[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der grausame Schah

In alten Zeiten regierte in einem Lande ein grausamer Schah. Eines Tages kam es ihm in den Sinn zu befehlen: »Wenn in einem Hause jemand stirbt, muss der Tote über die Dächer, von Dach zu Dach, bis auf den Friedhof getragen werden. Wer diesem Befehl nicht gehorcht, hat sein Leben verwirkt.«

In diesem Lande lebte ein steinalter, ganz weißhaariger Märchenerzähler. Er fasste Mut und ging zum Schah in den Palast. »Weshalb bist du hergekommen?« herrschte dieser ihn an. Und der Dichter entgegnete: »Leidet das Volk etwa nicht genug unter Bedrängnis, Hunger und Elend? Und nun hast du auch noch diesen unsinnigen Befehl erteilt. Um ihre Toten zu begraben, quälen sich die Menschen fünf, ja sogar zehn Tage lang. Welch einen Genuss hast du davon?« Der Schah geriet in Wut. »Es wird gesagt, weißhaarige Greise seien klug«, höhnte er. »Das ist fürwahr eine Lüge! Da kommt so ein Alter ohne Verstand zu mir und will mir Vorschriften machen. Weg mit ihm und sofort hinrichten!«, schrie er. Danach erließ er einen neuen Befehl. »Alle Weißbärtigen sind zu köpfen!« Die Henker gingen durch die Häuser, suchten weißbärtige alte Männer und enthaupteten sie. Einige retteten sich durch Flucht, andere verbargen sich in Vorratskammern, Kellern und anderen Verstecken, wo man sie nicht finden konnte.

Den Schah gelüstete es, einen Feldzug zu unternehmen, und er befahl, dass sich alle Krieger unter dreißig Jahren bereitzumachen halten. »Wer im einunddreißigsten Jahre ist, der soll daheim bleiben! Er hat schon zu wenig Kraft«, urteilte er. Der Schah hatte einen Wesir, der ihn eines Besseren zu belehren versuchte: »Warum sprecht Ihr so, mein Gebieter? Ihr habt doch schon so viele Menschen vergebens umkommen lassen!« Der Schah duldete jedoch keine Widerrede. »Was verstehst du, Dummkopf!« fuhr er den Wesir an. »Untersteh dich, mir zu widersprechen! Falls du noch einmal wagst, so etwas zu behaupten, lasse ich dir geschmolzenes Blei in den Mund gießen.«

Sakir, ein Krieger des Schahs, hatte einen achtzigjährigen Vater. In den Tagen, da der Schah alle Männer über fünfundvierzig Jahre köpfen ließ, hatte Sakir seinen Vater verborgen. Als er ins Feld ziehen musste, nahm er von seinem Vater Abschied. Der Alte sagte: »Nun ziehst du davon, mein Sohn, ob du aber wiederkommen wirst, weiß niemand. Außer dir habe ich niemanden, der sich um mich sorgt. Wie soll ich die ganze Zeit leben, während du fern bist? Geh zum Schah und sage ihm, er soll mich töten lassen. Du wirst mich begraben und dann davonziehen. Oder nimm mich mit dir!« Sakir brachte es nicht übers Herz, seinen Vater zu verlassen. Er zimmerte eine Truhe, verbarg den Alten darin und nahm die Truhe mit.

Mit seinem Heer trat der Schah einen weiten Marsch an. Sie zogen dahin, bis sie zu hohen Bergen kamen, an deren Fuß ein mächtiger Fluss dahinströmte. Schäumend rauschten seine klaren Wellen. Der Schah ließ seine Krieger haltmachen und ein Lager aufschlagen.

Am Abend gewahrte er plötzlich einen wunderbaren Lichtschein. In der Tiefe des Wassers blinkten zwei Diamanten wie helle Sterne am schwarzen Nachthimmel. Der Schah rief einen Krieger herbei und befahl ihm, nach den Diamanten zu tauchen. Der Krieger sprang in die Tiefe, kam aber nicht wieder hervor. Der Schah rief noch andere Krieger herbei. Sie alle tauchten einer nach dem anderen unter, aber keiner kam zurück. Da wagte einer der Krieger, sein Bedenken zu äußern: »O mein Herrscher!« sagte er, »in so eine Tiefe zu tauchen ist nicht möglich. Warum sollen wir unnütz zugrunde gehen?«

»Was sagst du da, du Tor!« schrie der Schah. »Wäre der Fluss so tief, könnte man dann die Diamanten auf seinem Grunde sehen? Für deine Redereien hast du dein Leben verwirkt! Henker her!« Der Krieger wurde hingerichtet.

Der Schah ließ immer neue Männer in den Fluss springen.

Als die Reihe an Sakir kam, eilte dieser in sein Zelt, öffnete die Truhe und sagte jammernd: »Lebt wohl, Vater, verzeiht mir und tragt mir nichts nach!«

»Was ist denn geschehen, mein Sohn?« fragte der Alte erschrocken. Der Sohn erzählte ihm, was der Schah befohlen hatte und wie viele Krieger schon in dem Fluss umgekommen waren.

