[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Hellseher

In einem Aul war einmal vor langen Zeiten ein armer Mann. All seine Habe bestand aus einer großen Fuchsmütze mit langen Ohrenklappen und einem Pferd. Die Mütze war zerschlissen - Loch an Loch, dafür hatte er ein Pferd, das seinesgleichen suchte. Die Sonne beneidete es um seine Kraft, der Wind beneidete es um seine Schnelligkeit. In einem anderen Aul lebten zwei Reiche - die älteren Brüder des Armen. Sie besaßen dreißig Pferdeherden, dreißig Schafherden, dreißig Jurten und Teppiche, Geschirr und Waffen im Übermaß. Aber all das brachte ihnen keine Freude. Sie konnten es nicht verwinden, dass der jüngere Bruder ein Pferd besaß, das seinesgleichen suchte, und sannen nur darüber nach, wie sie dem Pferd den Garaus machen könnten.

Eines Tages setzte der Arme seine löchrige Fellmütze auf, sprang aufs Pferd und ritt zu den Brüdern. Als die ihn sahen, wandten sie ihm den Rücken zu, und ihre Gesichter wurden schwarz vor Zorn. Der Arme aber verneigte sich tief vor ihnen und sprach: »Brüder, die Armut ist über mich hereingebrochen, ich will mich als Knecht verdingen, das Pferd aber bindet mich. Könnt ihr es nicht bis zum Herbst in eurer Herde weiden lassen? Euch kostet das nichts, mir aber wird eine Sorge genommen. Im Herbst will ich euren Dienst lohnen.« Die Reichen warfen sich viel sagende Blicke zu, zwinkerten und antworteten dem Armen freundlich und einschmeichelnd: »Lieber Bruder, wir sind immer froh, wenn wir dir helfen können. Lasse dein Pferd bis zum Herbst in unserer Herde. Wir fordern nichts dafür.« Der Arme dankte den Brüdern, führte das Pferd zur Herde und kehrte zufrieden und fröhlich heim.

Der Frühling ging vorüber, der Sommer begann. Der Arme arbeitete als Knecht und war guten Muts: Er war satt und sein Pferd gut aufgehoben. Eines Tages trat ein fremder Mann an ihn heran und erklärte, er wolle ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit eine wichtige Nachricht bringen. Der Arme folgte ihm, und als sie allein waren, gab sich der Fremde als Pferdehirt seiner Brüder zu erkennen und erzählte: »Etwas Furchtbares ist geschehen. Dein Pferd liegt in den letzten Zügen. Deine Brüder haben es zu Tode geritten, es wird wohl kaum drei Tage überleben. Ich erbarmte mich deiner und eilte her, um dir das zu sagen. Nur verrate mich nicht bei den Brüdern. Wirst du gefragt, wer dir die Wahrheit sagte, antworte: Ich bin Hellseher, weiß alles, was sich in der Welt tut.« Damit ging der Fremde fort. Der Arme weinte bittere Tränen und begab sich sogleich zu den Brüdern.

Er traf sie unterwegs, beschimpfte und schmähte sie schluchzend: »Habt ihr denn kein Gewissen, dass ihr einem hilflosen Armen soviel Leid zufügt? Was habe ich euch Schlechtes getan, weshalb schindet ihr mein Pferd zu Tode?« Nun wussten die Reichen, dass der Arme alles erfahren hatte, und stritten alles ab. »Du hast anscheinend den Verstand verloren oder bist betrunken! Was faselst du? Dein Pferd lebt und ist gesund, weidet wohlbehalten in unseren Herden.« »Nein, Brüder«, sagte der Arme, »ihr hintergeht mich nicht, ihr habt mein Pferd zu Tode gehetzt, und es überlebt keine drei Tage.«

»Von wem weißt du das?« fragten die Reichen. »Von niemandem. Ich kann jetzt hellsehen und weiß alles, was sich in der Welt tut«, entgegnete er.

