[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das Antlitz des Schönen Mädchens oder die Weisheit des Greises

Ob er nun lebte oder nicht, es war einmal ein Khan. Der hatte eine Nase, so spitz wie ein Küchenmesser und länger als ein Strick. Dieser Khan besaß drei Söhne. Als er verschied, wurde im ganzen Reich für fast drei Monate Trauer verkündet. Nach Ablauf dieser Zeit verließ der Mann, der ständig am Grabe Gebete gesprochen hatte, den frisch aufgeschütteten Hügel, Verwandte und Freunde wurden geladen, und die Trauernden rasierten sich wieder. Als sich dann die Erde auf dem Grabhügel des Vaters gesenkt hatte, fanden auch die drei Söhne ihren Seelenfrieden zurück. Sie beschlossen, das Hab und Gut des Vaters unter sich zu teilen. Jeder erhielt viele Pferde, Vieh, Grund und Boden und außerdem je einen Sack Gold. Die Söhne genossen die Reichtümer ihres verstorbenen Vaters in vollen Zügen und regierten reihum das Reich. So vergingen ein paar Monate. Da drang die Kunde ins Land, dass ein anderer Khan eine wunderschöne Tochter besitze. Es hieß, sie habe Zöpfe aus purem Gold und Zähne aus Smaragden. Wer sie umarme, dem entgleite sie, wer sie mit den Fingern berühre, dem schmiege sie sich in die offene Hand, wen sie anschaue, der vergehe unter ihren Blicken. Wer sie von Angesicht sehe, der erzähle unaufhörlich von ihrer märchenhaften Schönheit. Wer sie aber von Angesicht schauen wolle, der müsse ein Sack Gold zahlen, sonst bleibe sie den Blicken verborgen. Da die Söhne des Khans das vom Vater ererbte Gold noch besaßen, dachten sie: Was sollen wir mit dem Gold, wenn wir dafür eine echte Schönheit von Angesicht schauen können?

Der Älteste rüstete also zu weiter Reise. Er schüttete sein Gold in den Churdshun und machte sich auf den Weg. Immer wieder trieb er sein Pferd zum Galopp an, denn er konnte es kaum erwarten, das schöne Mädchen zu schauen. Das Ross trabte so schnell, dass es in einem Atemzug eine Entfernung zurücklegte, wie man sie nicht einmal mit dem Auge ermessen konnte. Die Steine unter den Hufen des Rosses zerstoben zu Staub. Als der älteste Sohn des Khans durch ein großes Tal kam, begegnete ihm ein weißhaariger Greis. Ehrfurchtsvoll entbot der Jüngling ihm seinen Gruß. »Salam aleikum, ehrwürdiger Greis!«

»Waaleikum salam. Was ist dir lieber: die Weisheit des Greises oder das Antlitz eines schönen Mädchens?« Der Sohn des Khans maß den Worten des Alten keinerlei Bedeutung bei und erwiderte lachend: »Natürlich das Antlitz eines schönen Mädchens, Großvater! Was soll ich mit der Weisheit des Greises?«

»Da kann man nichts machen. Ich wünsche dir eine glückliche Reise und den Anblick des schönen Mädchens«, erwiderte der Greis. Der Sohn des Khans gab seinem Pferd die Peitsche und ritt weiter.

Der Greis aber wusste, dass der Khan allen für Gold statt seiner Tochter deren Dienerin zeigte. Ihm missfiel dieser Betrug, und er wollte den Jünglingen helfen, dem Khan das Handwerk zu legen. Doch die errieten nicht die Absicht des Greises. So erreichte auch dieser Jüngling jenen Aul, in dem der Khan lebte. Er gab ihm sein Gold, bekam die Dienerin zu sehen und kehrte fröhlich und stolz nach Hause zurück, als habe er die ganze Welt erobert.

Auch der mittlere Sohn bekam Lust, die Tochter des Khans zu schauen. Er dachte im Stillen: Wenn ich mir dieses Vergnügen versage, wozu habe ich dann all das Gold? So schüttete auch er sein Gold in den Churdshun und ritt davon, die Tochter des Khans zu sehen. Der mittlere Sohn übertrumpfte den älteren Bruder in Eile und Heißblütigkeit beträchtlich. Er trieb sein Pferd nicht mit der Peitsche an, sondern gab ihm fortwährend erbarmungslos die Sporen. Er jagte so schnell dahin, dass er nicht einmal die Dinge unterscheiden konnte, die an seinem Weg lagen. Als auch er jenem Greis begegnete, rasselte er die Grußworte so hastig herunter, als schleudere er dem alten Mann einen Schuldschein entgegen, dessen er seit langem überdrüssig war. Ohne das Pferd auch nur für einen Augenblick anzuhalten, ritt der Sohn des Khans weiter. Doch den Greis verdross die Unehrerbietigkeit des Jünglings nicht, und er rief ihm nach: »He, junger Mann!« Der Sohn des Khans wandte nur den Kopf, und der Greis fragte rasch: »Was bevorzugst du: das Antlitz eines schönen Mädchens oder den Rat des Greises?«

