel war auf dem linken Auge blind.« Der jüngste fügte hinzu: »Es war mit Honig beladen.« Da kam ihnen ein aufgeregter atemloser Mann entgegen. »Habt ihr nicht ein Kamel gesehen?« fragte er. »Diebe haben mein Kamel gestohlen.«

»Dein Kamel ist einen langen Weg gegangen und sehr müde, nicht wahr?« fragte der ältere Bruder. »Ja«, antwortete der Fremde. »Und es ist auf dem linken Auge blind?« fragte der mittlere Bruder. »Ja, ja!« freute sich der Unbekannte. »Hatte es nicht Honig geladen?« fragte der jüngere Bruder. »Ja, Honig! Sagt schnell, wo mein Kamel ist?«

»Das wissen wir nicht«, entgegneten die Brüder, »wir haben es nicht gesehen.«

Der Unbekannte entrüstete sich: »Wie wagt ihr es, mich zu belügen und zu behaupten, ihr hättet das Kamel nicht gesehen, wo ihr doch alle seine Merkmale kennt! Wahrscheinlich habt ihr das Kamel gestohlen und an einem heimlichen Ort versteckt.« Er erhob ein solches Gezeter, dass ihn vorüber kommende Krieger des Khans von weitem hörten. Auf das Geschrei hin kamen sie herbei geritten und brachten alle vier zum Khan. Der Khan begann das Verhör. »Ihr behauptet, ihr hättet das verschwundene Kamel nicht gesehen«, wandte er sich an die Söhne des Gelehrten, »aber wie könnt ihr dann dieses Kamel so genau beschreiben?«

Der ältere Bruder sprach: »dass das Kamel einen langen Weg hinter sich hat, erriet ich an der Spur: Ein müdes Tier zieht die Beine nach, es hatte eine lange Spur.« Der mittlere erklärte: »dass das Kamel auf dem linken Auge blind ist, erkannte ich daran, dass es am Wegesrand das Gras nur auf der rechten Seite gerupft hat.« Der jüngste sprach: »War es schwer zu erraten, dass das Kamel Honig trug, wenn sich auf dem Weg Fliegenschwärme tummelten?«

Der Khan staunte über die Scharfsicht der Brüder und über die Würde, mit der sie seine Fragen beantworteten. Aber er wollte ihre Klugheit noch einmal auf die Probe stellen. Er wickelte einen reifen Granatapfel in ein Tuch, hielt es den Brüdern hin und fragte: »Was halte ich in der Hand?« Der ältere Bruder sagte: »Etwas Rundes.« Der mittlere Bruder sprach: »Und etwas sehr Köstliches.« Der jüngste schlussfolgerte: »Mit einem Wort, einen Granatapfel, erlauchter Khan.« Der Khan strahlte. »Richtig!« rief er. »Noch nie sind mir so scharfsichtige Menschen begegnet. Ihr seid noch sehr jung, aber meine bärtigen Wesire sind nichts gegen euch. Bleibt drei Tage bei mir, führt der Reihe nach die Prozesse meiner Leute, und wenn ich euer Urteil als gerecht billige, so ernenne ich euch zu meinen Wesiren.« Als die alten Wesire das hörten, entbrannte in ihnen Hass auf die drei jungen Weisen, und sie entschlossen sich, sie zu verderben, um mit ihnen nicht den Erlös, die Macht und die Zuneigung des Khans teilen zu müssen.

Am ersten Tag hielt der älteste Bruder Gericht. Ihm wurden zwei Männer vorgeführt. Einer sagte: »Ich bin ein armer Hirte. Gestern habe ich aus Not meinen besten Hammel geschlachtet und heute den ganzen Tag Fleisch auf dem Basar verkauft. Den Erlös steckte ich in den Beutel, und dieser Mann da stahl ihn mir aus der Tasche.« Der andere leugnete entrüstet seine Schuld: »Der Hirte lügt. Ich habe einen Beutel mit Geld, aber der gehört mir. Der Spitzbube bringt eine falsche Beschuldigung gegen mich vor und möchte sich fremdes Eigentum aneignen.« Der Richter sprach: »Gib mir den Beutel. Sogleich werden wir klären, wem das Geld gehört.« Er trug den Dienern des Khans auf, eine Schale mit heißem Wasser zu bringen, und schüttete die Münzen aus dem Beutel hinein. Auf dem Wasser bildete sich sogleich eine dicke Fettschicht, als hätte man Hammelfleisch darin gekocht. Jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, dass der Hirte im Recht war. Der Richter gab ihm das Geld, den Dieb ließ er abführen.