Der Alte dachte ein Weilchen nach, dann sagte er: »Gibt es am Ufer nicht einen Baum?«

»Ja, es gibt einen.«

»Die Diamanten sind nicht im Fluss, sondern auf dem Baum. Im Wasser sieht man ihr Spiegelbild«, fuhr der Alte fort. »Schau dich recht gut um, mein Sohn, und wenn du an der Reihe bist, dann laufe zu dem Baum und klettere hinauf. Die Diamanten liegen in einem Vogelnest, wickle sie in deinen Gürtel und springe gleich von dort ins Wasser. Dann wirst du wieder herauskommen.«

Der Jüngling nahm Abschied von seinem Vater und begab sich zum Schah. Dieser befahl ihm, nach den Diamanten zu tauchen. Da lief Sakir zu dem Baum und kletterte hinauf. »Warum kletterst du auf den Baum?« grollte der Schah. »O mein Gebieter! Um recht tief zu tauchen, will ich mich von der Krone hinabstürzen. Ich hole die Diamanten, selbst wenn sie in der Erde verborgen sein sollten!«

Der Jüngling erstieg den Baum und sah in einem Vogelnest zwei Diamanten im Mondlicht schimmern. Sofort nahm er sie heraus, wickelte sie in seinen Gürtel, stürzte sich in den Fluss und verschwand in den Fluten. Während Sakir bei seinem Vater war, hatte der Schah aber verkündet: »Wer ohne die Diamanten aus dem Wasser kommt, dem lasse ich bei lebendigem Leibe die Haut abziehen!« Nun tauchte der Jüngling empor, stieg ans Ufer und überreichte dem Schah die Diamanten. »Du bist ein tüchtiger Bursche!« lobte ihn der Schah und klopfte ihm auf die Schulter.

Am nächsten Morgen zog der Schah mit seinem Heer das Flussufer entlang. An einer Stelle sahen sie eine Unmenge Ameisen. »Warum laufen hier die Ameisen umher? Was wollen sie?« erkundigte sich der Herrscher. Aber niemand konnte seine Frage beantworten. Da verkündete er: »Jeden Tag werde ich zwei Männer fragen. Wessen Antwort mir gefällt, den werde ich loben, und wessen Antwort mir missfällt, den lasse ich hinrichten.« Nachdem Sakir den Befehl des Schahs vernommen hatte, ging er wieder zu seinem Vater und erzählte ihm alles. Da sagte der Alte: »Geh zum Schah und erkläre dich bereit, seine Frage zu beantworten. Dann sagst du: ›Auf dem Grunde des Flusses liegt ein Buttertopf, darum wimmelt es hier von Ameisen.‹ Wenn der Schah verlangt, dass du den Topf holst, dann sagst du: ›Gut, ich hole ihn!‹ Danach kletterte auf einen Baum und schieße von dort einen Pfeil auf den Schah ab. Ziele aber recht gut, geradewegs in seinen Mund, um ihn zu töten. Soll er verrecken! Durch diesen Wüterich müssen so viele Menschen umkommen.«

Sakir trat vor den Schah und sagte: »Ich will Eure Frage beantworten, hoher Gebieter. Auf dem Flussgrund liegt ein Buttertopf. Darum wimmelt es hier von Ameisen.« Der Schah ergrimmte. »Welchen Sinn hat es, wenn so viele Ameisen hier umherlaufen, der Topf aber auf dem Flussgrund liegt. Diese Antwort taugt nicht!« Der Schah rief den Henker herbei und befahl ihm, Sakir den Kopf abzuschlagen.

Da bat der Jüngling den Schah: »O erhabener Schah, erlaubt mir, dass ich den Topf vom Grund des Flusses heraufhole und ihn Euch zeige!«

Der Schah war einverstanden: »Hole ihn heraus und zeige ihn mir!« Sakir rannte zu dem Baum, kletterte hinauf, setzte sich recht bequem auf einen Ast, zielte und schoss den Pfeil ab. Dieser traf so gut, dass er dem Schah in den Mund drang und seine Spitze durch ein Ohr herauskam. Der Schah fiel tot zu Boden. Als der Jüngling vom Baum kletterte, umringten ihn die Krieger, schlossen ihn in die Arme und sagten voller Freude: »Du hast ein gutes Werk getan!« Da antwortete Sakir: »Nicht ich habe es getan, sondern mein Vater. Schade, dass so viele Menschen vergebens umgekommen sind und der Tyrann so viele schuldlose Väter gemordet hat.« Die Krieger begaben sich zu dem weisen Alten, dankten ihm, dass er sie von dem grausamen Schah befreit hatte, und wählten ihn in allen Ehren zu ihrem Anführer.