[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der geizige Kadi

In einem Aul lebte ein armer Mann. Eines Tages fand er einen Krug voll Gold und beschloss, ihn gut zu verstecken. Er konnte nur keinen passenden Ort finden. Da fiel ihm der Kadi ein, und er überlegte: Alle gehen zu unserem Kadi, um Rat einzuholen oder um ihn zu bitten, Streitigkeiten zu schlichten. Auch ich will zu ihm gehen und ihm mein Gold zur Aufbewahrung geben. Also ging er zum Kadi und stellte den Krug mit Gold auf den Tisch. Der Kadi sagte: »Stelle ihn dort auf das Bord.« Er stellte den Krug auf das gewiesene Bord und ging heim. Nach zwei oder drei Monaten wollte der Arme sein Gold wiederhaben. Er ging also zum Kadi und sagte: »Ich möchte mein Gold abholen.«

»Der Krug steht an seinem Platz«, entgegnete der Kadi. Der Arme nahm seinen Krug und kehrte heim. Dort öffnete er den Deckel und sah, dass im Krug statt des Goldes Honig war. Er beschloss, keinem davon zu erzählen, doch sein Gesicht verdüsterte sich. In der Nachbarschaft wohnte ein Suchta. Als er sah, dass der Arme so finster dreinblickte, fragte er, was geschehen sei. Der Arme erzählte: »Ich hatte einen Krug voller Gold. Den habe ich dem Kadi zur Aufbewahrung gegeben. Nun, als ich mir den Krug zurückgeholt habe, stellte sich heraus, dass sich das Gold in Honig verwandelt hat.« Der Suchta unterrichtete die zwei Söhne des Kadi. Zum Armen aber sprach der Suchta: »Besorge zwei Jungbären und bringe sie mir. Ich werde es mit dem Kadi aufnehmen.« Der Arme ging in den Wald, fing zwei Jungbären und brachte sie dem Suchta. Der Suchta richtete in seinem Haus ein Zimmer so her, wie es der Kadi hatte, zog sich einen Chalat an, wie ihn der Kadi trug, und begann dreimal täglich - morgens, mittags und abends - die Bären vom Saum seines Gewandes zu füttern. Nach einiger Zeit gewöhnten sich die Jungbären daran, vom Saum des Chalats zu fressen.

Eines Tages nun entließ der Suchta die Söhne des Kadi nicht nach Hause, sondern behielt sie bei sich. Als der Kadi merkte, dass die Söhne nicht heimkamen, ging er zum Suchta und fragte: »Wo sind meine Söhne?«

»Deine Söhne haben sich in Jungbären verwandelt«, erwiderte der Suchta. Diese Worte erzürnten den Kadi, und er sagte: »Was soll diese Rede? Wie können sich meine Söhne in Jungbären verwandeln?« Der Suchta entgegnete: »Wenn du mir nicht glaubst, so setze dich in dieses Zimmer. Ich will die Bären hereinlassen. Wenn sie zu dir stürzen und sich im Saum deines Gewandes verkrallen, sind es deine Kinder, wenn sie das nicht tun, so sind es fremde.« Der Kadi kam mit mehreren Leuten und setzte sich in das Zimmer des Suchta. In diesem Augenblick ließ der Suchta die Jungbären in den Raum. Sie rannten sofort zum Kadi und packten den Saum seines Gewandes. Die Leute, die neben dem Kadi saßen und das sahen, blickten einander an und sprachen zum Kadi: »Kadi, der Suchta hat recht, deine Söhne haben sich in Jungbären verwandelt.« Das erzürnte den Kadi noch mehr, und er jagte alle aus dem Raum. Dann aber sprach er zum Suchta: »Hör zu, Suchta, das ist alles gut und schön. Aber es kann nicht sein, dass sich Kinder in Jungbären verwandeln.« Drauf erwiderte der Suchta: »Kadi, wie aber verhält es sich mit Gold im Krug? Kann sich das in Honig verwandeln?« Der Kadi bat: »Suchta, ich flehe dich an! Nimm zwei Krüge voll Gold von mir, aber gib mir meine Söhne zurück.«

Der Suchta nahm vom Kadi zwei Krüge voll Gold, gab einen dem Armen und behielt den anderen. Dann ließ er die Söhne des Kadi frei.