Am zweiten Tag hielt der mittlere Bruder Gericht. Zu ihm kam ein dicker reicher Bei, prall wie ein Sack, und der schleppte einen armseligen Teufel hinter sich her. Der Bei sagte: »Dieser Lump borgte sechs Pfund Fleisch bei mir, weil sein Kind im Sterben lag. Er schwor, die Schulden in einer Woche zu begleichen, selbst wenn er sich das Fleisch aus seiner eigenen Wade herausschneiden müsste. Das Kind ist längst gestorben, die Wochen gehen dahin, aber der Niederträchtige macht keine Anstalten, mir das Fleisch zurückzugeben oder mir den Preis dafür zu zahlen.«

Der Richter fragte den Armen: »Warum hast du dem Bei deine Schulden nicht gezahlt?«

»Ich habe nichts«, antwortete der Arme vor Angst zitternd. »Bevor es Herbst wird, kann ich dem Bei meine Schulden nicht begleichen.«

»Ich denke nicht daran, bis zum Herbst zu warten!« schrie der Bei. »Dann will ich folgenden Urteilsspruch fällen«, sagte der Richter. »Bei, nimm ein Messer und schneide aus der Wade des Angeklagten sechs Pfund Fleisch heraus. Genau sechs Pfund! Wenn das Stück ein Hirsekorn mehr oder weniger wiegt, lasse ich dich auspeitschen.« Der Bei wurde starr vor Schreck und lief, sich in seinem Gewand verheddernd, so schnell ihn seine Beine trugen, davon. Alle lachten ihn aus, der Arme aber dankte dem Richter für sein gnädiges Urteil.

Am dritten Tag hatte der jüngste Bruder zu richten. Zu ihm waren zwei junge Männer gekommen. Der, der größer und kräftiger war, erwies sich als der Kläger, und er klagte: »Mein Freund hat mir eine Goldmünze geraubt.« Der Angeklagte rechtfertigte sich: »Ich habe das Geld mit ehrlicher Arbeit verdient. Nie stand mir der Sinn danach, jemanden zu kränken.« Der Richter fragte den Kläger: »Gab es einen Zeugen, als dein Freund dich anfiel?«

»Nein, einen Zeugen gab es nicht.«

»Dann wird euer Streit nicht so leicht zu schlichten sein«, sagte der Richter. »Ich werde darüber nachdenken. Vertreibt mir unterdessen die Zeit mit Ringkampf. Den Sieger will ich belohnen.«

Der Richter vergrub sich in seine Gedanken, die Dshigiten packten sich an den Gürteln und begannen den Kampf. Kaum war eine Viertelstunde vergangen, da hatte der Kläger den Angeklagten dreimal zu Boden geworfen. »Es genügt«, sagte der Richter. »Die Wahrheit ist ans Licht gekommen und mein Urteil gefasst. Der Dümmste sieht klar, wer von den Kämpfern der stärkere ist. Vor aller Augen hat der Kläger den Angeklagten dreimal hintereinander bezwungen. Kann man noch glauben, dass der Schwache dem Starken das Geld geraubt hat? Nein, der Angeklagte hat sich nichts zu schulden kommen lassen, dich frechen Kläger müsste man für Verleumdung und Erpressung hart bestrafen. Doch ich belohne dich, wie versprochen, für deine Kunst im Ringkampf mit Gnade. Geht nun und versöhnt euch, werdet wieder Freunde.«

Die Menge billigte den gerechten Urteilsspruch der drei Brüder, und auch der Khan war es zufrieden. Nur die alten Wesire spieen Gift und Galle. Sie versuchten dem Khan einzureden, die drei Brüder seien üble Gauner, und es wäre unbesonnen, den Fremden zu vertrauen, sie seien wahrscheinlich zum Khan ausgesandte Feinde und führten etwas Böses gegen ihn im Schilde. Doch der Khan schrie die Verleumder an und verkündete allen seinen Willen: »Ich ernenne die drei jungen Weisen zu meinen Wesiren. Tagsüber werden sie mir beim Regieren zur Seite sein, abends mit Geschichten die Zeit vertreiben und nachts über meinen Schlaf wachen.«

