[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der weise Ali

In uralten Zeiten lebte auf der Welt ein böser, grausamer Khan. Die Menschen zitterten, allein wenn sein Name genannt wurde. Ging der Khan durch den Aul, versteckten sich alle in ihren Häusern. Für das geringste Vergehen strafte der Khan seine Diener aufs härteste. Er besaß keine Freunde. Niemand wollte mit ihm etwas zu tun haben. Alle fürchteten ihn. Der Khan richtete selbst seine Frau mit seiner Hartherzigkeit zugrunde. Der einzige, mit dem er sprach, war sein Sohn. Hussein, so hieß der Sohn, zog täglich auf Jagd. Soviel der Khan den Sohn bitten mochte, nicht so häufig auf Jagd zu gehen, der Jüngling schlug alle Bitten des Vaters in den Wind.

Einmal machte sich Hussein wie gewöhnlich mutterseelenallein auf in den Wald. Bevor er das Anwesen verließ, begegnete ihm ein alter Wächter. »Ich gehe auf Wildschweinjagd«, verkündete Hussein stolz. »Pass auf, Junge, sei vorsichtig!« riet ihm der Alte. Hussein winkte ihm zum Abschied nur zu, schwang sich in den Sattel und ritt davon. Es dunkelte bereits, doch Hussein kehrte nicht heim. Da trat der Khan aus seinem Palast und fragte unruhig: »Wo ist Hussein? Wo ist mein Sohn?« Die Bediensteten erschraken und wussten nicht, was sie antworten sollten. Sie wagten ihm nicht zu sagen, wohin Hussein geritten war, denn wenn der Khan erführe, dass Hussein allein auf Jagd gezogen war, würde ihnen der Khan den Kopf abschlagen lassen.

Die Nacht brach herein. Der Khan fand keine Ruhe. Endlich rief er seine Diener und befahl: »Sattelt eure Pferde und sucht Hussein! Eins aber sollt ihr wissen; Wer mir eine schlechte Nachricht bringt, dem lasse ich kochenden Teer in den Mund gießen.« Die Bediensteten sattelten ihre Pferde und zogen in verschiedene Richtungen aus, um den Sohn des Khans zu suchen. Bald stießen sie auf Husseins leblosen Körper. Er lag unter einem Baum mit klaffender Wunde auf der Brust: Ein Eber hatte ihm mit seinen Hauern das Herz herausgerissen. Voller Furcht überlegten die Diener: »Was wird nun mit uns? Wie sollen wir dem Khan diese Nachricht beibringen?« Endlich meinte der älteste unter ihnen: »Ihr kennt alle den Hirten Ali. Er ist zwar arm, aber ein kluger Mensch. Ali weiß alles und kann alles. Wir wollen zu ihm gehen und ihn um Rat fragen.«

Als Ali die Bediensteten des Khans angehört hatte, dachte er lange nach und meinte schließlich: »Bis zum Morgen ist's noch lange hin. Legt euch zur Ruhe und schlaft. Ich will versuchen, euch zu helfen.« Die übermüdeten Bediensteten schliefen sofort ein. Unter Alis Händen aber entstand ein Kumus. Morgens weckten die traurigen Klänge des Kumus die Schläfer. Es klang, als sänge ein lebendiges Wesen. Der Hirte sagte: »Gehen wir also zum Khan!« Zusammen mit den eingeschüchterten Dienern trat Ali vor den Khan. »Du bringst mir Nachricht von meinem Sohn?« fragte der Khan den Hirten. »Ja, mein Gebieter«, erwiderte Ali. Dann setzte er sich und ließ, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, seinen Kumus erklingen.

Die Seiten des Instruments klagten und weinten. In der herzzerreißenden, wehmütigen Melodie vernahm man einmal den Hilferuf eines Menschen, dann wieder das wütende Heulen eines wilden Tieres. Alle Zuhörer erstarrten vor Schreck, so deutlich berichtete der Kumus von allem, was geschehen war. Der Khan sprang auf und schrie drohend: »Du bringst mir die Nachricht vom Tode meines Sohnes? Weißt du, dass ich geschworen habe, demjenigen, der mir diese Botschaft überbringt, kochenden Teer in den Mund zu gießen?«

»Mein Gebieter, ich habe dir keine Nachricht überbracht. Ich habe kein Wort über deinen Sohn gesagt. Wenn du erzürnt bist über den Boten, so nimm den Kumus hier und richte ihn.«

Außer sich vor Schmerz und Groll entriss der ergrimmte Khan dem Hirten den Kumus und schleuderte ihn zu Boden, dass er in Stücke zerschellte. So rettete Ali mit seiner Weisheit die Diener des grausamen Khans vor dem sicheren Tod.