[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Wundervogel

Ob es so war oder nicht - ein Mann hatte drei Söhne. In seinem Garten gediehen Apfelbäume, die riesige Äpfel trugen. Eines Tages bemerkte der Mann, dass die Äpfel gestohlen waren. Der Vater rief seine Söhne zu sich und sprach: »Ich will diesen Dieb fassen. Geh du, mein Ältester, in den Garten und wache dort bis zum Morgengrauen.« Der älteste Sohn tat, wie ihm geheißen. Er blieb aber nur bis zum Einbruch der Dunkelheit im Garten, ging nach Hause und legte sich schlafen. Morgens begab er sich zu seinem Vater und sagte, dass er nichts bemerkt habe. Ebenso hielt es der zweite Sohn. In der dritten Nacht zog der Jüngste auf Wache. Um Mitternacht breitete sich ungewöhnlicher Nebel über den Garten, es regnete, dann schwebte ein Vogel herbei und pickte an einem Apfel. Lange betrachtete ihn der Jüngling. Dann stieß er einen lauten Ruf aus, und der Vogel flog davon. Von jenem Apfelbaum aber fiel etwas herab, glühendrot wie eine Flamme. Als der Jüngling näher trat, erblickte er eine leuchtende Feder.

Morgens brachte der jüngste Sohn dem Vater die Feder und erzählte, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Der Vater sprach zu seinen Söhnen: »Zwei von euch waren zwar faul, doch wenn ihr mich wirklich liebt, so zieht in die Welt und sucht diesen wundersamen Vogel.« Die beiden Älteren machten lange Ausflüchte, fügten sich aber am Ende, und die drei Brüder begaben sich auf den Weg.

Sie wanderten einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Ständig folgte ihnen ein Wolf. Der jüngste Bruder bemerkte ihn und warf ihm, wenn er aß, stets einige Brocken zu. Endlich gelangten die drei Brüder an eine Wegscheide. Auf einem Pfahl war eine Inschrift angebracht: »Gehst du nach rechts, so kehrst du wohlbehalten zurück. Gehst du nach links, so findest du den sicheren Tod. Gehst du geradeaus, so kehrst du zurück, oder du findest den sicheren Tod.« Die Brüder zogen das Los, und der Ältere musste nach rechts. Der Mittlere ging geradeaus und der Jüngste nach links, in den sicheren Tod. Nach ein paar Schritten holte der Wolf den Jüngsten ein und rief: »He, Jüngling, warum gehst du hier entlang?« Antwortete der jüngste Sohn: »Ich gehe diesen Weg, weil ich den wundersamen Vogel suche, der unsere Äpfel geholt hat.«

»Allein wird es dir schwer werden. Ich will mit dir gehen«, schlug der Wolf vor.

So zogen sie zu zweit weiter. Bald erblickten sie eine Stadt vor sich. Der Wolf erzählte: »Dein Vogel lebt hier beim Khan. Vierzig Krieger bewachen ihn. Schleiche dich nachts in den Hof des Palastes. Dort schläft der Vogel auf einem Tisch. Aber trage ihn mit dem Kopf nach unten fort, sonst fliegt er davon.« Der Jüngling tat, wie ihm der Wolf geraten. Er schlich sich in den Hof des Khans, griff den Vogel und trug ihn mit dem Kopf nach unten fort. Doch da er fürchtete, der Vogel könne ersticken, setzte er ihn auf seine Hand. Im selben Augenblick breitete der Vogel die Schwingen aus und flog davon. Der Jüngling kehrte zum Wolf zurück und erzählte, was ihm widerfahren war. Jener meinte: »Was tun? Versuche es noch einmal! Misslingt es dir wieder, so hast du selbst Schuld.«

In der darauf folgenden Nacht machte sich der Jüngling wieder auf nach dem Vogel, doch die Wache ergriff ihn und zerrte ihn vor den Khan. Der fragte: »Wer hat dich nach meinem Vogel ausgesandt?« Antwortete der Jüngling: »Mein Vater. Wenn du mir den Vogel nicht gibst, wird mich mein Vater umbringen.« Der Khan überlegte. »Ich will dir den Vogel geben, doch zuvor musst du mir das wunderschöne Pferd vom Nachbar-Khan bringen.« Der Jüngling kehrte zum Wolf zurück und erzählte ihm alles. Der Wolf erwiderte: »Es gibt Schlimmeres. Mach dich auf den Weg, aber tu alles, was ich dir sage. Der Khan hält das Pferd in einem Raum aus Backstein. Klettre durchs Fenster und führe das Pferd hinaus, doch sitze nicht auf, sonst kommst du wieder mit leeren Händen zurück.« Der Jüngling vergaß auch diesmal die Warnung des Grauwolfs. Er schwang sich aufs Pferd, und es trabte los, geradewegs in den Hof des Khans. Die Palastwache packte den Jüngling und zerrte ihn vor den Gebieter. »Sei's drum«, meinte der Khan gnädig. »Ich will dir verzeihen und schenke dir das Pferd, nur musst du mir dafür die schöne Tochter des Khans jenseits des Meeres bringen.« Der Wolf hatte Bedenken. »Das wird eine schwierige Aufgabe, doch wir wollen versuchen, das schöne Mädchen zu entführen.« Sie machten sich auf den Weg, der Jüngling hoch zu Ross, der Wolf trabte nebenher. So kamen sie zum Meer. »Halt!« befahl der Wolf. »Jetzt lass das Pferd zurück und sattle mich.« Der Jüngling gehorchte, und der Wolf verwandelte sich in ein Pferd. Sie schwammen über das Meer und gelangten bald an die Tore einer Stadt, wo gerade die Vermählung der Tochter des Khans gefeiert wurde. Der Wolf sagte: »Ordne dich in den Hochzeitszug ein. Ich werde ein so schönes Reitpferd sein, dass die Tochter des Khans auf mir reiten will. Dann entführen wir sie.«