Unterdessen hatte sich Volk um die Brüder angesammelt, alle wollten wissen, worum der Streit ging. Der Arme wiederholte, was ihm der Pferdehirt gesagt hatte, die Menge strömte zu den Herden der Reichen, um sich zu vergewissern, ob er seine Brüder nicht verleumdet. Sie sahen, dass der Arme die Wahrheit sprach. Sein halbtotes Pferd lag schwer atmend auf dem Boden und hatte überall Wunden. Da forderte die entrüstete und drohende Menge, dass die Reichen dem Armen als Ersatz für sein Pferd zehn der besten Reitpferde geben sollen. Die Reichen mussten sich fügen. Fortan aber hassten sie den Bruder noch mehr, und sie lauerten nur auf eine Gelegenheit, ihn ins Verderben zu stürzen.

Nun geschah es, dass dem Khan des Landes, in dem die Brüder lebten, ein unsäglich kostbarer Goldbarren gestohlen wurde. Der Khan ließ im ganzen Reich verkünden: Wer das Versteck des Goldes findet, erhalt tausend fette Hammel und dreihundert Stuten. Als das den Reichen zu Ohren kam, eilten sie zum Khan und sprachen: »O großer Khan, unser jüngerer Bruder gibt sich als Hellseher aus. Wir hörten, wie er sich vor seinen Freunden brüstete, er könne in einer Nacht den Dieb finden, nur will er dir nicht gefällig sein. Drohe ihm mit der Todesstrafe und im Morgengrauen hast du deinen Barren wieder.« Der Khan glaubte den Brüdern und befahl sogleich, den Armen zu holen.

Als der Arme vor ihm stand, sagte der Khan: »Man sagt, du nennst dich Hellseher. Ich möchte wissen, ob du wahr sprichst. Wenn du im Morgengrauen den gestohlenen Barren gefunden hast, gebe ich dir außer dem Versprochenen obendrein eine Kamelkarawane. Wenn du meinen Befehl nicht erfüllst, lasse ich dich an den Schwanz eines wilden Pferdes binden und mit dir in die Steppe jagen.« Der Arme ahnte, dass die Brüder dahinter steckten und antwortete dem Khan: »Oh, großmächtiger Khan, heiße deine Diener in der Steppe eine Jurte für mich aufstellen. Darin will ich übernachten, Beschwörungen aufsagen und vielleicht finde ich am Morgen dein Gold.« Im Stillen dachte er: Mögen sie erst einmal in der Steppe eine Jurte aufstellen, um Mitternacht stehle ich mich irgendwie davon.

Dem Armen wurde also in der Steppe eine kostbare Jurte aufgebaut, in der er allein blieb. Um Mitternacht stülpte er sich die Fellmütze auf und schlich vorsichtig zum Ausgang. Da kam gerade der Dieb vorbei, der den Goldbarren des Khans gestohlen hatte. Er sah die kostbare Jurte und glaubte, dass hier etwas zu holen war. Der Dieb wollte gerade die Jurte öffnen, da tat sie sich von selbst vor ihm auf, und der Dieb schlug der Länge nach vor dem Armen hin. Kurz entschlossen warf sich der Arme auf den Dieb und packte ihn an der Gurgel. Der flehte: »Habe Erbarmen, lass mich frei, ich gebe dir den Goldbarren, den ich dem Khan gestohlen habe.«

»Ich lasse dich frei, doch sage, wo du den Barren versteckt hast!« forderte der Arme. »Gehe von hier gen Osten, da siehst du einen hohen Hügel und ganz oben einen großen schwarzen Stein. Darunter ist der Schatz vergraben.« Der Arme ließ den Dieb laufen und begab sich, da bereits der Morgen graute, zum Khan. Er führte den Khan gen Osten, gefolgt von der Suite und vielen Dienern. Am schwarzen Stein angelangt, hieß der Arme die Diener die Erde aufbuddeln, und sie gruben den Barren heraus. »Hehe, du scheinst mir wahrhaftig ein Hellseher zu sein! Dich will ich im Auge behalten.« Der Khan war so froh, dass er dem Armen auf der Stelle tausend Hammel, hundert Stuten und eine Kamelkarawane geben und ihn nach Hause ziehen ließ.

