[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Brunnen am Ende der Welt

Es lebte einmal ein Mädchen; seine Mutter war gestorben, und der Vater hatte sich wieder verheiratet. Die Stiefmutter aber konnte die Tochter nicht leiden, weil sie schöner war als sie selbst. Sie behandelte sie sehr schlecht, ließ sie stets die schwersten und schmutzigsten Arbeiten verrichten und gönnte ihr keine ruhige Stunde. Eines Tages schließlich überlegte die böse Frau, wie sie ihre Stieftochter endgültig loswerden könnte. Sie gab ihr ein Sieb und sagte: »Geh und füll das Sieb mit Wasser aus dem Brunnen am Ende der Welt und bring es mir, oder es wird dir schlecht ergehen.« Sie glaubte, das Mädchen würde den Brunnen am Ende der Welt nicht finden. Und wenn es ihn doch fand, wie sollte es Wasser in einem Sieb heimbringen?

Das Mädchen machte sich auf den Weg und bat jeden, den es traf, ihm doch zu sagen, wo sich der Brunnen am Ende der Welt befand. Aber niemand konnte ihr helfen. Schließlich zeigte ihr eine alte Frau, die ganz gebückt ging, den Weg. Als das Mädchen den Brunnen endlich gefunden hatte, schöpfte es Wasser. Wieder und wieder tauchte sie das Sieb ein, doch das Wasser wollte nicht darin bleiben. Da setzte sich das Mädchen hin und weinte Herz zerbrechend.

Plötzlich hörte sie eine quakende Stimme, blickte auf und sah einen großen Frosch, der sie mit seinen hervorstehenden Augen anschaute. Er sprach: »Was hast du denn, meine liebe Kleine?«

»Ach, ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Meine Stiefmutter hat mich diesen weiten Weg machen lassen, damit ich ihr ein Sieb voll Wasser aus dem Brunnen am Ende der Welt bringe. Aber ich kann und kann das Sieb nicht füllen.«

»Nun«, sagte der Frosch, »wenn du mir versprichst, eine Nacht lang das zu tun, worum ich dich bitte, werde ich dir verraten, wie du das Sieb füllen kannst.« Das Mädchen sagte ihm das zu, und der Frosch fuhr fort: »Verstopf die Löcher mit Moos und verschmier sie mit Lehm. Dann kannst du das Wasser darin heim tragen.« Und er hüpfte hoch und wieder hoch und nochmals hoch und sprang mit einem Plumps in den Brunnen am Ende der Welt. Das Mädchen schaute sich nach Moos um und legte es auf den Boden des Siebs. Darüber schmierte sie Lehm und tauchte das Sieb in den Brunnen. Diesmal lief das Wasser nicht aus. Das Mädchen drehte sich um und wollte davongehen.

In diesem Augenblick steckte der Frosch den Kopf aus dem Brunnen und sagte: »Denk an dein Versprechen.«

»Gut, gut«, erwiderte das Mädchen und dächte: Was kann ein Frosch mir schon schaden? Es lief zurück zur Stiefmutter und brachte ihr das Sieb voll Wasser aus dem Brunnen am Ende der Welt. Die Stiefmutter war darüber sehr ärgerlich, ließ sich aber nichts anmerken.

An diesem Abend hörte die Tochter etwas unten an der Tür tap-tapsen, und eine Stimme rief: »Öffne die Tür, mein Honigtröpfchen,
öffne die Tür, mein Herzchen.
Denk an das, was du versprochen
Da unten auf der Wiese
Beim Brunnen am Ende der Welt.«
»Wer kann das sein?« fragte die Stiefmutter. Da musste das Mädchen ihr erzählen, was es dem Frosch versprochen hatte. »Sein Versprechen muss man halten«, sprach die Frau. »Geh und öffne sofort die Tür.« Sie freute sich, dass ihre Tochter einem hässlichen Frosch gehorchen musste. Das Mädchen machte die Tür auf, und da hüpfte der Frosch hoch, hüpfte höher und sprang zum Schluss so hoch, dass er ihm ins Ohr sagen konnte: »Heb mich auf dein Knie, mein Honigtröpfchen,
Heb mich auf dein Knie, mein Herzchen.
Denk an das, was du versprochen
Da unten auf der Wiese
Beim Brunnen am Ende der Welt.«
Das wollte das Mädchen gar nicht gern tun. Doch die Stiefmutter befahl ihr: »Augenblicklich hebst du den Frosch auf, du liederliches Ding! Sein Versprechen muss man halten.«

Schließlich packte die Tochter den Frosch, und eine Zeitlang saß er auf ihrem Knie. Da sagte er: »Gib mir zu essen, mein Honigtröpfchen,
Gib mir zu essen, mein Herzchen.
Denk an das, was du versprochen
Da unten auf der Wiese
Beim Brunnen am Ende der Welt.«
Dagegen hatte das Mädchen nichts einzuwenden. Es nahm eine Schüssel mit Milch, brockte Brot hinein und fütterte den Frosch. Als er satt war, sagte er: »Nimm mich in dein Bett, mein Honigtröpfchen,
Nimm mich in dein Bett, mein Herzchen.
Denk an das, was du versprochen
Da unten am kalten, kalten Brunnen.«
Davor aber graute dem Mädchen. Die Stiefmutter jedoch sagte: »Gehorche dem Frosch, oder ich werfe dich und dein Fröschlein hinaus.«

So nahm denn das Mädchen den Frosch zu sich ins Bett, hielt sich aber so weit wie möglich von ihm entfernt. Gerade als der Tag anbrach, was verlangte da der Frosch? »Schlag mir den Kopf ab, mein Honigtröpfchen,
Schlag mir den Kopf ab, mein Herzchen.
Denk an das, was du versprochen
Da unten beim kalten, kalten Brunnen.«
Zuerst weigerte sich das Mädchen, denn es dachte an den guten Rat, den der Frosch ihm am Brunnen gegeben hatte. Als der Frosch aber seine Bitte mehrere Male wiederholte, nahm das Mädchen eine Axt und hieb ihm den Kopf ab. Und, o Wunder! Plötzlich stand da ein schöner junger Prinz. Er erzählte, dass ein böser Zauberer ihn verwandelt hatte. Nur wenn ein Mädchen eine ganze Nacht hindurch tat, was er verlangte, und ihm zum Schluss auch noch den Kopf abschlug, konnte er erlöst werden.

Die Stiefmutter war sehr überrascht und nicht allzu erfreut, das könnt ihr euch denken, als sie statt des hässlichen Froschs den jungen Prinzen vorfand. Das Mädchen und der Prinz heirateten. Sie zogen fort und lebten von nun an im Königsschloß. Die Stiefmutter aber tröstete sich: Letzten Endes war es allein ihr zu danken, dass ihre Stieftochter einen Prinzen geheiratet hatte.