[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der verwundete Vogel

Es war einmal ein König, der war Witwer und hatte eine sehr schöne Tochter. Seinem schloss gegenüber lebte eine Dame, die war auch Witwe und hatte eine Tochter. Da die Dame wusste, dass der König verwitwet war, so trachtete sie mit allen Mitteln danach, ihn zu gewinnen und Königin zu werden, und sie ließ keine Gelegenheit vorübergehen, die Tochter des Königs zu beschenken und ihr zu sagen:

»Mein liebes Kind, es tut mir so von Herzen leid, dich ohne Mutter aufwachsen zu sehen, dass ich mich mit deinem Vater, wenn er es wollte, verheiraten würde, obwohl ich nie die Absicht hatte, wieder zu heiraten. Doch ich würde dich so gern zu einer großen Dame erziehen, denn sowohl ich wie meine Tochter würden dir ergebene Diener sein, damit es dir an nichts fehle.« Das junge Mädchen bedankte sich, und da sie dies viele Male von ihr hörte, sagte sie es eines Tages ihrem Vater. »Wisst Ihr, dass die Dame von gegenüber mir das gesagt hat?«

»Pah«, sagte der Vater, »sei nicht dumm, das sagt sie dir jetzt; doch sobald sie verheiratet ist, wird sie genau das Gegenteil tun, und das Beste und Schönste wird für ihre Tochter sein.«

»Glaubt das nicht, Vater«, sagte die Tochter, »denn sie ist wirklich eine gute Frau. Wenn ich bei ihr bin, scheint ihr alles zu gering, um es mir zu geben.«

Obwohl der Vater sich immer wieder weigerte, bat die Tochter, die von der Witwe angestachelt wurde, so sehr darum, dass der König schließlich nachgab und sie heiratete.

Anfangs ging alles gut; doch bald brach ein Krieg aus, und der König musste plötzlich fort. Und er gab seine Tochter in die Obhut der Stiefmutter. Doch sobald der Vater das Haus verlassen hatte, begann die Stiefmutter, seiner Tochter das Leben zur Plage zu machen, denn sie konnte sie nicht ausstehen, weil sie hübscher war als ihre eigene Tochter; und immer, wenn sie ihrem Mann schrieb, sagte sie ihm, dass seit seinem Scheiden keiner seine Tochter mehr zügeln könne, dass sie sich über alles ärgere, dass man ihr nichts recht machen könne und dass keine Stunde verstriche, die ihr nicht Unannehmlichkeiten brächte.

Der König, der den Inhalt des Briefes durchschaute, gab ihr recht, um sie nicht zu reizen, doch sagte er, man möchte seine Tochter bis zu seiner Rückkehr mit Geduld ertragen, dann würde er selbst sehen, was zu machen sei.

Doch seine Frau beklagte sich immer wieder in ihren Briefen und übertrieb die Dinge jedes Mal mehr und sagte, dass eines guten Tages ein Unheil geschehen würde, denn das Mädchen sei so übermütig, dass sie keine Macht mehr über sich anerkenne. Der Vater versuchte sie zu beruhigen; doch als die Frau merkte, dass es ihr nicht gelang, vom König die Erlaubnis zu bekommen, die Tochter zu züchtigen, warf sie eines Tages nach einem heftigen Streit, den sie selbst hervorgerufen hatte, die Tochter auf die Straße. Das arme Mädchen ging weinend weg und begann, auf gut Glück loszuwandern.

Und sie ging weiter und immer weiter, und als sie schon eine große Strecke zurückgelegt hatte, erblickte sie hohe Mauern. Sie kam näher und sah ein Tor zu einem großen schloss. Sie trat ein und durchschritt alle Gemächer, und da sie niemanden fand, blieb sie, um die Nacht dort zu verbringen. Als die Stunde der Abendmahlzeit kam, sah sie, dass der Tisch mit den verschiedensten Speisen gedeckt war, in den Kleiderschränken fand sie Kleider, die ihr genau passten, und in dem Schlafgemach war ein schönes Bett; doch in dem ganzen schloss bemerkte sie keine lebende Seele. Sie legte sich zum Schlafen nieder, und da sie niemanden fürchtete, schlief sie ruhig die ganze Nacht. So vergingen einige Tage.

Kommen wir aber auf die Stiefmutter zurück: Sie sah, dass ihre Stieftochter nicht zurückkehrte, und da sie Angst vor ihrem Mann hatte, begann sie, Nachforschungen und Nachfragen anzustellen und erkundigte sich bei jedermann nach ihr. Doch keiner konnte ihr etwas von dem Mädchen sagen, bis endlich eine Alte ihr erzählte, dass sie sie am Fenster eines Schlosses gesehen habe, in dem niemand wohne; es ginge das Gerücht, dass es ein verzaubertes schloss sei.

Die Stiefmutter, die wissen wollte, ob es wahr sei, schickte ihre Tochter hin, die sollte nachsehen, was es da gab.

