[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das gefangene Mädchen

Einmal brach eine Schar Mädchen früh am Morgen von zu Hause auf, um Imbola zu holen, den roten Ton, mit dem sie ihre Körper und Kleider färben. Unter ihnen war eine Häuptlingstochter, ein sehr hübsches Mädchen. Als sie genug eingesammelt hatten und nach Hause gehen wollten, schlug die eine vor, in einem großen Teich, den es da gab, zu baden. Damit waren alle einverstanden, und so gingen sie ins Wasser und spielten lange darin herum. Schließlich zogen sie sich wieder an und machten sich auf den Heimweg. Aber als sie ein Stückchen gegangen waren, bemerkte die Häuptlingstochter, dass eins ihrer Schmuckstücke fehlte, das sie vor dem Baden abgelegt hatte. Sie bat eine Verwandte, mit ihr umzukehren, aber die lehnte ab. Da fragte sie ein anderes Mädchen und noch ein anderes, aber keine wollte mitkommen. So war sie gezwungen, allein zu dem Teich zurückzukehren, während die anderen nach Hause gingen.

Als sie bei dem Wasser ankam, näherte sich ihr ein ekelhafter Menschenfresser, der nur ein Bein hatte, fing sie und steckte sie in einen Sack. Sie war so erschrocken, dass sie ganz still lag. Der Menschenfresser zog mit ihr durch verschiedene Dörfer und ließ sie für sich singen. Er nannte sie seinen Vogel. Kam er zu einem Dorf, bat er um Fleisch, und erhielt er es, sagte er: »Sing, mein Vogel.« Aber niemals öffnete er den Sack, so dass niemand sehen konnte, was für einen »Vogel« er darin hatte.

Als die Mädchen nach Hause kamen, erzählten sie dem Häuptling, dass sich seine Tochter, die ins Alter des Ntonjane gekommen sei, mit einer anderen zusammen in einer Hütte aufhalte. Der Häuptling glaubte die Geschichte, schlachtete einen großen Ochsen und rief die Leute zum Essen. An diesem Tag aßen sie fettes Rindfleisch und waren sehr lustig. Die Jungen holten sich Fleisch und aßen es weit vom Dorf entfernt. Der Menschenfresser, der nicht wusste, dass der Vater des gefangenen Mädchens in jenem Dorf Häuptling war, kam dazu. Er sagte den Jungen, für ein wenig Fleisch ließe er seinen Vogel für sie singen. Also gaben sie ihm Fleisch, und er befahl: »Sing, mein Vogel.« Der Bruder des Mädchens war auch dabei. Ihm schien, der Vogel sänge wie seine Schwester, aber er fürchtete sich, den Menschenfresser darum zu bitten, ihm den Vogel zu zeigen, sondern riet ihm, ins Dorf zu gehen, dorthin wo die Männer waren, und er erzählte ihm, dass es dort Mengen von Fleisch gäbe. Da lief der Menschenfresser ins Dorf und ließ dort seinen Vogel singen. Der Häuptling wünschte sehr, den Vogel zu sehen, aber der Menschenfresser wollte den Sack nicht öffnen. Einen Ochsen bot ihm der Häuptling für den Vogel, aber der Menschenfresser schlug das Angebot aus. Da dachte sich der Häuptling einen Plan aus. Er bat den Menschenfresser, ein bisschen Wasser zu holen und versprach ihm bei seiner Rückkehr eine Menge Rindfleisch. Der Menschenfresser war einverstanden zu gehen, wenn sie versprachen, in seiner Abwesenheit den Sack nicht zu öffnen. Alle versprachen, den Sack nicht anzurühren. Dem Menschenfresser gaben sie für das Wasser ein Gefäß mit einem Loch, so dass er lange fort sein würde. Sobald er außer Sicht war, öffnete der Häuptling den Sack und zog seine Tochter heraus. Zuerst konnte er es nicht glauben, dass es wirklich seine Tochter war, er dachte doch, dass sie das Ntonjane einhalte. Aber als er erkannte, wie sehr ihn die anderen Mädchen getäuscht hatten, forderte er, sie alle müssten sterben. Und so wurden sie getötet. Dann steckte der Häuptling Schlangen und Kröten in den Sack und band ihn wieder zu.

Als der Menschenfresser zurückkam, beschwerte er sich über das löchrige Gefäß, aber sie gaben ihm eine Menge Fleisch, um ihn zu beruhigen, und er nahm seinen Sack über und ging fort. Er wusste ja nicht, was inzwischen geschehen war. Als er sich seiner Hütte näherte, rief er seiner Frau zu: »Bereite alles zum Kochen vor!« Und dann ließ er alle anderen Menschenfresser zu einem Festschmaus einladen. Sie erschienen und erwarteten, etwas Gutes zu bekommen. Ein Weilchen ließ er sie warten, damit ihr Hunger wuchs. Dann öffnete er seinen Sack und wollte das Mädchen herausholen, aber er fand nur Schlangen und Kröten darin. Die anderen wurden darüber so böse, dass sie ihn töteten und aus ihm ihren Festschmaus bereiteten.