[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das Mädchen im Monde

Vor langen Zeiten, als die Welt anders war, als sie jetzt ist, und die Geister noch in Verkehr mit Menschen traten, da war auf der lieblichen Insel Nauru ein junges Mädchen Ejiawanoko, das mit seiner Großmutter unter einem sehr hohen Baum lebte. Dieser Baum hieß Inkumateri, und seine höchsten Zweige berührten den Himmel. Seine Zweige waren herrlich grün und so dicht, dass die Sonnenstrahlen ihn niemals durchdringen konnten und sie auch gegen den Regen ein gutes Dach waren.

Als die Großmutter ihre Enkelin heranwachsen sah, dachte sie daran, dass es Zeit sei, einen Mann für sie zu suchen. Aber sie wusste nicht recht, wie sie es machen sollte.

Sie sagte sich, ihre Enkelin sei so schön, dass sie verdiente, einen Gott zum Manne zu bekommen. Da sie es nicht mehr hinausschieben wollte, nach einem Manne Umschau zu halten, rief sie die Enkelin herbei und sprach zu ihr: »Ejiawanoko, du musst nun daran denken, dich zu verheiraten, und da sind viele Männer, die um deinetwillen durch Feuer und Wasser gehen würden, aber ich habe schon für dich gewählt und will dir jetzt meine Vorschriften geben. Morgen früh, bevor die Sonne aufgeht, musst du dich vom Lager erheben und dich für deine Reise vorbereiten. Salbe deinen Körper mit wohlriechendem Öle, und bekränze deinen Kopf und Oberkörper mit schönen Blumen. Darauf ersteige den Baum, unter welchem wir unser Heim haben. Du weißt, dass Stufen am Stamm bis zur Höhe reichen, obwohl noch niemand gewagt hat, sie zu ersteigen, denn es würde dem, der dies unternehmen wollte, sicheren Tod bringen. Du aber kannst ohne Furcht gehen, denn der Zauberspruch, den ich über dich sprechen werde, wird dich vor Unheil bewahren, und alles wird gut gehen.«

Da antwortete Ejiawanoko: »Ich will hingehen, wohin du es wünschest, denn ich weiß, dass alles, was du für mich tust, zu meinem Besten ist.«

Nachdem die Großmutter ihren Zauberspruch über sie gesprochen hatte, legten sich beide auf ihren Matten zur Ruhe. Zur bestimmten Zeit fand sich Ejiawanoko am Fuße des großen Baumes ein, mit schönen Blumen geschmeckt und mit wohlriechendem Öl eingerieben. Dann rief sie ihre Großmutter, die sie umarmte und sagte: »Mein Liebling, kommst du zurück, so ist es mir lieb, wenn nicht, so weiß ich, dass du dich in guter Hut befindest.«

Nun erstieg das Mädchen den Baum, und getragen von dem Zauberspruch, legte sie den Weg über die Zweige schnell und gefahrlos zurück. Als sie am Gipfel angekommen war, sah sie ein kleines Haus vor sich, und daneben saß ein altes, blindes Mütterlein, das kochte auf heißen Steinen in Kokosschalen Palmwein zu Sirup ein. Es rührte eifrig, damit der Sirup nicht anbrenne. Das Mütterlein sang bei der Arbeit und zählte seine Schälchen. Jedes Mal, wenn es mit Zählen fertig war, nahm Ejiawanoko, die sich leise genähert hatte, eine Schale fort. Als es immer weniger Schalen wurden, rief die Alte: »Was ist das, es werden immer weniger Schalen!« Schließlich dachte das Mütterlein, die Schalen können nicht fortlaufen, jemand muss sie genommen haben, und bei der nächsten Gelegenheit griff es zu und erfasste auch wirklich den Arm von Ejiawanoko, die gerade eine neue Schale fortnehmen wollte.

