[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der krumme Rabe

Ob es nun wahr ist oder nicht, man sagt, es lebten einstmals ein Hirte und sein Weib. Ihr ganzer Reichtum bestand aus einer Kibitka, einer verschlissenen Koschma und einer Kuh. Die Frau molk die Kuh, der Hirte trieb eine fremde Herde auf die Weide und bereitete Käse für den Winter. Eines Tages, als der Hirte auf das Dach seiner Kibitka blickte, wo der Käse lag, bemerkte er, dass jemand über die Hälfte gestohlen hatte. »Diesen Dieb will ich herausfinden«, beschloss der Hirte bei sich. Nachts tat er kein Auge zu. Im Morgengrauen sah er, wie ein krummer Rabe geflogen kam und vom Käse pickte. Der Hirte schlich sich heran und packte den Dieb. Er wollte ihn also gleich töten, doch da hub der Rabe mit Menschenstimme zu sprechen an: »Gib mich frei, guter Hirte. Komm lieber morgen zu mir und sei mein Gast. Ich will dich reichlich belohnen.« Der Hirte erfüllte seine Bitte und ließ den Dieb frei. Der erhob sich in die Lüfte und sprach: »Geh diesen Weg entlang und frage, wo die Kibitka des krummen Raben steht. Jedermann wird sie dir zeigen.«

Anderntags begab sich der Hirte zum Raben. Unterwegs begegnete ihm eine große Schafherde. »Wem gehören diese Schafe?« fragte der Hirte. »Dem krummen Raben«, wurde ihm zur Antwort gegeben. »Und wo steht seine Kibitka?«

»Zieh auf diesem Weg weiter, dann wirst du ein Gestüt erblicken. Frage den Pferdehirten nach dem Weg, er wird ihn dir weisen.« Der Hirt zog weiter und erblickte das Gestüt. Er ging zum Pferdehirten und fragte: »Wem gehören diese Pferde?«

»Dem krummen Raben«, erwiderte der. »Und wo steht seine Kibitka?«

»Wenn du diesen Weg weitergehst, so erblickst du eine Kamelherde. Frage den Hirten nach der Kibitka, er wird sie dir weisen.« Der Hirte zog weiter und erblickte die Kamelherde. »Wem gehören diese Kamele?« fragte er den Hirten. »Dem krummen Raben.«

»Und wo steht seine Kibitka?« Der Hirte wies ihm eine schwarze Kibitka, die verlassen auf dem Gipfel eines hohen Berges stand.

Der Hirte erklomm den Berg, da trat ihm der einäugige Rabe entgegen. »Tritt ein und sei mein Gast«, bat der Hausherr. Der Rabe wies dem Hirten den Ehrenplatz zu, bewirtete ihn mit Tee und mit Fladen, und als der Hirt sich auf den Heimweg machen wollte, schenkte er ihm ein Tischtuchdeckdich-Satschak und sprach: »Das ist kein gewöhnlicher Satschak. Wenn du sagst: ›Satschak, Satschak, breite dich aus,
bewirte alle mit leckerem Schmaus!‹
so breitet er sich alsbald aus. Auf ihm werden dann die herrlichsten Leckerbissen stehen, wie du sie dir besser nicht wünschen kannst. Ist das Mahl beendet, so sprich: ›Satschak, falte dich zusammen.‹.« Der Hirte nahm den Satschak und zog heim, wo ihn sein Weib schon voller Ungeduld erwartete. »He, Weib«, sagte der Hirte, »bring Wasser zum Händewaschen, wir wollen uns zum Nachtmahl setzen.«

»Aber wir haben nichts außer Milch«, entgegnete die Frau. Der Hirte zog den Satschak hervor und sprach: »Satschak, Satschak, breite dich aus, bewirte alle mit leckerem Schmaus!« Alsbald breitete sich der Satschak aus, und die leckersten Speisen standen darauf. Der Hirte und sein Weib griffen nach Herzenslust zu. »Satschak, falte dich zusammen!« befahl der Hirt. Da verschwand alles, und der Satschak faltete sich zusammen. »Lade doch den Padischah zu Gast und bewirte ihn«, riet die Frau. »Vielleicht nimmt er dich in seine Dienste.«

