[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das Märchen von der bärtigen Braut

Die Sonne steht frühzeitig auf, aber Jarty-gulak stand noch früher auf. Jeden Morgen lief er aus der Kibitka und lauschte, wie die schöne Bachty-Gjul im Nebenhof ihre Lieder sang. Es waren lustige Lieder, Bachty-Gjul war glücklich wie die Blume, denn der Name Bachty-Gjul bedeutet im Turkmenischen »Blume des Glücks«. - »Hoho! Bachty-Gjul!« rief Jarty-gulak dem Mädchen zu und sprang wie ein flinker Grashüpfer mit drei Sätzen auf den Duwal. »Sei gegrüßt, Gjul!« rief Jarty. »Hier bin ich! Die Sonne ist aufgegangen!« Und die schöne Gjul antwortete: »Sei gegrüßt!« Sie setzte den Knirps auf ihre Knie und spielte mit ihm. Mal schenkte sie ihm eine Kischmisch-Beere, mal einen saftigen Nusskern oder ein Stückchen süße Chalwa. Gemeinsam sangen sie ihre Mädchenweisen: »Unsere Gärten sind wie Limonen so gelb.
Wind von den Zweigen die Blätter weht.
Reifende Trauben prangen am Rebstock,
Granatäpfel leuchten im Laub rubinrot.«
Jarty saß auf einem grünen Rebenblatt und wiegte sich wie in einer Wiege. Auch er stimmte sein Lieblingslied an: »Ich bin klein und mutig,
Und ich bin sehr hurtig!«
So begrüßten sie den jungen Morgen.

Doch an diesem Morgen, von dem ich euch nun erzählen will, vernahm Jarty-gulak kein lustiges Liedchen. Besorgt rief er nach seiner Freundin: »Hehe! Bachty-Gjul! Wo bist du?« Er lauschte, doch statt eines Liedes ertönte als Antwort nur ein klägliches Weinen. Der Knabe erschrak zutiefst. Von Zweig zu Zweig, von Blatt zu Blatt kletterte er auf den Duwal und blickte in den Nachbarhof. Ihm versagte gar das Herz vor Erbarmen: Mitten im Hof saß die schöne Bachty-Gjul auf einer alten Koschma, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und klagte: »Möge meine Schönheit verwelken! Möge meine klingende Stimme verrosten! Will garstig und ekelhaft aussehen, wie eine alte Schildkröte!«

»Weine nicht, Gjul! Deine Schönheit erfreut das Herz und macht die Erde strahlen. Weshalb verfluchest du sie?« suchte Jarty die kleine Freundin zu trösten. Doch das schöne Mädchen weinte nur noch lauter: »Großes Unglück ist über unser Haus gekommen! Und daran haben allein meine Lieder und meine elende Schönheit schuld! Der alte Kaufmann Muchammed, weißt du, er ist so alt, dass er nicht einmal mehr ohne Krückstock laufen kann, hat mein Singen gehört. Er ist in unser Haus gekommen und hat mich erblickt. Da fiel ihm ein, dass mein Vater ihm noch zwei Säcke Reis schuldet. Nun fordert er mich zur Begleichung der Schuld. Er will, dass ich fortan allein für ihn singe, dass ich ihm seinen fetten Pilaw auftrage und den süßen Wein einschenke. Er begehrt mich zu seinem Weib. Aber ich mag keine Lieder in der Gefangenschaft singen, will nicht die Sklavin eines alten Mannes sein. Möge meine Stimme verrosten, möge meine Schönheit in alle Ewigkeit welken!«

So weinte und wehklagte die schöne Nachbartochter, und die Tränen strömten wie große Perlen über ihr holdes Antlitz und fielen auf ihr ärmliches Kleidchen. »Gjul, weine nicht! Gjul, ich bitte dich!« flehte Jarty die Freundin an, »sonst beginne auch ich am Ende zu heulen wie ein alter Maulesel. Du weißt doch, ich lasse es nicht zu, dass dir ein Leid widerfährt. Eher werden an der Feldulme Äpfel und Birnen reifen, als dass du die Frau dieses Greises wirst!« Dem schönen Mädchen war in dieser Minute sehr weh ums Herz, doch sie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie setzte Jarty auf ihre Hand und sagte: »Mein kleines Dummerchen! Muchammed-aga ist reich, er ist ein Geldsack und ist zudem des Mullahs und des Kadis Freund. Dein gutes Herz allein kann mich nicht retten: Es wird nach dem Willen des Reichen gehen.«