Die Tage vergingen. Der Khan fasste immer mehr Zuneigung zu den Jünglingen. Abends hörte er ihnen stundenlang zu und versank, von ihren wundersamen Geschichten eingewiegt, in Schlaf. Die Brüder bedienten den Khan der Reihe nach, und er brachte ihnen allen große Aufmerksamkeit entgegen, besonders aber dem jüngsten. Deshalb waren die alten Wesire gegen diesen besonders erbittert. Vor Neid vergehend, entschlossen sie sich, ihn zugrunde zu richten.

Als nun die Reihe an dem jüngsten Bruder war, dem Khan nicht von der Seite zu weichen, ließen die Wesire heimlich eine Giftschlange in das Schlafgemach des Khans. Sie hofften, der Khan würde, wenn er die Schlange sah, seinen Liebling einer bösen Tat verdächtigen und vor Empörung in Harnisch geraten. Dann würde es ihnen leicht fallen, den Khan dazu zu bringen, mit allen drei Brüdern abzurechnen. Die Nacht brach an. Der Khan lag im Bett, und der junge Wesir erzählte ihm eine alte Legende nach der anderen. Er sprach so gewandt, als hielte er ein unsichtbares Buch vor sich. Der Khan lauschte und fiel erst um Mittemacht in Schlummer.

Als der Jüngling nun die Leuchter auslöschen wollte, gewahrte er die schreckliche Schlange, die sich an den Khan heranschlich. Er zückte sein Schwert, schlug der Schlange den Kopf ab und warf den abgehackten Schlangenkörper unter das Bett. Er wollte gerade das Schwert in die Scheide stecken, als sich der von dem Geräusch erwachte Khan rührte und die Augen aufschlug. Als er den jungen Wesir mit dem erhobenen Schwert vor sich sah, sprang er auf und rief: »Hilfe, man will mich töten!« Sofort eilten die Leibwächter ins Schlafgemach, packten den Jüngling und warfen ihn bis zum Morgen ins Verlies.

Am Morgen versammelte der Khan alle Wesire zum Rat, sie sollten den Vorfall untersuchen und über das Los des Gefangenen entscheiden. Die Wesire sprachen, zuerst der Älteste, dann immer Jüngere, aber alle wiederholten ein und dasselbe. Wortreich und sich in schönen Worten übertreffend, beschuldigten sie den Jüngling des Verrats, des Treuebruchs und des Anschlags auf das Leben ihres Gebieters und Wohltäters, zu guter Letzt forderten sie die härteste und qualvollste Strafe für ihn. Der Khan nickte mit dem Kopf und verdüsterte sich. Innerlich frohlockten die Wesire, ließen es sich aber nicht anmerken. Sie waren sicher, dass ihnen das gewissenslose Komplott gelingen würde.

Nun hatte der älteste Bruder des Beschuldigten zu sprechen. »Erlaube, erlauchter Gebieter, dass ich dir anstelle der Gerichtsrede eine alte Parabel erzähle, wie meine Brüder und ich es so viele Nächte zu deinem Haupt getan haben«, hob er an. »Vor undenklichen Zeiten lebte einmal ein mächtiger Padischah. Mehr als alles auf der Welt liebte er einen sprechenden Papagei, der in seinen Gemächern in einem goldenen Vogelbauer saß. Der kluge Papagei gab dem Padischah Ratschläge, wenn der in Bedrängnis geriet, tröstete ihn im Kummer und erheiterte ihn in Mußestunden. Eines Tages trat der Padischah an den Vogelbauer und sah, dass der Papagei sich aufplusterte und traurig war. ›Was hast du, mein gefiederter Freund?‹ fragte der Padischah. Der Papagei antwortete: ›Freunde aus meiner fernen Heimat kamen an mein Fenster geflogen. Sie brachten mir die Nachricht, dass meine Schwester heiratet und mich auf ihrer Hochzeit zu sehen wünscht. lass mich in meine Heimat fliegen, mein Gebieter! Für diese Gnade bringe ich dir ein wertvolles Geschenk.‹ - ›wie viel Tage brauchst du für den Flug?‹ fragte der Padischah. ›Vierzig Tage, mein Gebieter. Am vierzigsten Tag bin ich wieder bei dir.‹

