[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das Geschenk

Mirali verwendete viel Mühe und Zeit für sein Melonenfeld. Seine Anstrengungen wurden gelohnt: Er hatte eine reichliche Ernte. »Ata«, wandte er sich eines Tages an seinen Vater, »lass mich ein paar der besten Melonen unserem Padischah zum Geschenk machen.«

»Ach, mein Sohn.« Der Vater schüttelte betrübt sein ergrautes Haupt, »das bringt dir nichts Gutes. Du meinst, er wird es dir lohnen? Müßige Hoffnungen! Alle Herrscher sind undankbar!« Mirali lachte spöttisch, belud einen Maulesel mit zwei Satteltaschen voll reifer Zuckermelonen und machte sich auf den Weg. Als Sultansojun Mirali von ferne erblickte, verkleidete er sich als Palastwache und stellte sich vor den Eingang zum schloss. Mirali wollte vorbeigehen, doch der Wachsoldat versperrte ihm den Weg: »He, Bursche, wohin willst du?«

»Ich bringe Sultansojun Melonen«, erwiderte der Jüngling, der nichts Böses ahnte. »Ach, du Dummkopf«, erwiderte der Soldat, »du solltest deine Zuckermelonen lieber auf dem Basar verkaufen, als sie hierher zu bringen. Das lohnt sich mehr. Sultansojun ist ein undankbarer Mensch.«

»Ich erwarte gar keine Dankbarkeit«, erwiderte Mirali, »ich habe nur einen Wunsch, dass er sie probiert.«

»Wenn dem so ist, dann komm in den Hof, ich will gehen und um Erlaubnis bitten«, antwortete der Wachsoldat.

Sultansojun kehrte in den Palast zurück, kleidete sich um und setzte sich auf seinen Thron. »Großer Padischah«, sprach Mirali, als er das Gemach betrat, und verneigte sich ehrfurchtsvoll. »Ich habe Euch die schönsten Zuckermelonen von unserem Feld gebracht.«

»Das erfreut uns«, entgegnete Sultansojun und betrachtete die Gabe, »aber ich besitze noch schönere. Außerdem habe ich nichts, was ich dir zum Dank geben könnte. Wenn du willst, so kannst du sie wieder mit dir nehmen.«

»Ich habe Euch doch schon gesagt, dass ich nichts brauche«, erwiderte Mirali. »Was sagtest du?«

»Was Ihr bereits vernommen habt. Wozu es wiederholen.« Sultansojun verwunderte der scharfe Blick des Jünglings, und er schenkte ihm gnädig eine Handvoll Tanga-Goldmünzen.

Mirali dankte und ging. Die Höflinge umdrängten Sultansojun und redeten aufgeregt durcheinander: »Oh, großer Padischah, wenn Ihr jeden, der Euch eine Kleinigkeit bringt, so reich beschenkt, dann wird die Staatskasse bald leer sein.«

»Soviel Geld erhält nicht ein jeder«, gab Sultansojun lächelnd zurück, »sondern nur ein Kluger und nicht für Zuckermelonen, sondern für ein weises Wort.«

»Wodurch hat er sich von uns unterschieden?« fragte der Wesir erstaunt. »Er hat mir das Geld durch ein Wort abgenommen«, erläuterte Sultansojun. »Versuchet nun, es durch ein Wort zurückzuholen.«

»Erlaubt mir, es zu versuchen«, meldete sich einer der Wesire. »Wir erlauben es.« Der Padischah lächelte spöttisch.

Der Wesir stürzte aus dem Palast, um Mirali einzuholen. Schon aus der Ferne rief er: »He, Jüngling, halte an!« Mirali hielt an und wartete. »Sag mir«, begann der Wesir bedeutungsvoll, »wo liegt der Mittelpunkt der Erde?«

»Der Mittelpunkt der Erde«, versetzte Mirali. »Wer sollte das nicht wissen. Er liegt geradewegs unter dem rechten Vorderhuf meines Maulesels.«

»Woher ist dir das bekannt?« Der Wesir kniff die Augen zusammen und blickte Mirali prüfend an. »Du glaubst mir nicht?« fragte Mirali. »Miss nach, ich warte indessen.« Der Wesir druckste lange herum und kehrte unverrichteterdinge in den Palast zurück. »Na, wo ist mein Geld?« fragte Sultansojun. »Es ist mir nicht gelungen, es zurückzubekommen«, bekannte der Wesir. »Eine Schande«, entschlüpfte es einem anderen Wesir. »Vielleicht versuchst du dein Glück?« fragte Sultansojun. »Erlaubt es mir, und ich bringe das Geld zurück.«

»Allah stehe dir bei!« Sultansojun erteilte ihm seinen Segen. Mirali hatte schon die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ihn der zweite Wesir des Padischahs einholte. »He, Bursche«, hub der hochfahrend an, »beantworte meine Frage oder gib dem Padischah das Geld zurück.«

»Sprich!« erwiderte Mirali. »Wie viele Sterne stehen am Himmel?« Mirali blickte den Wesir an, ein Lächeln spielte um seine Augen, und er entgegnete höflich: »Wer sollte das nicht wissen? Es sind genauso viele, wie mein Maulesel Härchen hat.«

»Bist du dessen sicher?« Der Wesir mochte nicht so rasch klein beigeben. »Wenn Ihr Zweifel habt, so zählt sie nach!« Der Wesir wusste nicht, wie er sich herauswinden sollte, und trottete beschämt in den Palast zurück.

Nachdem Sultansojun ausgiebig über den zweiten Pechvogel gelacht hatte, fragte er laut: »Wer will noch sein Glück versuchen?« Da meldete sich der Oberwesir. Er schwang sich auf seinen Lieblingstraber und holte Mirali schneller ein als der Wind. »He, Bursche, wenn du mir eine Frage beantwortest, schenke ich dir mein Ross zum Lohn, vermagst du es nicht, gibst du mir das Geld des Padischahs zurück.«

»Ich höre, frage mich.«

»Du weißt natürlich, dass im Himmel das weiße Huhn lebt.«

»Wie sollte man das nicht wissen!« Mirali lachte spöttisch. »Sag, was ruft es gerade?« Mirali hob den Kopf und lauschte. »Ich höre es«, erwiderte er, »nur kann ich es nicht verstehen. Darf ich dein Ross besteigen?«

»Bitte«, erwiderte der Wesir bereitwillig. Mirali stellte sich in die Steigbügel, lauschte und rief erfreut: »Jetzt verstehe ich, was es sagt!«

»Was?« »Es sagt: ›Mirali, setze dich bequem in den Sattel und gib dem Pferd die Sporen, für den Wesir reicht auch der Maulesel aus.‹« Mirali zog die Zügel, schwang die Peitsche, und der herrliche Traber galoppierte auf und davon. Dem Wesir blieb keine Wahl, er musste den Maulesel Langohr besteigen und heimwärts reiten. Dabei verfluchte er aus tiefstem Herzensgrund den weisen Mirali. Der Wesir sah aus wie ein verprügelter Hund. Als Sultansojun den heimkehrenden Oberwesir erblickte, lachte er von Herzen. »Na?« fragte er endlich und wischte sich die Augen, »habt ihr nun begriffen, was Mirali für ein Kerl ist?« Der Oberwesir ließ sich vom Maulesel gleiten, schlug mit dem Stock auf das Tier ein, damit es ihm aus den Augen gehe, und sagte: »Es heißt nicht von ungefähr: Ringe nicht mit dem Starken und trage keinen Wettkampf mit einem Heißsporn aus.«