Jarty-gulak rief zornig: »Das stimmt nicht! Nicht aufs Gold kommt es an, sondern auf den Verstand! Es macht nichts, dass ich nur so groß wie ein Küken bin. Wer klug und mutig ist, besiegt alle Feinde!« Das schöne Mädchen seufzte nur leise. Sie wollte Jarty-gulak nicht kränken. Aber wie sollte sie ihm Glauben schenken? So traurig begrüßten Bachty-Gjul und Jarty-gulak also diesen Morgen.

Doch nun höre, was gegen Mittag geschah. Gegen Mittag sandte Muchammed-aga Verwandte und Dienerinnen aus, um die Braut heimzuholen. Die goldgeschmückten, in Seide gehüllten Frauen näherten sich mit Musik und Gesang Bachty-Gjuls Vaterhaus und pochten laut ans Tor. Das Mädchen versteckte sich im dunkelsten Winkel der Kibitka, doch die Gäste traten ein und fanden die schöne Jungfrau. Sie hüllten sie in einen farbenprächtigen Teppich, setzten sie auf ein weißes Kamel und führten sie mit fröhlichen Liedern durch den Aul zum Haus des alten Muchammed-aga. Sie warfen, wie es der Brauch wollte, Kupfermünzen und Gebäck auf den Weg. Die Kinder und die Armen liefen hinterdrein, sie sammelten das Geld aus dem Straßenstaub und riefen: »Heute wird in unserem Aul eine reiche Hochzeit gefeiert!« Alle waren fröhlich und guter Dinge. Allein der Braut war schwer ums Herz. Gjul weinte bitterlich, als hinter ihrem Rücken die Pforte des Vaterhauses ins schloss fiel. Noch lauter aber schluchzte sie, als sich das Tor des Kaufmanns quietschend vor ihr auftat. Die alten Frauen halfen dem Mädchen vom Kamel und führten sie in die Frauenhälfte. Bachty-Gjul blieb allein im fremden Haus. Sie zitterte vor Angst, doch auf einmal vernahm sie ein sanftes Flüstern: »Ich bin hier, Gjul! Hab keine Angst!«

»Ach, Jarty! Wie bist du hierher gekommen?« Das Mädchen hätte vor Freude fast aufgeschrieen, doch Jarty verschloss ihr flugs mit seinem Händchen den Mund: »Leise, leise doch! Ich habe mich daheim in deinen schwarzen Zöpfen versteckt und bin mit dir zusammen in Muchammeds Haus gelangt. Ich konnte dich doch in deinem Unglück nicht verlassen!«

Der Kaufmann Muchammed-aga schickte Bachty-Gjul reiche Geschenke und trug zwei alten Dienerinnen auf, sich um das Mädchen zu sorgen. Mit tiefen Verbeugungen näherten sich die alten Frauen der Braut. Sie breiteten prächtige Gewänder und funkelnden Schmuck vor ihr aus. Ringe, Ketten und Armreifen glitzerten da aus purem Gold. Doch das schöne Mädchen schleuderte die Gewänder zur Seite, verstreute die glitzernden Perlen auf dem Boden und flehte die Dienerinnen an: »Ihr guten Frauen, erbarmt euch meiner! Will lieber Tag und Nacht im steinernen Mörser Körner stoßen, will die gröbste Wolle spinnen, will wie ein Lastesel das quietschende Brunnenrad drehen, als die Frau des alten Muchammed werden!«