Der Padischah öffnete die Tür des Vogelbauers, und der Vogel flatterte mit einem Freudenschrei aus dem Fenster in die Freiheit. Der dabei anwesende Wesir sagte: ›Ich möchte jede Wette eingehen, dass der schlaue Vogel dich betrogen hat, mein Herrscher, und nie mehr in den Bauer zurückkehrt.‹ Böse Menschen sind misstrauisch und argwöhnisch, mein Khan, jener Wesir war ein Bösewicht. Es vergingen vierzig Tage, und der Papagei kam, getreu seinem Wort, zurück. Der Padischah freute sich sehr über ihn und fragte im Scherz: ›Was für ein Geschenk hast du mir gebracht, mein Freund?‹ Der Vogel öffnete den Schnabel und legte dem Padischah ein Körnchen auf die Handfläche. Der Padischah wunderte sich, aber da er von der Klugheit seines Papageien wusste, rief er seinen graubärtigen Gärtner herbei und befahl ihm, das Körnchen zu pflanzen. Am nächsten Tag war aus dem Körnchen ein schlanker Apfelbaum gewachsen, der tags darauf blühte und am dritten Tag viele würzige Früchte trug.

Der Gärtner pflückte den schönsten Apfel und wollte ihn dem Padischah bringen. Da trat ihm ein Wesir in den Weg. Er schalt den Gärtner dafür, dass er den Apfel in den Händen trug und hieß ihn eine goldene Schüssel holen. Während der Gärtner fort war, bestrich der Wesir den Apfel mit Gift, wartete, bis der Gärtner zurück war, und ging dann zusammen mit ihm zum Padischah. Der Gärtner erzählte von dem ungewöhnlichen Baum, stellte die Schüssel mit dem Apfel auf den Tisch und entfernte sich. Der Wesir aber sprach: ›Mein Gebieter, der Apfel sieht nur von außen so schön aus, Schönheit aber trügt mitunter. Mich dünkt, er ist giftig. Lasse einen zum Tode verurteilten Mörder aus dem Gefängnis kommen und von dem Apfel essen, bevor du ihn kostest.‹ Der Padischah befolgte den Rat des Wesirs. Der Räuber wurde an Ketten vorgeführt, musste in den Apfel beißen und fiel im nächsten Augenblick tot um.

Der Padischah geriet in ohnmächtige Wut. Er stürzte ins Nebenzimmer, holte den Papagei aus dem Bauer und drehte ihm den Kopf ab. Nach einiger Zeit wünschte der Padischah, sich den Apfelbaum selbst anzuschauen. Er ging in den Garten und rief den Gärtner. Da kam ein junger Mann, schlank und mit einem schönen Gesicht, auf ihn zugelaufen. ›Wer bist du?‹ fragte der Padischah. ›Ich bin dein Gärtner, mein Gebieter.‹ - ›Aber mein Gärtner war doch ein zittriger Alter‹, wunderte sich der Padischah. ›Der bin ich‹, sagte der junge schöne Mann. ›Nachdem du den Papagei getötet hast, glaubte ich, ich würde deinem Zorn nicht entkommen. Um nicht sinnlose Qualen dulden zu müssen, entschloss ich mich, meinem Leben ein Ende zu setzen, und aß einen giftigen Apfel. Ich pflückte einen und biss hinein, sogleich kehrte die Jugend zu mir zurück.‹ Der verwunderte Padischah näherte sich wie im Traum dem Wunderbaum, pflückte einen Apfel und rührte ihn an den Mund. Unbeschreibliche Wonne wallte durch seinen Körper, und er fühlte sich wieder jung und stark, wie er es mit achtzehn Jahren war. Nun musste er einsehen, dass er seinen treuen Papagei zu Unrecht getötet hatte, er weinte vor Schmerz und Reue, aber es war schon zu spät: Ein Herrscher kann das Leben nehmen, es wiedergeben steht aber nicht in seiner Macht.«

Der älteste Bruder verstummte. Der Khan saß unbeweglich, in Gedanken versunken. Dann gab er dem mittleren Bruder das Zeichen zu sprechen. Der hob an: »Allmächtiger Khan, auch ich will dir eine ähnliche Geschichte erzählen. Sie trug sich vor langer Zeit zu, in einem anderen Land und mit einem anderen Padischah. Dieser Padischah war von Kindheit an ein leidenschaftlicher Jäger. Ganze Tage und Monate ritt er auf seinem feurigen Pferd durch die Steppe und jagte Tiere und Vögel. Der Padischah hatte einen Berkut, seinen Lieblingsadler, wie ihn vor ihm und nach ihm kein anderer Jäger besaß.

