[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Löwe und der kleine Schakal

Eines Tages ging der kleine Schakal auf die Jagd und traf den Löwen. Der Löwe schlug vor, gemeinsam zu jagen, und zwar unter der Bedingung, dass eine kleine Antilope dem Schakal und eine große dem Löwen gehören sollte. Der kleine Schakal war damit einverstanden.

Das erste Tier, das sie erlegten, war eine große Elenantilope. Der Löwe war sehr froh und sagte zum kleinen Schakal: »Ich werde weiter jagen, du aber gehst zu meinem Haus und sagst den Kindern, sie sollen das Fleisch nach Hause holen.« Der kleine Schakal erwiderte: »Gut, einverstanden.«

Der Löwe machte sich auf den Weg. Als er fort war, lief der kleine Schakal zu seinem eigenen Haus und befahl seinen Kindern, sie sollten das Fleisch holen. Er meinte: »Der Löwe hält mich für einen Dummkopf, wenn er denkt, dass ich seine Kinder hole, während meine vor Hunger sterben.« So trugen die Kinder vom kleinen Schakal das Fleisch zu ihrem Haus auf der Spitze eines hohen Felsens. Man konnte nur mit Hilfe eines Seils dorthin gelangen.

Der Löwe fing nichts mehr und kehrte einige Zeit später nach Hause zurück. Er fragte seine Frau nach dem Fleisch, und sie entgegnete, dass keins da wäre. Da wollte er wissen: »Hat nicht der kleine Schakal meinen Kindern ausgerichtet, dass sie Fleisch holen sollen?« Die Frau antwortete: »Nein, er ist nicht hier gewesen. Wir sterben schon vor Hunger.«

Der Löwe begab sich zum Haus des kleinen Schakals, aber er konnte nicht auf den Felsen hinauf. So setzte er sich unten ans Wasser und wartete. Nach einem Weilchen wollte der kleine Schakal Wasser holen. Schon nahe am Wasser erblickte er den Löwen, lief schnell davon, der Löwe hinterher. Der kleine Schakal schlüpfte in ein Loch unter einem Baum, aber ehe er weit genug drin war, fing der Löwe seinen Schwanz. »Das ist nicht mein Schwanz, den du dort festhältst«, rief der kleine Schakal, »das ist eine Baumwurzel. Wenn du mir nicht glaubst, nimm einen Stein und schlag drauf, damit du siehst, ob Blut kommt.«

Der Löwe ließ den Schwanz los und suchte einen Stein. Als er weg war, schlüpfte der Schakal ganz tief in das Loch. Der Löwe kam zurück und fand nichts mehr. Er legte sich neben dem Loch auf die Lauer. Nach einer ganzen Weile wäre der kleine Schakal gern herausgekommen. Er schlich zum Eingang, sah in die Runde, konnte den Löwen aber nicht sehen. Um sicherzugehen, rief er: »Ho, ich sehe dich, mein Alter, obwohl du dich versteckst!« Der Löwe rührte sich nicht von der Stelle. Da lief der kleine Schakal hinaus, der Löwe verfolgte ihn, aber der Schakal entkam.

Der Löwe lauerte ihm von nun an auf, und eines Tages, als der kleine Schakal auf der Jagd war, überraschte er ihn an einem Ort, von dem es kein Entrinnen gab. Der Löwe wollte eben über ihn herfallen, als der kleine Schakal leise sagte: »Husch! Siehst du den Buschbock nicht, dort drüben auf dem Felsen? Ich bin froh, dass du zu Hilfe gekommen bist. Bleib hier, ich laufe auf die andere Seite und treibe ihn dir zu.« Der Löwe blieb, und der kleine Schakal entwischte wiederum.

Ein andermal wurde eine Tierversammlung abgehalten, und der Löwe war dabei der Häuptling. Der kleine Schakal wollte auch gern hingehen, aber es gab ein Gesetz, dass nur daran teilnehmen dürfe, wer Hörner hatte. So nahm der kleine Schakal Wachs aus einem Bienenstock und formte sich daraus Hörner. Die befestigte er auf dem Kopf und ging dann zur Versammlung. Wegen der Hörner erkannte ihn der Löwe nicht. Aber der kleine Schakal saß nahe am Feuer, und als er einschlief, schmolzen die Hörner. Der Löwe sah zu ihm hinüber und erkannte ihn. Sogleich versuchte er, ihn zu fangen. Aber der kleine Schakal war flink und sprang davon. Er lief unter einen überhängenden Felsen und rief: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Der Felsen fällt auf mich!« Der Löwe beeilte sich, einen Stamm zu suchen, den man unter den Felsen klemmen konnte, damit er an den kleinen Schakal heran konnte. Während er fort war, entfloh der kleine Schakal.

Dann wurden sie wieder Gefährten und gingen zusammen jagen. Sie erlegten einen Ochsen. Der Löwe befahl: »Ich werde aufpassen, du trägst die Fleischstücke weg.« Er gab ihm die Ochsenbrust und sagte: »Bring das zu meiner Frau.« Der kleine Schakal brachte sie zu seiner eigenen Frau. Als er wiederkam, reichte ihm der Löwe einen Unterschenkel und meinte: »Bring das deiner Frau.« Der kleine Schakal trug das Stück zum Haus des Löwen. Dessen Frau wehrte ab: »Das kann ich nicht nehmen, das sollte nicht hierher.« Da schlug der kleine Schakal die Frau ins Gesicht und ging wieder zu der Stelle, wo der Ochse lag. Der Löwe übergab ihm nun ein großes Stück Fleisch und sagte: »Das bring meiner Frau.«

Der kleine Schakal trug es zu seiner eigenen Frau. Und so ging das weiter, bis von dem Ochsen nichts mehr übrig war. Dann kehrten beide nach Hause zurück. Als der Löwe zu Hause ankam, weinte seine ganze Familie. Seine Frau klagte: »Warst du das, der den kleinen Schakal hergeschickt hat, mich und meine Kinder zu schlagen? Warst du das, der uns diesen Unterschenkel geschickt hat? Hab ich je so etwas gegessen?«

Als der Löwe das hörte, wurde er sehr böse und wandte sich sogleich zum Haus des kleinen Schakals. Er kam an den Felsen, da sah der kleine Schakal herunter und fragte: »Wer bist du und wie heißt du? Wessen Sohn bist du? Woher kommst du? Wohin gehst du und was willst du? Und von wem willst du etwas?«

Der Löwe erwiderte: »Ich bin nur gekommen, um dich zu sehen. Ich wünschte, du würdest ein Seil herunterlassen.« Der kleine Schakal ließ ein Seil aus Mäusefellen herab, und als der Löwe ein Stück hinaufgeklettert war, riss das Seil. Er fiel herunter und verletzte sich. Da ging er nach Hause.