Doch die alten Frauen lachten sie aus: »Du einfältiges Kind! Es gibt auch ohne dich in diesem Haus ausreichend Dienerinnen für alle schweren Arbeiten. Solche Frauen besitzt unser Herr mehr als genug. Doch er ist von furchtbarer Langeweile befallen und glaubt, dass deine Schönheit und deine Lieder allein ihn zu zerstreuen vermögen.«

»Möge ihn die Langeweile zu Tode quälen, ich will ihn nicht von diesem Leiden befreien!« erwiderte das schöne Mädchen kühn und schluchzte so herzbewegend, dass die alten Frauen von ihr ließen. Sie fürchteten, das Antlitz der Jungfrau könnte durch die Tränen verderben, und beschlossen, sie zu erheitern: Sie sangen, sie scherzten und klatschten fröhlich in die Hände, doch das schöne Mädchen blieb untröstlich. Da huben die alten Frauen zu tanzen an, aber auch das wollte nicht helfen.

Endlich hielten sie erschöpft und atemlos inne und sagten verdrossen: »Mag doch das schöne Kind an seinen Tränen ersticken, was schert es uns!« Sie setzten sich an die Seite, brabbelten ärgerlich und rangen nach Luft. Ihre Versuche, das Mädchen zu zerstreuen, hatten sie so ermüdet, dass sie bald einschlummerten.

Darauf hatte Jarty-gulak nur gewartet. Unbemerkt glitt er zur weinenden Bachty-Gjul und wisperte ihr ins Ohr: »Ist es nicht an der Zeit, ans Werk zu gehen, Nachbarstöchterlein?« Das Mädchen gab ärgerlich zurück: »Rede kein dummes Zeug, Kleiner! Alle Tore sind fest verriegelt. Aus diesem Haus komme ich nie wieder heraus!« Doch Jarty fuhr unbeirrt fort: »Schweig! Tue alles, was ich dir sage, und du wirst noch heute daheim sein.« Gjul glaubte dem Knirps zwar nicht, doch sie schwieg. Schweigen aber bedeutet Einverständnis. Drum machte Jarty sich ans Werk. Er suchte eine Schere, schlich sich lautlos an die Dienerinnen heran, zog ihnen die Tücher vom Kopf und schnitt ihre Zöpfe ab. Das machte er so geschickt, dass die alten Frauen nichts spürten. Nun kam das Wichtigste. Jarty schleppte zwei Burdjuks mit saurer Milch herbei, schüttete sie in einen großen Tonkrug, überlegte und stülpte den alten Frauen die Burdjuks über die Köpfe. Auch diesmal merkten sie nichts.

Dann schüttelte Jarty die Zöpfe der Dienerinnen auf und klebte sie seiner Freundin mit saurer Milch an Wangen und Kinn. »lass mich! Geh fort!« flüsterte das schöne Mädchen erschrocken. Doch Jarty-gulak zwinkerte ihr schelmisch zu: »Kein Wort mehr! Du willst doch nicht für ewige Zeiten im freudlosen Kaufmannshaus bleiben?« Und das Mädchen ließ ihn gewähren. Als Jarty die letzte Haarsträhne dem Mädchen ins Gesicht geklebt hatte, bewunderte er voller Vergnügen sein Werk! Der schönen Bachty-Gjul war ein ellenlanger Bart gewachsen, und auf ihrer Oberlippe sträubte sich ein hartes graues Bürstenbärtchen. Es war ein heißer Tag, und die saure Milch trocknete im Handumdrehen.

Jarty zog die Freundin am Bart, um zu prüfen, ob er wirklich hielt. Jarty war zufrieden: »Der hält! Nun wollen wir sehen, ob dem Bräutigam eine Braut mit grauem Bart gefällt!« Jarty nahm einen Strohhalm, lief zu einer der alten Frauen und kitzelte sie an der Nase. Die Alte nieste und erwachte. Sie nieste so laut, dass sie ihre Nachbarin weckte. Die beiden gähnten wie auf Befehl und wackelten mit den Köpfen: Die schweren Burdjuks waren fest in die Stirn gedrückt. Sie sprangen auf, rannten aufgeregt durch die Kibitka, konnten die Säcke jedoch nicht abschütteln.