Einmal geriet der Padischah, während er einer Steppenantilope nachjagte, in eine leblose Wüste. Die Sonne brannte erbarmungslos, nirgends gab es Wasser, der Padischah starb fast vor Durst. Plötzlich sah er einen Felsen, aus dem eine kleine Quelle rann. Der Padischah zog eine goldene Schale hervor, schöpfte Wasser und setzte bereits zum Trinken an, als der Berkut sich auf die Schale stürzte, und das ganze Wasser verspritzte. Der Padischah wurde böse, schrie den Berkut an und schöpfte wieder Wasser. Doch abermals flog der Berkut auf die Schale und schlug sie dem Padischah aus der Hand. In seinem Zorn warf der Padischah dem Berkut die leere Schale an den Kopf. Dieser fiel tot zu Boden. Der Padischah ging näher an die Quelle und war starr vor Entsetzen. Aus den Felsenritzen kroch eine riesige Schlange. Kein Wasser, sondern tödliches Gift rann den Felsen herunter! Der Padischah sprang in den Sattel und stobte von dannen. Nun begriff er, dass Umsicht besser ist als Voreiligkeit, dass ein hoher Rang nicht vor schicksalsschweren Fehlern schützt, dass ein Weiser und nicht ein Mächtiger Gut und Böse zu unterscheiden vermag.«

»Genug! Schweige!« rief der Khan, rollte drohend die Augen und erhob sich von seinem Platz. »Ihr seid beide mit eurem Bruder verschworen, wollt den Übeltäter reinwaschen, um der Rache zu entgehen und ihn und euch selbst zu befreien. Eurer Meinung nach ist nicht er in meiner Schuld, sondern ich bin ungerecht zu ihm. Doch wenn es so ist, warum hat er dann sein Schwert gegen seinen Herren erhoben?«

»Das wissen wir nicht«, antworteten die Brüder. »Frage ihn doch selbst.«

»Führt den Gefangenen her«, rief der Khan der Wache zu. Da stand nun der jüngste der drei Brüder vor dem Khan und vor den Wesiren.

Der Khan, der den Jüngling prüfend betrachtete, fragte: »Sage ohne Hehl, denn durch keine List entgehst du der Strafe, warum du gestern Nacht das Schwert an meinem Bett gezückt hast.«

»Um dir das Leben zu retten«, antwortete der Jüngling seelenruhig. »Wer, wenn nicht du, hat mir mit dem Tod gedroht?«

»Die Schlange war es, die dich beißen wollte und der ich mit dem Schwert den Kopf abschlug.«

»Die Schlange? Was redest du! Wie konnte denn eine Schlange in mein Schlafzimmer gelangen?« fragte der Khan fassungslos. »Deine erfahrenen Wesire, auf die du so viel hältst, können dir diese Frage besser beantworten.«

Der Khan lief ins Schlafgemach und kam nach einer Weile langsamen Schritts und gesenkten Hauptes in den Gerichtssaal zurück. Mit Tränen in den Augen trat er auf den jüngsten Bruder zu, umarmte ihn und sprach bewegt: »Verzeihe mir, mein treuer Freund und Retter! Jetzt kenne ich die Wahrheit. Wünsche dir, was du willst, als Lohn für die Kränkung, ich schwöre es vor allen, dass ich dir und deinen Brüdern keinen Wunsch abschlage.« Der Jüngling sagte: »lass uns drei gehen, befreie uns vom Dienst, großmütiger Khan. lass uns weiter durch die Welt wandern. Unser Weg ist noch nicht zu Ende. Das Buch des Lebens, das weiseste aller Bücher, ist noch nicht einmal bis zur Hälfte gelesen.« Diese Bitte hatte der Khan nicht erwartet. Wieder wallte Zorn in ihm auf, er lief blutrot an, aber den gegebenen Schwur durfte er nicht brechen. Und die Brüder verließen den Khan.