Die Alte rief: »Endlich habe ich dich, wer bist du? Was ist das für ein schlechter Streich, einer armen blinden Frau den Sirup zu stehlen! Aber du wirst teuer dafür bezahlen, denn meine beiden Söhne Iguan und Merrimen werden Dich töten, wenn sie hören, was du ihrer Mutter getan hast!«

»Oh, hab Erbarmen, ich tat es nur aus Scherz«, sagte das geängstigte Mädchen, »Bitte, vergib mir, ich will niemals wieder etwas Derartiges tun, bitte, lass meinen Arm los.«

Doch das Mütterchen hielt noch immer den Arm des Mädchens umklammert. »Mein Name ist Eniburara, ich bin die Mutter von Ignan und Merrimen und koche Sirup für sie, wie ich das jeden Morgen tue. Aber nun habe ich nichts für sie«, sagte das Mütterchen, »du hast mir die Schalen gestohlen!«

»Oh, liebe gute Eniburara, lass mich diesmal los, ich will alles für dich tun, ich will deine Dienerin sein und dir stets gehorchen.«

Die Alte antwortete: »Ich brauche keine Dienerin. Das Wenige, was ich tue, tue ich aus Liebe zu meinen Kindern. Ich selbst brauche nicht Nahrung, Getränk noch Schlaf.«

»Oh, lass mich gehen, vergib mir, Eniburara, dann sage ich dir ein Geheimnis, das meine Großmutter mir anvertraut hat!«

»Gut, törichtes Kind, sage, was es ist.«

»Ich kann deine Blindheit heilen!«

»Nein, nein! Das kannst du nicht, jeder hat es versucht, und niemand ist es gelungen.«

Da ließ Eniburara den Arm des Mädchens los, Ejiawanoko aber nahm das Gesicht der Alten in ihre beiden Hände, und nachdem sie einige Worte gemurmelt hatte, spuckte sie in ihre Augen. Da krochen Eidechsen und Käfer aus den Augen der Alten, und nach wenigen Augenblicken konnte sie sehen. Vor Freude klatschte sie in die Hände und rief: »Welch schöne Welt! Ich dachte stets, sie sei dunkel und hässlich. Nun werde ich die Gesichter meiner lieben Söhne sehen können. - Aber ich muss jetzt an dich denken, denn wenn ich dich nicht verberge, so werden Iguan und Merrimen dich sicherlich töten, denn sie töten jedermann, den sie hier außer mir antreffen.« Darauf steckte sie Ejiawanoko unter einen großen leeren Öltrog und sagte ihr, sie solle ganz still sein, denn Sonne und Mond würden gleich kommen.

Kurz darauf erschien Iguan in seinem Glanze und blendete seiner Mutter Augen so sehr, dass sie ihr Angesicht abwenden musste. Als Iguan dies sah, fragte er die Mutter: »Warum wendest du dein Gesicht weg? Du tatest dies nie zuvor!«

»Weil ich dich jetzt sehen kann, mein lieber Sohn, was ich früher nie konnte.«

»Wieso, Mutter, wer vollbrachte dies Wunder?« Als er dies sagte, kam sein Bruder Merrimen, und seine Mutter dachte, als sie ihn erblickte, dass er sanft und milde ausschaue, so ganz anders als Iguan, dem niemand ins Angesicht sehen könne. Merrimen ging auf die Mutter zu und sagte: »Wie kommt es, dass du uns anblickst, als ob du uns sehen könntest?«

»Ja, mein Sohn, ich kann sehen und dich anschauen, aber Iguan mit seinem Glanz tut meinen Augen weh.«

»Aber Mutter, was ist das für ein Duft? Es riecht nach menschlichem Wesen.«

»Es ist so, meine Kinder, ein Menschenkind, ein junges, liebliches Mädchen, ist in der Nähe, und sie ist es, die mich von meiner Blindheit geheilt hat. Das Mädchen ist so lieb und schön, und ich denke, einer von euch soll es heiraten.« »Ja, Mutter«, antworteten beide, »lass das Mädchen kommen und wählen zwischen uns; wir wollen nicht eifersüchtig aufeinander sein.«

Darauf ging Eniburara zum Öltrog, und als sie ihn hob, kam Ejiawanoko hervor. Eniburara nahm das Mädchen an der Hand und führte es zu ihren Söhnen und sagte: »Nun, Kind, triff deine Wahl, welchen von beiden willst du zum Manne haben?«

Ejiawanoko überlegte einige Augenblicke, sah Sonne und Mond an und sagte dann: »Ich kann Iguan nicht heiraten, er ist zu heiß, und ich kann ihn nicht ansehen, er ist zu gleißend hell. Aber Merrimen sieht so ruhig und mild aus, ich will mit ihm gehen.«

Als das Mädchen so gesprochen hatte, kam Merrimen auf sie zu, legte seine Arme um sie und begann mit ihr durch die Luft zu segeln, und bis auf den heutigen Tag kann man Ejiawanoko sehen, wie sie mit Merrimen durch den Himmel reist.

Dies ist die Geschichte des Mädchens im Monde.