Die Tochter kam ins schloss, und da ihr es niemand verwehrte, trat sie ein und sagte zu ihrer Stiefschwester, sie habe sich mit der Mutter erzürnt und sei von ihr auf die Straße geworfen worden; und da sie niemanden habe, zu dem sie gehen könne, sei sie losgewandert und habe dies schloss gefunden und sei hineingegangen und freue sich nun sehr, sie hier gefunden zu haben, denn nun sei sie nicht mehr so allein.

Das brave Mädchen glaubte alles, was die Stiefschwester ihr sagte, und nahm sie sehr gut bei sich auf und sagte, wenn sie bleiben wolle, möge sie bleiben, es werde ihr nicht an Essen noch an einer Schlafstätte fehlen. Nun, und so war es auch. Als der Abend kam, legte sich jede in ihr Bett. Die Tochter des Königs schlief sofort ein, doch die andere hielt sich wach, denn sie wollte sehen, was geschehen werde. Gegen Mitternacht hörte sie ein Geräusch und sah, wie sich ein Fenster öffnete und ein Vogel hereinkam, der war so schön, dass es eine Freude war, ihn anzusehen; er badete sich in einer Waschschüssel, die dort stand, und verwandelte sich in einen sehr schönen Jüngling, der in das Bett der Königstochter stieg. Die andere tat so, als ob sie schliefe. Bevor der Morgen dämmerte, sah sie den Jüngling aufstehen, und nachdem er sich gewaschen hatte, war er wieder in einen Vogel verwandelt, und der flog durch das Fenster, das sich öffnete, um ihn hinauszulassen.

Die beiden Stiefschwestern standen auf, und die Tochter der Königin tat so, als ob sie nichts gehört und gesehen hätte, und sagte zu ihrer Stiefschwester, sie wolle zu ihrer Mutter zurückgehen und sehen, ob sich ihr Zorn gelegt habe. Die andere sagte, sie solle tun, was sie wolle, sie werde sie zu nichts zwingen. Die Stiefschwester ging nach Hause und erzählte ihrer Mutter sofort alles, was sie gesehen hatte, und konnte sich nicht genug daran tun, das schloss zu loben und zu sagen, dass ihre Schwester eine große Dame geworden sei. »Dann höre«, sagte die Mutter zu ihr, »du gehst morgen wieder hin und nimmst hier diese Säge und Nägel mit; und wenn du glaubst, dass er eingeschlafen ist, dann nagelst du die Fensterläden mit den Nägeln zu, dass sie sich nicht mehr öffnen lassen, und mit der Säge ritzt du Risse ins Glas.«

Und so geschah es; sie nahm Säge und Nägel und ging wieder ins schloss. Die Schwester fragte sie, weswegen sie schon wieder käme, und sie antwortete, mit ihrer Mutter könne man sich nun einmal nicht vertragen, sie habe sie nicht wieder bei sich aufnehmen wollen und damit gedroht, sie zu töten. Das brave Mädchen glaubte ihr aufs Wort, und da sie Mitleid mit ihr hatte, sagte sie, sie könne ja bei ihr bleiben. Dann aßen sie zusammen und legten sich schlafen, und da war die Prinzessin eingeschlafen.

Als es Mitternacht schlug, kam der Vogel, badete sich, verwandelte sich dabei in einen Jüngling und stieg in das Bett. Und als die Stiefschwester glaubte, er sei eingeschlafen, stand sie sehr vorsichtig auf und nagelte ganz leise den Fensterrahmen mit den Nägeln zu, die ihre Mutter ihr gegeben hatte, und mit der Säge schnitt sie das Glas kreuz und quer an. Als sie damit fertig war, entfloh sie.

Früh am nächsten Morgen stieg der Jüngling aus dem Bett, wusch sich in der Schüssel und verwandelte sich wieder in einen Vogel. Er spreizte seine Flügel und flog zum Fenster; doch da es sich nicht öffnete, prallte er gegen das Glas, und da es eingeritzt war, gab es nach und ließ ihn hindurch, wobei er am ganzen Körper Schnittwunden davontrug. Er stieß einen lauten Schrei aus und flog davon.

Bei dem Schrei erwachte die Tochter des Königs und stand auf, um zu sehen, was geschehen war; da sah sie, dass Fenster und Boden blutig waren. In demselben Augenblick verschwand das schloss, und sie befand sich auf freiem Feld und stand allein, denn die andere war ja schon vorher verschwunden.

