[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der schlaue Landstreicher

Es war einmal ein schlauer und fröhlicher Bettler. Als er einst seines Weges zog, begegnete er einem Bauern mit gar traurigem Gesicht, der einen Pferdeschwanz in der Hand hielt. Fragte der Bettler: »Warum bist du so betrübt?« Der Bauer erzählte: »Mir ist ein schlimmes Unglück widerfahren. Ich haue nur ein einziges Pferd, und das haben die Wölfe gerissen. Ich weiß nicht, wie ich ohne das Pferd leben soll.«

»Gib mir mal den Schwanz! Ich werde dir ein Pferd besorgen, besser als dein früheres. Wart hier auf mich!« befahl der Landstreicher und ging zum Aul. Kurz vor dem Aul stieß er auf einen Fuchsbau. Er schob den Pferdeschwanz in das Loch, hielt das Ende fest in den Händen und wartete geduldig. Da ritt ein habgieriger Bei auf seinem Ross vorbei. Er hielt seinen Traber an und fragte: »Was treibst du hier? Weshalb hältst du einen Pferdeschwanz in den Händen?«

»Ich hab mein Pferd auf die Koppel zum Weiden getrieben. Da ist's in den Fuchsbau gerannt! Hab grad noch den Schwanz zu fassen gekriegt, sonst war mir mein Pferd auf und davon getrabt. Ich sammle nur ein wenig Kraft. Dann will ich's herausziehen.«

»Ist es ein schönes Pferd?« fragte der Bei neugierig. »Mein Pferd kann an einem einzigen Tag siebenmal um die Erde traben! Seine Mähne ist weiß wie der Neuschnee auf den Firnen, und wenn es davon galoppiert, bebt die Erde. Zwischen seinen Ohren finden sieben Kamele Platz, und wenn sich mein Ross aufbäumt, so stößt es mit dem Kopf gegen die Wolken!«

Der Bei zitterte vor Gier, sprang von seinem Pferd, stieß den Bettler beiseite, packte mit beiden Händen den Schwanz und schrie: »Verfluchter Landstreicher! Was erkühnst du dich, in meinem Wald deinen Gaul weiden zu lassen! Mach, dass du fort kommst!«

»Ich habe so kranke Füße. Ich kann keinen Schritt zu Fuß gehen«, klagte der Landstreicher. »Nimm dort mein Pferd und mach dich davon! Aber wage nicht, mir jemals wieder unter die Augen zu kommen!« brüllte der habgierige Bei voller Ungeduld. In Windeseile schwang sich der Bettler aufs Ross und galoppierte davon. Als er den Bauern sah, gab er ihm das Pferd, erzählte ihm die Geschichte und trollte sich.

Gegen Mittag begegnete er einem anderen Bei. Der trug auf dem Kopf einen Kessel mit Fleisch. Er war so geizig, dass er, wohin er auch immer gehen mochte, stets den Topf mit seinem Essen bei sich trug, denn er hatte Angst, dass es ein anderer verspeisen könne. Als der Bei des Landstreichers ansichtig wurde, sagte er: »Ich habe gehört, dass du die Dummköpfe wie nichts an der Nase herumführst. Einen Klugen aber überlistest du nicht. Versuch beispielsweise mich zu betrügen.« Der Landstreicher hatte es miteins eilig. »Ich hab keine Zeit, dich zu betrügen. Geh mir aus dem Weg! Siehst du nicht, der ganze Himmel steht in Flammen!« Der Bei hob den Kopf, der Topf fiel zu Boden, am Himmel aber war nichts zu sehen. »Siehst du, wie leicht ich dich an der Nase herumgeführt habe. Da bist du also auch ein Dummkopf!« Der schlaue Spaßvogel lachte fröhlich und zog seines Weges.

Kurz darauf begegnete er dem Khan höchstpersönlich. Drohend fragte der Khan: »Wer bist du? Wo steht dein Haus? Wo ist dein Hof? Was kannst du?«

»Ich hab weder Haus noch Hof«, entgegnete der Bettler, »aber ich kann alles, was Ihr wollt!« Der Khan wurde zornig. »Was redest du da für einen Unsinn? Ich bin Khan, und nicht einmal ich kann alles, was ich will!«

»Du nicht, aber ich!«

»Dann zwinge mich einmal, vom Pferd abzusteigen.« Der Khan lachte spöttisch. »Ihr habt recht, Khan, ich kann euch nicht zwingen, vom Pferd zu steigen. Doch wenn ihr es getan habt, so ist's für mich eine Kleinigkeit, Euch zu zwingen, wieder aufzusitzen.«

»Das wollen wir mal sehen, ob du mich zwingen kannst«, sagte der Khan und sprang vom Pferd. »Da seht Ihr, großer Khan, ich habe Euren Wunsch erfüllt, Ihr steht auf der Erde!« Der Landstreicher lachte fröhlich. »Nie mehr im Leben wirst du mich an der Nase herumführen!« brüllte der Khan rasend vor Wut und saß im nächsten Moment auf seinem Ross. »So ist's schön, da kann ich ja gehen«, meinte der Landstreicher friedlich. »Auch Euer zweiter Wunsch hat sich erfüllt: Ihr sitzt wieder auf dem Pferd.« Mit diesen Worten zog der Landstreicher davon. Der verdutzte und beschämte Khan aber, so sagt man, soll bis zum heutigen Tage an jenem Ort auf seinem Pferde thronen.