[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Zauberwald

Ein reicher Mann hatte einen Sohn, den er liebevoll erzog. Und als der Sohn herangewachsen war, sandte er ihn in die Welt hinaus, nicht um Geld zu verdienen, sondern um Erfahrungen zu sammeln. Er überreichte ihm einen Zehrpfennig, trug ihm auf, sparsam damit umzugehen, gab ihm seinen Segen und ließ ihn ziehen. Über kurz oder lang kam der Jüngling in eine Stadt, wo gerade einer zum Galgen geführt wurde. Er lief hinzu und erkundigte sich, was der Unglückliche verbrochen hätte. »Er kann seine Schulden nicht bezahlen!« war die Antwort. »Deshalb wurde er nach den Gesetzen unseres Landes zum Tode verurteilt.«

»Meine Herren Richter!« rief der Jüngling. »Erlaubt Ihr mir, diesen Mann freizukaufen?«

»Freilich!« war die Antwort. »Wenn du seine Schulden bezahlst, kannst du ihn haben.« Da zog der Jüngling seinen Zehrpfennig aus der Tasche, verkaufte obendrein seine Kleidung bis zum letzten Hemd und bekam auf diese Weise genügend Geld zusammen, um den Verurteilten auszulösen. Danach zog er mit ihm weiter, und beide fristeten ihr Leben durch milde Gaben. »Ich bin dieses Daseins überdrüssig«, sagte der Freigekaufte eines Abends, als sie sich zum Schlafe ausgestreckt hatten, »zudem krampft sich mir das Herz zusammen, wenn ich mit ansehen muss, wie du meinetwegen hungerst. Komm, lass uns zum Zauberwald gehen, dort wohnen meine Milchgeschwister, sie sollen uns sagen, wie wir reich werden können.« Der Jüngling war's zufrieden, und sie machten sich auf die Reise.

Es war ein langer Weg. Der Freigekaufte ging voran, der Jüngling hinter ihm her. Als sie sich aber eines Tages einem Wald näherten, dessen Bäume bis zum Mond emporragten, wusste der Jüngling, dass sie am Ziel waren. Und bald sah er, dass die Stämme der Bäume aus Silber und ihre Blätter aus Gold bestanden. Zwischen den Bäumen aber loderten Flammen, und über ihnen wogten seltsame Nebelschwaden. »Was ist das?« fragte er erschrocken. »Fürchte dich nicht«, gab sein Gefährte zur Antwort, »das sind meine Milchschwestern und ihre Mütter. Aber zu zweit dürfen wir nicht vor sie treten. Warte deshalb am Waldrand unter dem Perlenbaum auf mich. Doch merke dir: Wenn dir dein Leben lieb ist, dann rühre dich nicht vom Fleck, bis ich zu dir zurückkehre. Unter jenen Zauberbäumen dort versammeln sich nämlich zur Sommerszeit die Feen mit ihren Stickrahmen, um zu sticken. Wenn sie einen Jüngling erblicken, blenden sie ihn mit ihren Blicken oder verwandeln ihn in ein Tier des Waldes.« Nach diesen Worten verschwand er so plötzlich, als wäre er in der Erde versunken. Der Jüngling wartete anfangs, ohne sich vom. Fleck zu rühren. Als aber sein Gefährte längere Zeit ausblieb, wurde er ungeduldig und ging in den Wald hinein. Plötzlich erblickte er eine Schar von geflügelten Jungfrauen, die tanzten unter den Bäumen einen Reigen und sangen dazu. Er wollte sich verstecken, um sie näher zu betrachten und ihrem Lied zulauschen. Doch die Vorsängerin hatte ihn schon erspäht, sah ihn mit ihren Zauberaugen an, und im selben Augenblick ward er blind und stumm. Vor Entsetzen brach er in Tränen aus.

Da rauschte ein Flügelpaar, sein Gefährte stand vor ihm und nahm ihn bei der Hand. »Wovor fürchtest du dich?« fragte er. Und als der Jüngling ihm durch Zeichen bedeutete, was ihm zugestoßen war, zog sein Gefährte eine kleine Flöte aus dem Gürtel, erklomm den nächsten Perlenbaum und begann zu spielen. Die süßen Klänge lockten alle Zauberer und Feen, alle Milchbrüder und Milchschwestern herbei, so viele, dass niemand sie hätte zählen können. Ihr Milchbruder trat vor sie bin, erzählte ihnen, auf welche Weise der Jüngling ihm das Leben gerettet hätte, und forderte sie auf, seinem Lebensretter Augenlicht und Sprache zurückzugeben. Da holten sie bereitwillig Heilkräuter aus dem Wald, legten sie dem Jüngling auf Augen und Zunge, und im selben Augenblick konnte er wieder sehen und sprechen und war überglücklich. Nun fühlten die Feen ihn in den Wald hinein und schlugen ihm vor, die Schönste aus ihrer Mitte zur Frau zu nehmen. Das tat er, und durch die Schätze, die er als Hochzeitsgeschenk erhielt, wurde er ein reicher Mann.