[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Held

Issa pflegte sein Kamel auf die Weide Kunsunttu zu treiben und es im Schwarzen Meer zu tränken. Dann kehrte er heim und verprügelte seine Frau, wobei er stets ausrief: »Gibt es etwa auf der Welt einen Helden, der stärker und besser ist als ich?« Die arme Frau mochte schreien, soviel sie wollte, dass es auf der ganzen weiten Welt keinen Held gibt, der stärker und besser ist als er, der Mann prügelte sie dennoch brutal weiter. Eines Tages, als Issas Weib zur Nachbarin Chadishat ging, rief jene entsetzt aus: »Was ist mit dir, Nachbarin? Was siehst du so zerschunden aus?« Issas Frau erzählte, dass ihr Mann sie immerfort schlage. Da gab ihr Chadishat folgenden Rat: »Wenn dein Mann sich wieder anschickt, dich zu prügeln, so sag ihm, er möge gen Osten ziehen, über die Weide von Kunsunttu hinaus, um herauszufinden, ob es dort Menschen gibt, die stärker sind als er.«

Als Issa mit dem Kamel, das er auf der Weide von Kunsunttu geweidet und im Schwarzen Meer getränkt hatte, heimkehrte, verprügelte er wieder sein Weib und schrie: »Gibt es etwa auf der Welt einen Helden, der stärker ist als ich?« Da entgegnete die Frau: »Willst du das in Erfahrung bringen, so ziehe nach Osten, über die Weide von Kunsunttu hinaus.« Nachdem Issa sein Weib verprügelt hatte, zäumte er das Kamel und ritt gen Osten. Zu seiner Rechten klirrte das Schwert, der Köcher mit den Pfeilen hing auf seinem Rücken, und in den Händen hielt er Pfeil und Bogen.

Issa ritt lange und hatte bereits einen weiten Weg hinter sich. Endlich gelangte er an einen Berg und hielt an, um zu rasten. Plötzlich bemerkte er, dass sich der Berg bewegte. Ohne zu zaudern, spannte er den Bogen und schoss einen Pfeil ab. Wie sich bald zeigte, hatte er keinen Berg vor sich, sondern einen schlummernden Diw. Der lag auf dem Bauch und regte die Füße, deshalb schien es, als bewege sich der Berg. Issas Pfeil haue ihm keinen Schaden zugefügt. Da spannte Issa zum zweiten Male den Bogen. Der Diw rieb die Füße aneinander. Issa schoss den dritten Pfeil ab. »Will mir diese Mücke denn überhaupt keine Ruhe lassen?« Wütend richtete sich der Diw zu seiner ganzen Größe auf. Da war es Issa, als rage vor ihm ein Steilhang empor. Erschrocken wollte er davonlaufen, doch der Diw setzte ihm nach.

Endlich erblickte Issa einen pflügenden Landmann namens Jarmagomed. Ihn flehte er an: »Hilf mir um Allahs willen! Verstecke mich! Ich will's dir auch ewig danken!« Jarmagomed hob Issa mit einer Hand von der Erde auf, schob ihn in seinen Mund und fuhr fort, seinen Acker zu pflügen. Doch kaum hatte er drei Furchen gezogen, als schon der Diw auftauchte und ihn atemlos fragte: »He, Landmann, hast du vielleicht einen flüchtenden Dreikäsehoch gesehen? Weißt du nicht, wo er sich versteckt hat?« Jarmagomed erwiderte: »Ich hab seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen und bin hungrig wie ein Wolf. Mein Weib verspätet sich heute auch noch mit dem Mittagsmahl. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll.« Doch der Diw wiederholte seine Frage: »Hast du vielleicht einen flüchtenden Dreikäsehoch gesehen? Weißt du nicht, wo er sich versteckt hat?« Doch Jarmagomed gab wiederum zur Antwort: »Die Mittagszeit ist längst vorbei. Möchte wissen, was meine Alte so lange treibt? Wo bleibt sie bloß mit dem Essen?« Gereizt wiederholte der Diw zum dritten Male: »He, du Trottel! Ich frag dich nicht nach deiner Frau! Mich interessiert auch nicht, ob du was zu essen hast oder nicht. Ich will wissen, wo sich dieser Dreikäsehoch versteckt hält!« Da wurde Jarmagomed zornig, hob mit beiden Händen den Pflug mit dem Ochsen hoch, wirbelte das Gespann durch die Luft und warf es dem Diw auf den Schädel.

Achtlos ließ Jarmagomed den toten Diw auf dem Acker liegen und ging heim. Seine Frau hielt für ihn eine Riesenschüssel Haferbrei bereit und stellte noch einen Krug Busa daneben. Doch kaum hatte Jarmagomed drei Schluck getan, da war ihm, als höre er Hilferufe. »Geh mal raus und schau nach, weshalb sich die Nachbarn streiten«, befahl er seinem Weib. Die Frau kam zurück und sagte; »Allah ist mein Zeuge, mein Herr und Gebieter, draußen ist alles still, da streitet sich keiner.« Jarmagomed begann zu essen, da war ihm wieder, als vernehme er Hilferufe. Aufs Neue schickte er seine Frau hinaus, doch sie kam wiederum zurück und sagte, dass sie keine Menschenseele auf der Straße gesehen habe. Als die Schreie zum dritten Mal ertönten, lauschte Jarmagomed aufmerksamer als zuvor. Da merkte er, dass die Rufe aus seinem Munde kamen. Ihm fiel Issa ein, und er zog ihn heraus. Issa war über und über mit Haferbrei beschmiert. Die Frau wusch ihn gründlich von Kopf bis Fuß und setzte ihn neben ihren Mann. Nachdem sie gegessen hatten, fragte Jarmagomed: »Nun erzähle, was dir widerfahren ist! Wie bist du in diese Notlage geraten?« Issa erzählte, dass er sein Kamel in Kunsunttu zu weiden und im Schwarzen Meer zu tränken pflegte, dass er seine Frau verprügelte und dass sie ihn auf die Idee brachte, gen Osten zu ziehen, wo er auf den Diw gestoßen sei.

Jarmagomed sprach: »Hör mir mal zu, Freundchen. Wir waren unserer vierzig, als wir mit einer Karawane, bestehend aus hundert Kamelen, mit reichem Verdienst heimkehrten. Wir ritten einen ganzen Tag durch die Wüste, ohne auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen. Nirgendwo fanden wir einen passenden Ort zum Übernachten. Als es schon dunkelte, erblickten wir in der Ferne eine Schlucht. Alle vierzig Mann und die hundert Kamele fanden darin Platz. Doch bald zeigte sich, dass die Schlucht, in der wir rasteten, ein Menschenschädel war. Morgens kam ein Schäfer mit seiner Herde des Wegs und fand den Schädel. Er spießte ihn auf seinen Stecken und schleuderte ihn weit fort. Bevor wir recht erwachen konnten, waren alle tot. Allein mein Gefährte und ich blieben am Leben. Wir fielen nämlich auf weiche Bündel. Ich schlug mir nur einen Zahn aus, und mein Gefährte brach sich die Nase und ein Bein. Nun überlege selbst, was es für Menschen auf der Welt gibt und wer von ihnen ein Held ist.«

Nach Hause zurückgekehrt, verprügelte Issa nie wieder sein Weib. Fortan ließ er sein Kamel bescheiden in Wanzilu weiden und tränkte es im Kunbjar-See.