»Was soll ich mit dem Rat des Greises, wenn ich das Antlitz eines schönen Mädchens sehen kann!« rief der Sohn des Khan. Er ritt weiter und gelangte in den Aul, in dem der Khan mit seiner bildhübschen Tochter lebte. Auch der mittlere Sohn gab dem Khan sein Gold, blickte der Dienerin ins Angesicht und kehrte zufrieden nach Hause zurück.

Daheim erzählte der mittlere Bruder dem älteren, wie er die schöne Jungfrau gesehen und wie sie ihm gefallen habe. »Ein Sack Gold ist vor soviel Schönheit wie ein Sack Asche. Wenn ich ein ganzes Zimmer voller Gold besäße, ich würde es dafür verwenden, jeden Tag dieses schöne Mädchen zu schauen.«

Tagelang redeten die Brüder über die außergewöhnliche Schönheit des Mädchens, das sie gesehen hatten. Der jüngste Bruder, der diese endlosen Unterhaltungen mit anhörte, wurde ebenfalls von dem Verlangen übermannt, das Mädchen zu sehen. Er kleidete sich so auffallend elegant, dass sich jedes schöne Mädchen den Hals nach ihm verrenken würde. Dann schwang er sich aufs Pferd und schoss davon, geschwind wie ein Pfeil. Unterwegs erblickte er den Greis, dem auch seine älteren Brüder begegnet waren. An diesem Tag pflügte der Alte seinen Acker. Als der Sohn des Khans den Alten erblickte, hielt er sein Pferd an und entbot ihm achtungsvoll den in dieser Gegend üblichen Gruß. »Salam aleikum, Großvater! Möge dir deine Saat reiche Ernte bringen!« Der Greis erwiderte den Gruß ebenso freundlich, wünschte dem Jüngling eine glückliche Reise und stellte schließlich dem jüngsten Sohn des Khans dieselbe Frage wie den Brüdern. »Was wählst du dir: das Antlitz eines schönen Mädchens oder den Rat des Greises?«

»Ich schätze den Rat des Greises zwanzigmal höher«, entgegnete der jüngste Sohn des Khan. Erwiderte der Greis: »Dann steig von deinem Ross!« Der Sohn des Khans gehorchte. Der Greis lockerte die Sattelriemen und ließ das Pferd auf die Weide. Den Sohn des Khans aber nötigte er, sich auf einem großen Stein niederzulassen. Während er seinen Acker weiter pflügte, erzählte er dem Jüngling, wie der Khan die Menschen betrügt, sich Gold geben lässt und dafür den vertrauensseligen Jünglingen die Dienerin seiner Tochter zeigt. Zum Schluss sagte der Greis: »Ich will dir helfen. Du wirst die richtige Tochter des Khans sehen und obendrein dein Gold behalten.«

Den Sohn des Khans erfreuten diese Worte. Gemeinsam verzehrten sie das Mittagsmahl, das die Frau des alten Mannes aufs Feld brachte. Dann erfrischten sie sich an der kühlen Busa und begaben sich endlich, als der Greis sein Tagewerk beendet hatte, gemeinsam zu ihm nach Hause. Dort fertigten sie aus einem handgeknüpften Teppich einen Ziegenbalg und aus einer langfasrigen Wolldecke einen Hund. Dann begaben sie sich in den Aul, in dem der Khan, der Vater jenes wunderschönen Mädchens, wohnte.

Vor dem Hause des Khans sprudelte eine Quelle, aus der die Bewohner des Auls ihr Wasser schöpften. Hier fanden sich stets viele Menschen ein. Der Greis und der Jüngling begaben sich zu dieser Stelle und nahmen Ziege und Hund mit. Der Greis ließ die Tiere miteinander kämpfen. Diese Vorstellung gefiel den Leuten, und die Zuschauer bildeten einen engen Kreis um den alten Mann, um alles besser verfolgen zu können. Alle Blicke waren auf die Kämpfenden gerichtet. Der Jüngling beobachtete indes die Fenster im Hause des Khans und erblickte unvermittelt ein schönes Mädchen. Das ist sie, dachte der Jüngling und ließ keinen Blick von dem Mädchen. Doch der Greis gab ihm ein Zeichen, dies sei nicht die Richtige. Das Mädchen verschwand wie ein Windhauch, und an ihre Stelle trat ein anderes. Das war die echte Tochter des Khan, über die so viel gesprochen wurde. Der Jüngling konnte sich nicht satt sehen an ihrer Schönheit. Doch die Menschen bemerkten es nicht. Sie verfolgten den Kampf zwischen Ziege und Hund und hielten sich die Bäuche vor Lachen. Schließlich war das Spiel beendet, und alle zerstreuten sich.

