[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Wucherer und der Arme

Es war einmal ein armer, aber schlauer Mann. Er begab sich zum Wucherer, bat um einen Kurusch und versprach, am nächsten Tag zwei zurückzubringen. Der Wucherer lieh ihm die Silbermünze. Am Abend desselben Tages gab der Arme zwei Kurusche zurück. Nach ein paar Tagen kam der Arme wieder zum Wucherer, bat um drei Kurusche und versprach, sie in drei bis vier Wochen zurückzubringen. Zwei Tage später gab er die Schuld zurück. Nach einiger Zeit bat er den Wucherer um zehn Kurusche und versprach, in fünfzehn Tagen fünfzehn Münzen zurückzubringen. Kaum waren fünf oder sechs Tage vergangen, da zahlte der Arme das Geliehene zurück. Dann bat er um hundert Kurusche und wollte einen Monat später hundertzwanzig zurückbringen, kam jedoch schon nach zwanzig Tagen mit hundertzwanzig Silbermünzen und dankte dem Wucherer mit folgenden Worten: »Dein Geld hat mir Glück gebracht. Ich habe ein vorteilhaftes Geschäft abgeschlossen.« Der Wucherer war aufs höchste erfreut und versprach: »Wann immer du kommen magst, für dich habe ich stets Geld bereit.«

Die Zeit verging. Da kam der Arme wieder zum Wucherer und bat ihn um hundert Tumane. Er versprach, in einem Jahr hundertvierzig zurückzuzahlen. Zugleich hinterlegte er eine schriftliche Verfügung, dass, falls er die Rückzahlungsfrist nur um einen einzigen Tag verzögere, er bereit sei, sich einen Batzen Fleisch aus seinem Körper schneiden zu lassen. Ein Jahr verging, und ein zweites war ins Land gezogen, der Arme aber blieb verschwunden. So begann der Wucherer nach dem Armen zu suchen, doch als er ihn endlich ausfindig gemacht hatte, ließ ihn der andere überhaupt nicht zu Worte kommen, sondern überhäufte ihn mit Vorwürfen. »Wie kann man Geld ausleihen, das Unglück bringt? Du bist schuld daran, dass ich mein ganzes Geld verloren habe. Ich denke nicht daran, meine Schulden zu bezahlen.«

Schließlich kam der Fall vors Gericht. Als der Arme zur Verhandlung ging, erblickte er einen flüchtigen Stier, hinter dem der Besitzer herjagte und völlig atemlos die Leute um Hilfe anrief. Der Arme versperrte dem Ochsen mit erhobenem Wanderstab den Weg. Der rannte in den Stab und schlug sich ein Auge aus. Der Besitzer des Stieres ging gleich mit zum Gericht, um den Armen ebenfalls zu verklagen. Vor dem Aul, in dem das Gericht tagen sollte, dachte der Arme, die Gerichtsherren könnten kein Einsehen mit ihm haben, wenn er mit zwei Klägern käme. So beschloss er kurzerhand zu fliehen. Da kam eine hochschwangere Frau des Wegs. Der Arme riss sie um, und die Frau gebar ein Siebenmonatskind. Der Mann dieser Frau ging ebenfalls zum Gericht. Dann begegneten sie einem Bewohner des Auls Balchar, dessen Maulesel in einer Pfütze stecken geblieben war. Der Arme wollte dem Mann helfen, zerrte den Esel aus der Pfütze und riss ihm dabei den Schwanz ab. Da schrie der Mann wütend: »Ich will keinen Esel ohne Schwanz!« Und er begab sich ebenfalls zum Gericht. Angestrengt sann der Arme nach, wie er sich von den vier Klägern befreien könne. Zu seinem Glück war der Richter nicht daheim, nur seine junge Frau hütete das Haus. Der Arme kam mit ihr ins Gespräch, erzählte ihr von all seinem Missgeschick und bat die Frau, ihm zu helfen. Die versprach es.

Am nächsten Morgen wurden alle Kläger vor den Richter gerufen. »Wenn du ein guter Mensch wärst, hättest du nicht vier Kläger. Du wirst schon sehen, was ich mit dir mache«, drohte der Richter finster. Diese Worte erfreuten die Kläger. Der Richter fuhr fort: »Unterschreibt, dass derjenige, der sich mit dem Gerichtsbeschluss nicht einverstanden erklärt, demjenigen, der ihm zustimmt, zehn Tumane zahlt.« Alle vier Kläger gaben sofort ihre Unterschrift. Der Arme zögerte zwar, fügte sich dann jedoch. Nun ließ der Richter jeden seine Klage vortragen. Der Wucherer zeigte sofort die schriftliche Verpflichtung des Armen, dass jener bereit sei, sich einen Batzen Fleisch aus dem Körper schneiden zu lassen, wenn er seine Schuld nicht abtragen könne. Der Richter reichte dem Wucherer ein scharfes Messer und sprach: »Ich gestatte dir, dies zu tun, doch nur unter einer Bedingung: Du musst genau die ausgemachte Menge herausschneiden, andernfalls wird man dir, was du zuviel oder zuwenig genommen hast, aus deinem eigenen Körper schneiden.«

»Ich bin doch nicht Allah! Wie kann ich genau die ausgemachte Menge herausschneiden?« empörte sich der Wucherer und erhob Einspruch gegen das Urteil. Drauf verpflichtete ihn der Richter, dem Armen zehn Tumane auszuzahlen. Dem Besitzer des Stieres schlug der Richter vor: »Schlachte deinen Ochsen und teile den Kopf in zwei Hälften. Dann zieh auf die Basare und finde heraus, um wie viel die Hälfte mit dem Auge teurer ist. Diesen Unterschied mag dir der Angeklagte auszahlen.«

»Wegen zwei Sechsern schlachte ich doch nicht meinen Stier!« wandte der Besitzer ein und erhob ebenfalls Einspruch gegen das Urteil. So musste auch er zehn Tumane zahlen.

Dem jungen Ehemann gab der Richter folgenden Rat: »Da der Säugling ein Siebenmonatskind war, gib dem Armen deine Frau für sieben Monate, damit wieder ein Kind zur Welt kommt. Geschieht dies nicht, so räche den Tod deines Kindes mit Blut!«

»Bei uns ist es Brauch, die Ehefrau zu töten, wenn sie nur eine einzige Stunde bei einem anderen Manne verweilt«, wandte der Kläger ein und erhob wie die anderen Einspruch gegen das Urteil. Er musste ebenfalls zehn Tumane auf den Tisch legen. Als der Mann aus dem Aul Balchar merkte, welche Wendung die Sache nahm, dachte er bei sich: In was für eine Sache bin ich da geraten! Drum antwortete er, als der Richter ihn aufforderte, seine Klage vorzubringen: »Mein Maulesel, hat gar keinen Schwanz gehabt!« Sprach's und rannte auf und davon.