[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Löwe und der Bauer

Als ein Bauer eines Tages seine Saaten goss, stand plötzlich ein Löwe vor ihm. Der Bauer erschrak, doch der Löwe beruhigte ihn. »Guter Mann, fürchte dich nicht. Mir gefällt dein Fleiß. Wir wollen gemeinsam arbeiten und auch die Ernte miteinander teilen.«

»Ich bin ein Mensch, du bist ein Löwe«, erwiderte der Bauer. »Wie könnten wir zusammen arbeiten? Ich werde ewig in Angst und Schrecken vor dir leben.« Doch der Löwe ermutigte ihn. »Fürchte dich nicht, ich will dir ein ehrlicher Freund sein.«

»Sei's drum. Ich werde pflügen, säen und ernten. Was aber willst du tun?« Der Löwe antwortete: »Du kannst kein Wasser auf dein Feld holen, wenn an der Quelle viele Menschen stehen, die stärker sind als du. Also werde ich zum Brunnen kommen und keinen heranlassen, bis du all deine Saaten gegossen hast. Des Nachts wirst du in deiner Sakija schlafen, ich aber werde dein Feld bewachen und es vor Gefahren schützen, vor Dieben und Räubern. Dann werden in einer Ähre statt einem Körnchen zehn reifen.« Der Bauer willigte ein. Allmählich wurde er reich. Der Löwe war sein bester Freund. Häufig besuchten sie einander.

Eines Tages war der Löwe wieder einmal beim Bauern zu Gast. Sie setzten sich zu Tisch, aßen und tranken. Da sagte der Löwe: »Siehst du, mein Freund, erst hattest du Angst vor mir, und nun bist du aus allem Elend heraus und erlebst glückliche Tage. Was denkst du heute von mir, mein Freund?«

»Nur Gutes, Gevatter. Ich bin dir aufrichtig dankbar. Du handelst edel, wenn dein Gesicht auch ein wenig an einen Hund erinnert.« Erzürnt befahl der Löwe: »Nimm den Dolch dort und stoße ihn mir in den Hals. Tu, was ich dir sage!« Verlegen wandte der Bauer ein: »Du bist mein Freund. Wie könnte ich die Hand zum Schlag gegen dich erheben!« Doch der Löwe beharrte auf seinem Ansinnen. »Du kennst meinen Charakter. Wenn du nicht sofort mit dem Dolch zustößt, verschlinge ich dich auf der Stelle!« Der Bauer erschrak, griff zum Dolch und stieß ihn dem Löwen in den Hals. Blutüberströmt rannte das Raubtier in den Wald und verschwand. Mit der Zeit verheilte die Wunde. Über der Narbe wuchs wieder das Fell, und keine Spur blieb zurück von der Verwundung.

Eines Tages erschien der Löwe wieder bei seinem Freund und bat: »Suche die Stelle, an der du mich verwundet hast.« Der Bauer konnte sie nicht finden. Da sprach der Löwe: »Siehst du, guter Mann, die Verletzung ist verheilt. Die Wunde nämlich, die man einem anderen mit dem Dolch zufügt, verheilt. Die Wunde aber, die man mit dem Wort schlägt, bleibt. Wie konntest du mein Antlitz mit einer Hundeschnauze vergleichen? Bislang war ich dein Freund. Das ist nun vorbei. Fortan werden wir unversöhnliche Feinde sein.«