Der Greis und der Jüngling gingen in den Hof des Khan. Hier gaben sie ebenfalls eine Vorstellung, zu der sich alle Diener und Dienerinnen des Khans einfanden. Der Greis bat um ein bescheidenes Nachtlager und ein wenig Reisig. Hierauf wollten sie - die fahrenden Künstler - sich ein Nachtmahl bereiten. Die fröhlichen Dienerinnen gaben dem Greis und seinem Begleiter gern alles, worum sie baten. Der Abend brach herein, und der Greis gab gemeinsam mit dem Jüngling eine noch schönere Vorstellung: Sie stellten einen Topf auf die Erde, bedeckten ihn mit dem Untersatz, packten Reisig darauf und entzündeten das Feuer. Die Dienerinnen wälzten sich vor Lachen, als sie das sahen, und erzählten es der Tochter des Khan. Das verwunderte Mädchen kam, um ebenfalls diese komischen Menschen, ihre Ziege und den Hund zu bestaunen, und amüsierte sich nach Herzenslust. Natürlich halfen alle den beiden bei der Zubereitung des Nachtmahls.

Da gaben sie vor, nicht essen zu können. Statt die Bissen in den Mund zu schieben, führten sie sie an die Ohren und hielten sie an die Stirn. Alles Mühen war vergebens. »Habt ihr noch nie etwas zu essen gesehen? Habt ihr noch nie etwas gegessen?« Die Dienerinnen waren aufrichtig verblüfft. »Zu unserem Glück nehmen uns alle in die Arme und füttern uns. Allein können wir das nämlich nicht. Ihr habt euch also umsonst die Mühe gemacht und uns das Nachtmahl bereitet. Unseren Hunger werden wir wohl erst daheim stillen können.« Der Greis tat, als wolle er auf das Nachtmahl verzichten. Da nahm ihn die Dienerin der Khan-Tochter in die Arme und fütterte ihn. Der jüngste Sohn des Khans aber saß daneben und verging fast vor Hunger. Da bekam die Tochter des Khans Mitleid mit ihm, nahm ihn ebenfalls zu sich und begann ihn zu füttern. Das ist aber fein, dachte der Jüngling, hätte ich nur einen Magen, der nie voll wird, und einen Teller mit Essen, der nie leer wird. Schließlich war auch der Jüngling satt, und die Tochter des Khans trat zur Seite.

Es wurde Zeit, sich zur Ruhe zu legen. Die Dienerin fragte die Tochter des Khan, wo sie die Bettstatt für die Reisenden bereiten dürfe. »Gebt ihnen das Zimmer im Oberstock«, wies das Mädchen die Bediensteten an. Sie führten den Greis und den Jüngling in das gewiesene Zimmer, bereiteten ihnen das Bett und sagten, dass sie sich nun schlafen legen können. Doch die beiden schoben sich zuerst unter die Matratzen, um dann auf die Kopfkissen zu klettern. Das verblüffte die Dienerinnen und die Tochter des Khans noch mehr; »Wisst ihr etwa nicht, wie man sich zu Bett legt?«

»Daheim legen uns immer andere zu Bett, außerdem können wir nicht allein einschlafen«, bekannte der Greis seufzend. »Ich werde mich lieber erst gar nicht hinlegen, ich finde sowieso keine Ruhe.« Die Tochter des Khans und ihre Dienerinnen blickten einander an: Schließlich mussten die Gäste ihre Nachtruhe haben. Sie berieten miteinander. »Wenn wir sie schon in die Arme genommen und gefüttert haben, warum sollen wir uns nicht mit ihnen zur Ruhe legen?« Die Tochter des Khans legte sich also zu dem Jüngling, und ihre Dienerin teilte die Bettstatt mit dem Greis. So verbrachten sie in enger Umarmung die Nacht.

Morgens erhob sich der Greis, der Jüngling aber sprach: »Um nichts in der Welt stehe ich ohne Entgelt auf!« