[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Knüppel der Starken

Es war einmal ein Jäger, der besaß nichts außer einem buckligen Haus und einem alten Webstuhl, den er von seiner Mutter geerbt hatte. Wenn ich doch eine Frau fände, dachte der Jüngling bei sich, sie würde mir die Wirtschaft führen, während ich auf Jagd gehe. Eines Tages sah der Jäger, wie ein Geier drei Tauben verfolgte. Zwei konnten entkommen, die dritte aber hielt der Raubvogel in seinen Fängen. Rasch spannte der Jäger den Bogen und schoss den Geier ab. Die Taube aber nahm er mit sich nach Hause. Nachts, als der Jüngling eingeschlafen war, plusterte die Taube ihr Gefieder und verwandelte sich in eine holde Jungfrau. Sie räumte die Stube auf, stellte den Topf mit den Chinkaly aufs Feuer und setzte sich an den Webstuhl. Der Jüngling erwachte und war zutiefst erstaunt: Endlich hatte er eine Hausfrau in seiner Sakija.

Fortan sah die Welt anders aus für unseren armen Jäger. Das Taubenmädchen wurde seine Frau, und während er auf Jagd zog, besorgte sie die Wirtschaft. Auf dem alten Webstuhl aber, den der Jüngling von seiner Mutter geerbt hatte, webte sie einen Teppich von solcher Schönheit, wie man ihn in dieser Gegend noch nie gesehen haue. Mit diesem Teppich ging der Jüngling auf den Basar und begegnete dem Khan. »Wer hat diesen herrlichen Teppich vollbracht?« fragte jener verwundert. »Meine Frau«, entgegnete der Jüngling. »Woher hast du so eine Frau?« wollte der Khan wissen. Der Jüngling erzählte, wie er die Taube vor dem Geier gerettet hatte und dass sich der Vogel dann in eine liebliche Jungfrau verwandelte. Da befahl der Khan seinem Wesir, den Teppich zu kaufen, und dachte bei sich: Wozu braucht der arme Jäger eine solch schöne Frau?

Als der Jüngling heimkehrte und seiner Frau berichtete, was sich zugetragen hatte, wurde sie betrübt. »Du hättest dem Khan das alles nicht erzählen dürfen«, sagte sie. »Was sollen wir jetzt tun?« meinte der Mann niedergeschlagen. »Worte lassen sich nicht rückgängig machen.« Unterdessen sann der Khan darüber nach, wie er dem Jäger die Frau fortnehmen könne, und erteilte ihm Tag für Tag einen schwierigen Auftrag nach dem anderen. Geduldig führte der Jüngling, sie aus. Eines Tages rief der Khan den Jäger zu sich. »Mach dich auf den Weg und beschaffe mir den ›Bringe mir‹!« befahl er. Der Jüngling verstand nicht recht, wohin er gehen und was er herbeischaffen sollte, wagte aber nicht, dem Khan den Gehorsam zu verweigern. So ging er heim und erzählte alles seiner Frau. Die junge Frau überlegte. »Wenn wir nicht verstehen, wovon der Khan spricht, müssen wir die Älteren um Rat fragen.« Sie webte einen Teppich von solcher Schönheit, wie man ihn nicht nur in dieser Gegend, sondern auch in fremden Landen noch nie zu Gesicht bekommen hatte, und sprach zu ihrem Mann: »Steige auf diesen Teppich, er wird dich dorthin bringen, wo die Menschen mehr wissen als ich. Wenn der Teppich anhält, so winke mit diesem Tüchlein! Vielleicht erfährst du, was es mit dem ›Bringe mir‹ auf sich hat.« Der junge Jäger nahm Abschied von seiner Frau, stieg auf den Teppich und flog davon. Der Teppich machte keinen Unterschied zwischen Bergen und Schluchten und Meeren, er flog über die nahen Berge und flog über ferne Berge. Er überflog den Fluss In und den Fluss Din, und plötzlich tat sich vor ihnen eine dunkle Höhle auf, die in einen Berg führte.

In diese Höhle flog der Teppich mit unserem Jäger, und sie verschwanden im Schoße der Erde. Der Jüngling fürchtete sich, doch nach einiger Zeit bemerkte er, dass unter der Erde alles genauso aussah wie auf der Erde. Endlich hielt der Teppich vor einem Palast. Der Jüngling wollte schon herab springen, da erinnerte er sich des Tüchleins, das ihm seine Frau mitgegeben hatte. Als er damit winkte, stand plötzlich eine Greisin vor ihm. »Woher hast du dieses Tüchlein?« fragte sie verwundert. »Meine Frau gab es mir«, entgegnete der Jüngling. Freudig rief die Greisin: »Sie lebt? Wir dachten, der Geier habe sie gerissen.« Wie sich zeigte, war diese Frau die Mutter des Taubenmädchens. Die zwei anderen Tauben, ihre Schwestern, eilten ebenfalls herbei und führten den Jüngling in den Palast. Nachdem sie den Jüngling ausgefragt und vom Auftrag des Khans erfahren hatten, wurden sie betrübt, denn keiner wusste, was sich hinter dem »Bringe mir« verbarg und wo man so etwas finden könnte. Endlich sprach die Taubenmutter: »Was wir nicht wissen, danach müssen wir andere fragen.« Doch wen sie auch immer im unterirdischen Reich fragten, niemand wusste eine Antwort. Schließlich hörte eine uralte Unke von dem Auftrag. »Möge mir der Erdenmensch folgen!« sprach sie. »Ich will ihm zeigen, was er sucht.«

Ob über kurz oder lang, hinter den sandigen Hügeln gelangten sie schließlich zu einer endlosen Ebene. Die Unke wühlte ein tiefes Loch, in dem sie sich mit dem Jäger verbarg. Gegen Abend erschienen in diesem Tal sieben Narte. Der älteste trug einen gewöhnlichen Knüppel in der Hand. Die sieben Narte ließen sich auf der Erde nieder, und der älteste sagte: »Nun ist's aber Zeit zum Essen.« Er warf den Knüppel auf die Erde und befahl: »Bringe mir!« Der Knüppel verschwand, und im nächsten Augenblick standen so viele leckere Speisen da, dass dem Erdenmenschen das Wasser im Munde zusammenlief. Dann verschwand der Knüppel erneut, und erfrischende Getränke und allerlei Naschereien erschienen, kurz: alles, was Magen und Auge nur begehren mochten. »Nun siehst du, was es mit ›Bringe mir‹ auf sich hat: Es ist der Knüppel der Starken«, erklärte die weise Unke. Als sich die Narte zur Ruhe gelegt hatten, entwendete ihnen die Unke behutsam den Knüppel »Bringe mir« und versteckte ihn in der Grube, in der sie sich mit dem Jäger verborgen hielt. Morgens erwachten die Riesen, wollten frühstücken, doch der Knüppel war verschwunden. Sie suchten ihn, erhoben ein großes Geschrei, gerieten sich in die Haare und wälzten sich endlich völlig erschöpft im Sand: Was sind die Starken ohne den Knüppel! Drauf sprach die Unke zum Erdensohn: »Tritt hinaus und ringe mit ihnen!« Der Jüngling tat, wie ihm geheißen, und erschlug alle sieben Narte.

Wie sich zeigte, waren die Riesen in dieser Gegend die Erzfeinde der Menschen. Als jene vom Sieg über die sieben Narte hörten, kannte ihre Freude keine Grenzen. Alle dankten dem Erdensohn, und der Khan war bereit, dem Jüngling sein ganzes Khanat zu schenken. Doch den Jäger verlangte es nach nichts auf der Welt, außer nach dem Knüppel »Bringe mir«. Auf dem Rücken der Unke ritt er zurück zum Palast, in dem die Mutter seines Eheweibes wohnte, und kehrte dann mit dem Wunderteppich nach Hause zurück. Fortan lebte er mit seiner Frau in Liebe und Glück bis an sein seliges Ende. Sie nährten sich redlich mit ihrer Hände Arbeit. Den Knüppel »Bringe mir« aber schenkten sie den Schwachen. Denn wer sich selbst zu ernähren vermag, braucht anderen nichts fortzunehmen.