Bald darauf stahl der gleiche Dieb das Lieblingspferd des Khans. Der wurde krank vor Kummer. Wieder ließ er den Armen kommen und wandte sich mit den Worten an ihn: »Wenn du Hellseher bist, dann sage mir, wo mein Pferd ist, und du erhältst die doppelte Belohnung. Wenn du mir aber die Antwort verweigerst oder eine falsche Antwort gibst, lasse ich dir den Kopf abschlagen.« Dem Armen lief ein kalter Schauer des Entsetzens über den Rücken, doch er wagte nicht, dem Khan zu widersprechen, nur bat er wieder, für ihn in der Steppe eine Jurte aufzustellen. Der Khan erfüllte seinen Wunsch.

Allein geblieben, sann der Arme darüber nach, wie er mit dem Leben davon kommen könnte. So saß er bis Mittemacht, schlich sich dann heimlich aus der Jurte und rannte davon, immer der Nase nach. Er geriet an eine einsame Schlucht zwischen zwei hohen Bergen, warf sich unter einen Baum und fiel in tiefen Schlaf. Nun begab es sich, dass der Dieb auf dem gestohlenen Pferd in eben diese Schlucht ritt. Er schaute sich um, glaubte sich hier in Sicherheit und wollte in der Schlucht den Morgen abwarten. Er band das Pferd an einen Baum, legte sich, ohne den schlafenden Mann zu bemerken, nieder, und schnarchte, dass es durch die Schlucht hallte. Der Arme erwachte von dem fürchterlichen Geschnarche und konnte sich lange nicht erklären, woher es kam. Da sah er neben sich einen Mann liegen und am Baum ein Pferd. Kein Zweifel - das waren der Dieb und das Pferd des Khans. Sein Herz hämmerte vor Angst und Freude. Leise stand er auf, band das Pferd los, war mit einem Satz im Sattel und jagte juchend zur Jurte des Khans.

Als der Khan am Morgen Pferdegetrappel hörte, lief er, so wie er war, aus der Jurte, und als er sein Lieblingspferd sah, wollte er lange seinen Augen nicht trauen. Erst als er näher trat und das Pferd wieherte, war er beruhigt. Vor lauter Freude befahl der Khan, dem Armen sogleich alles zu geben, was ihm versprochen war, und als Zeichen besonderer Gnade lud er den Armen zu einer Schale Kumys ein. Die Diener brachten für den Khan aus der Jurte Seidenkissen und setzten ihm eine goldene Schale mit dem besten berauschenden Kumys vor. Der Arme saß ein Stückchen weiter ab auf der blanken Erde, und die Diener gossen ihm frischen, zur Hälfte mit Schafmilch gemischten Kumys in eine Holzschale.

Als der Khan seinen Kumys fast zur Neige getrunken hatte, sprang ein riesiger Grashüpfer in die Schale. Der Khan wollte ihn fangen, doch der Grashüpfer hopste weg. Der Khan wollte ihn mit der Hand zerquetschen, da sprang er wieder in die Schale. Nun aber stellte sich der Khan geschickter an, bekam den Grashüpfer zu packen und versteckte ihn in seiner Faust. Der Arme hatte nichts davon gesehen. »He, Hellsichtiger, ich will dich zum letzten Mal auf die Probe stellen. Sag mir doch, was ich in der Hand halte?«

O weh, jetzt bin ich in der Falle, dachte der Arme. Nun kennt der Khan Gewiss kein Erbarmen. Und nach einem schweren Seufzer sagte er laut: »Einmal entkommen, zweimal entkommen, das dritte Mal den Tod gefunden.« Der Khan glaubte, der Arme spreche von dem Grashüpfer. »Richtig geraten!« sagte der Khan und riss dem Grashüpfer den Kopf ab.

Noch lange lachte er über die Antwort des Armen, dann beschenkte er ihn reichlich und ließ ihn seiner Wege ziehen. Von nun an litt der Arme nie mehr Not, die reichen Brüder aber, die von seinem Glück erfuhren, überlebten den Verdruss nicht und starben beide am selben Tag.