Da begann das arme Mädchen zu weinen und machte sich auf den Weg und ging auf gut Glück los. Und sie ging weiter und immer weiter und wurde schließlich so müde, dass sie sich an einem Baum, der am Wege stand, niedersetzte, um sich dort auszuruhen. Als sie eine kleine Weile dort saß, sah sie drei Turteltauben kommen, die ließen sich auf einem Ast des Baumes nieder und begannen sich zu unterhalten. »Weißt du schon«, sagte die eine, »dass der Sohn des Königs von da drüben im Sterben liegt?«

»So?« antwortete die andere, »und was fehlt ihm?«

»Nun, als er verzaubert und in einen Vogel verwandelt war und durch ein Fenster fliegen wollte, verletzte er sich den ganzen Körper am Glas, und jetzt haben sich die Wunden entzündet.« »Und es gibt kein Mittel, ihn zu heilen?« sagte die dritte. »Ja, aber es ist schwer zu erhalten, auch würde es uns teuer zu stehen kommen.« »Wieso denn das?«

»Ja, das ist so: Uns drei müsste man fangen und töten und in einem Herd ausbraten, bis nur noch Grieben bleiben; dann muss man uns zu Pulver mahlen, doch dabei muss man sehr aufpassen, dass wir drei immer in drei getrennten Häufchen bleiben. Von diesem Pulver muss man dem Königssohn drei Tage hintereinander ein Häufchen in die Wunden streuen, und wenn man das tut, ohne sich dabei zu versehen, so wird er nach drei Tagen von seinen Wunden geheilt wieder aufstehen können. Ihr könnt selbst urteilen, ob es schwierig ist oder nicht, dass der Königssohn wieder gesund wird.«

Während die Turteltauben noch miteinander sprachen, band die Tochter des Königs, die alles gehört hatte, die Schürze ab, um die Tauben darin zu fangen; die waren in ihre Unterhaltung so vertieft, dass das junge Mädchen die Schürze über sie werfen und sie einfangen konnte. Dann ging sie in ein Haus, in dem ein Herd war, und begann, sie zu braten. Sobald sie sie gebraten hatte, bat sie um einen Mörser und zerstampfte sie nacheinander so lange, bis sie zu Pulver wurden; das wickelte sie in drei verschiedene Stücke Papier, bedankte sich bei der Hausherrin und machte sich auf den Weg zum schloss, wo der kranke Prinz lag.

Sie ging weiter und immer weiter; da traf sie auf ihrem Weg einen Studenten, der trug ein Kleiderbündel an einem Stock über der Schulter. Sie fragte ihn, was er in dem Bündel habe, und der Student antwortete ihr, dass es ein Anzug zum Wechseln sei. Da fragte sie ihn, ob er den Anzug verkaufen wolle, und da der Student größeren Hunger als ein Hund hatte, ließ er sich nicht lange bitten und verkaufte ihn ihr.

Als der Student sich entfernt hatte, zog sie sich schnell um und machte nun aus ihren Frauenkleidern ein Bündel und erschien im schloss in dem Anzug des Studenten.

Sie wurde zum König vorgelassen und sagte zu ihm, sie habe erfahren, dass der Prinz so krank sei, dass kein Arzt ihn heilen könne, und sie bat ihn, ihr doch seinen Sohn in Pflege zu geben; sie verspräche, ihn binnen drei Tagen gesund zu machen.

Der König fand sie reichlich jung und traute ihrer Kunst nicht sehr, doch da er alle Hoffnung auf Besserung aufgegeben hatte, nahm er die gebotene Hilfe an, denn wer am Ertrinken ist, klammert sich selbst an einen glühenden Nagel, und so ließ er sie in das Zimmer des Prinzen eintreten. Da war sie nun allein mit dem Jüngling, der da wie ein Toter lag und niemanden erkannte. Sie untersuchte die Wunden, und nachdem sie sie gut ausgewaschen hatte, streute sie das Pulver der einen Taube darauf. Am nächsten Abend machte sie dasselbe und streute das Pulver der zweiten Taube darauf. Nun kam der letzte Abend, und nachdem sie wieder die Wunden ausgewaschen hatte, streute sie das Pulver, das ihr noch übrig geblieben, auf die Wunden und setzte sich ans Kopfende des Bettes, nachdem sie den Studentenanzug ausgezogen und ihr Kleid, das sie bei sich trug, angezogen hatte.

Als der Tag anbrach, seufzte der Prinz und richtete sich im Bett auf. Wie er das junge Mädchen erblickte, sprang er aus dem Bett und umarmte sie und fragte sie, wie sie hierher gekommen sei und ob sie ihn damals verwundet und ihn jetzt geheilt habe. Sie antwortete ihm, dass sie seine Wunden zwar geheilt, doch sie nicht verursacht habe. Dann erzählte sie ihm, was sie wusste und was ihr alles widerfahren sei, und sie erkannten, dass die Tochter ihrer Stiefmutter alles Unglück angerichtet hatte. Der Prinz stellte das junge Mädchen seinen Eltern vor und sagte, dass sie ihm das Leben gerettet habe und dass sie seine Frau werden solle.

Die Eltern willigten ein, und die beiden heirateten und lebten glücklich ihr Leben lang. Sie berichteten alles ihrem Vater, und als der die Wahrheit erfuhr, wies er seine Frau und seine Stieftochter aus dem Schloss; vor Gram starben beide bald darauf in einem einsamen Winkel.