Als die Frauen sich endlich von ihnen befreit hatten und einander anstarrten, schrieen sie so laut auf, dass sich die Kamele im Hof von ihren Leinen losrissen und in die Wüste flüchteten. »Wach, welch ein Unheil! Wach, welch eine Not!« kreischten die alten Weiber. »Ein böser Dshin hat uns verhext und uns unsere herrlichen Zöpfe gestohlen! Unsere Köpfe, unsere armen Köpfe sind kahl!« Bachty-Gjul beobachtete sie wortlos und konnte sich nur mit Mühe des Lachens enthalten. »Was ist mit euch, gute Frauen?« rief sie endlich aus. Die Dienerinnen starrten das Mädchen an und standen reglos vor Schreck: Der schönen Maid war ein Bart gewachsen! Sie glaubten, der Leibhaftige sei ins Haus eingedrungen und stürzten schreiend aus der Kibitka. Sie schrieen so laut, dass der Hausherr herbeigeeilt kam.

Als er die Braut mit langem grauem Bart erblickte, griff er sich ans Herz und fiel wie tot auf den Teppich. Alle Hausbewohner rannten herbei. Dienerinnen besprengten den Kaufmann mit kaltem Wasser, da kam er zu sich. »Jagt dieses Scheusal fort!« kreischte der Kaufmann außer sich. »Und ruft sofort meinen Freund, den Mullah, auf dass er Tag und Nacht bei mir bete, bis die bösen Geister aus meinem Hause vertrieben sind!« Ohne lange zu überlegen, packten die Greisinnen das Mädchen an den Armen und stießen sie vom Hof. Doch nun wollen wir den Kaufmann vergessen und lieber hören, was sich mit dem schönen Mädchen zutrug. Bachty-Gjul war sehr glücklich, als sie auf der Straße stand. Schneller als der Frühlingswind eilte sie heim zu des Vaters Kibitka. Jarty aber saß auf ihrer Schulter und lachte. Er lachte über den Kaufmann und dessen Dienerinnen. So gelangten sie zu einem breiten Aryk. Gjul schöpfte kühles klares Wasser und wusch sich Gesicht und Haare. Doch die saure Milch war so festgeklebt, dass sich der Bart nur zusammen mit der Haut abreißen ließ. »lass dir Zeit! Ganz ruhig, Gjul!« rief der Knirps ihr zu, doch das schöne Mädchen hörte ihn nicht. Sie ließ sich auf die Erde fallen und klagte laut: »Wie soll ich mit so einem Bart leben! Selbst die Maulesel werden über mich spotten!« Antwortete Jarty: »Beruhige dich! Wenn dir dein Bart nicht gefällt, so komm rasch zu meiner Mutter. Dort will ich dein Leid vertreiben, wie der Wind die Wolken verjagt.« Sie taten, wie der Knirps geraten.

Als Jarty-gulaks betagte Mutter den Sohn erblickte, begleitet von einem Mädchen mit langem Bart, schrie sie auf und wollte in Tränen ausbrechen, doch Jarty-gulak gebot ihr Einhalt: »Edshe-dshan, wenn du schreist, so ist das unser Tod. Der alte Kaufmann wird herbeieilen und Dinge erfahren, die er lieber nicht wissen sollte. Stell rasch einen großen Kasan mit Wasser aufs Herdfeuer und hilf unserer Nachbarstochter beim Waschen.«

Gesagt, getan. Anderntags begrüßten Bachty-Gjul, die Blume des Glücks, und der hurtige Jarty-gulak abermals gemeinsam den Morgen. Nicht für den alten Kaufmann Muchammed, sondern für ihren kleinen Freund sang Gjul ihre Weise: »Unsere Gärten sind wie Limonen so gelb
Wind von den Zweigen die Blätter weht.«
Jarty-gulak aber fiel mit hellem Stimmchen ein: »Reifende Trauben prangen am Rebstock,
Granatäpfel leuchten im Laub rubinrot...«
So sangen sie und freuten sich des Lebens, den reichen Kaufmann aber plagte weiterhin die böse Langeweile.