Der Hirte befolgte den Rat seiner Frau und lud den Padischah, die Wesire und Wekile zum Mittagsmahl. Sie kamen und fanden mit Mühe und Not in der engen Kibitka Platz. Alsdann legte der Hirte den Satschak vor sie hin. Alle verblüffte der Mittagstisch, der Padischah aber erzürnte sich. Sprach der Hirte: »Satschak, Satschak, breite dich aus
und bewirte alle mit leckerem Schmaus!«
Da breitete sich der Satschak aus, und vor den Gästen standen so leckere Speisen, wie sie bislang weder der Padischah noch seine Höflinge je genossen hatten. Die Gäste sprachen den Leckerbissen zu und kehrten in den Palast zurück. »Geh zum Hirten und nimm ihm den Satschak ab!« befahl der Padischah seinem Wesir. Der Wesir kehrte stehenden Fußes zum Hirten zurück, nahm ihm den Satschak ab und brachte ihn in den Palast.

Der Hirte ging zum krummen Raben und beklagte sich über den Padischah. Der Rabe tröstete ihn: »Sei nicht traurig, ich will dir einen Maulesel schenken. Das ist kein gewöhnlicher Esel. Du brauchst nur ›Hüh‹ zu sagen, da legt er dir goldene Münzen.« Der Hirte dankte dem Raben, bestieg den Maulesel und ritt heim. Als er am Palast des Padischahs vorbeikam, erschrak der Hirte vor der Palastwache und trieb den Esel an, um rascher vorbei zu reiten: »Hüh, hüh!« Schon legte der Esel Goldmünzen. Der Padischah, der das aus dem Fenster beobachtet hatte, befahl der Palastwache, dem Hirten den Esel abzunehmen. Abermals ging der Hirte zum Raben. »Der Padischah hat mir den Esel genommen«, klagte er. »Sei nicht traurig«, erwiderte der Rabe, »ich schenke dir eine Truhe. Darin sitzt ein Mann mit einem Knüppel. Man braucht nur den Deckel zu öffnen, da springt er hinaus und beginnt mit seinem Knüppel alle zu verprügeln, die ihm unter die Hände kommen. Wenn der Knüppelmann wieder in der Truhe verschwinden soll, braucht man nur zu sagen: ›Du brauchst Ruhe,
Flugs zurück in die Truhe!‹«
Der Hirte dankte dem Raben, wälzte sich die Truhe auf den Buckel und wanderte heim. Die Truhe war leicht. Doch als er an den Fenstern des Palasts vorüber kam, ging der Hirte absichtlich tief gebückt, als würde ihn die schwere Bürde zu Boden drücken. Als der Padischah ihn erblickte, dachte er bei sich, dass in der Truhe sicher reiche Schätze lägen, denn schließlich besaß der Hirte mancherlei seltsame Dinge. Deshalb befahl er der Palastwache, ihm die Truhe abzunehmen. Der Hirte gab die Truhe her und lief eilig heim.

Die Truhe wurde zum Padischah getragen. Alle Höflinge versammelten sich, denn sie hofften, dass auch sie ihren Anteil von den Schätzen des Hirten bekommen würden. Der Padischah befahl dem Wesir, die Truhe zu öffnen. Kaum hatte der den Deckel angehoben, da sprang der Knüppelmann heraus und begann dem Padischah, dem Wesir und allen Höflingen tüchtig das Fell zu gerben. Auf das Geschrei, das sich erhob, lief die Palastwache herbei, doch keiner wusste, wie der Knüppelmann zurück in die Truhe zu sperren war. Der Knüppelmann aber prügelte den Padischah, den Wesir und die Höflinge zu Tode und zerschlug alsdann die Wände des Palasts. Gegen Morgen, als der Hirte kam, waren von den Palastmauern nur noch Ruinen geblieben. Der Knüppelmann aber schlug weiter um sich. Sprach der Hirte: »Du brauchst Ruhe,
Flugs zurück in die Truhe!«
Da sprang der Knüppelmann in die Truhe, und der Deckel schloss sich. Der Hirte nahm seine Tischdecke und den Esel und ging heim. Fortan lebte er in Glück und Freuden mit seinem Weib, und die Menschen waren ihm dankbar, weil er die Armen vom grausamen Padischah und dessen gierigen Höflingen befreit hatte.