Gesagt, getan. Die Braut fuhr in einer Arba, und zu beiden Seiten vollführten viele Reiter ihre Kunststücke im Sattel. Der Jüngling mischte sich unter sie, und sein Ross zeichnete sich durch besondere Eleganz aus. Als der Festzug die Stadt verließ, rief die Tochter des Khan: »Ich will nicht länger in der Arba sitzen! Lasst mich auf diesem Ross dort reiten!« Sie schwang sich zu unserem Jüngling in den Sattel, und ehe es sich jemand versah, jagte das Pferd wie ein Blitz davon. Die Verfolger setzten ihnen nach, doch das Pferd stürzte sich ins Meer und schwamm davon. Die Verfolger schossen mit Pfeilen nach ihm, doch keiner traf es. So gelangten der Jüngling, die Tochter des Khans und der Wolf wohlbehalten ans andere Ufer. Dort fanden sie das zurückgelassene Pferd. Der Wolf verschlang es. Dann gelangten sie in das Reich jenes Khans, der ihnen das Ross als Lohn für die schöne Jungfrau versprochen hatte. Der Wolf sprach: »Verstecke deine Braut in der Höhle! Ich aber will mich in ein schönes Mädchen verwandeln. Du führst mich zum Khan. Gegen Abend komm ich zurück.«

Gesagt, getan. Mit Freuden schenkte der Khan dem Jüngling das Pferd. Abends kehrte der Wolf in die Höhle zurück, und sie setzten zu dritt ihren Weg fort. Bald erreichten sie die Ländereien jenes Khans, der ihnen den Vogel im Tausch für das Pferd zugesichert hatte. »lass die Braut und das Pferd in der Höhle!« ließ sich der Wolf wiederum vernehmen. »Ich will mich in ein Pferd verwandeln, und du bringst mich zum Khan. Abends komm ich zurück.«

Gesagt, getan. Mit Freuden gab der Khan dem Jüngling den Vogel. Abends kehrte der Wolf zur Höhle zurück, und sie setzten ihre Reise fort. Endlich gelangten sie an den Ort, wo der Jüngling von seinen Brüdern Abschied genommen hatte. Jeden Vorüberkommenden fragte er nach ihnen. »Ja, nicht weit von hier lebt ein Landstreicher, der flicht für einen Maisfladen Körbe. Vielleicht ist das dein Bruder«, meinte einer. Der Jüngling ritt in die gewiesene Richtung und erkannte seinen ältesten Bruder. »Dort haust ein bettelarmer Kerl, der hütet für ein paar Groschen eine ganze Herde«, erzählte ihm ein anderer. Der Jüngling ritt zu der Herde und erkannte in dem Hirten seinen mittleren Bruder. Nachdem der Jüngling vom Wolf Abschied genommen haue, machten sich die drei Brüder gemeinsam mit der schönen Jungfrau auf den Heimweg. Unterwegs sprach der Jüngste zu den Älteren: »Ach Brüder, ich habe, seit ich unterwegs bin, kein Auge zugetan. Ich will mich ein wenig zur Ruhe legen. Ihr aber haltet Wache.«

»Schlaf dich nur aus!« meinten darauf die Brüder. Während der Jüngling schlief, berieten sie miteinander. »Was werden die Leute sagen, wenn sie unsere Schande sehen? Lieber erschlagen wir den Bruder, nehmen ihm alles ab und erzählen dem Vater, wir haben die Schätze erworben.« Sie blendeten den Bruder, raubten ihn aus und machten sich auf den Heimweg. Als sie fort waren, begann der jüngste Bruder zu beten. Da kam ein Vogel geflogen, schlug mit den Schwingen, und. der Jüngling konnte wieder sehen.

So kehrte auch er heim und begegnete unweit von seinem Vaterhaus einem Viehhirten. »Was gibt es Neues im Aul?« fragte der jüngste Bruder. »Ein Held feiert seine Hochzeit. Da sind alle zum Festschmaus geladen«, erwiderte der Hirt. Der Jüngling bat: »Komm, tausch mit mir deine Kleider! Ich möchte mir das Hochzeitsfest anschauen.« Der Hirt willigte ein, und der jüngste Bruder gelangte in den Kleidern des Viehhirten auf den elterlichen Hof. Seine Braut, die Tochter des Khans, der jenseits des Meeres lebte, hatte aber verkündet, dass sie nur den ehelichen werde, der den Bogen ihres Bräutigams zu spannen vermöge. Umsonst bemühten sich die beiden Brüder. Es fehlte ihnen an Kraft. Da trat der jüngste Bruder in der Gestalt des Hirten vor sie und sprach: »Lasst mich es einmal versuchen.« Die älteren Brüder erkannten ihn nicht und reichten ihm lachend Pfeil und Bogen. »Nun, ehrliche Gäste«, sagte der Jüngling, »wen soll ich treffen, den Hahn oder das Huhn dort auf dem Weg?« Die Braut aber hatte ihn erkannt und sprach: »Den Hahn!« Da spannte der Jüngling den Bogen und erschlug beide Brüder. Die Braut fiel ihm um den Hals, und sie erzählten alles dem Vater. Was gab das für eine Freude! Die beiden älteren Brüder aber wurden am Hoftor verscharrt, und seither spieen alle auf ihr Grab.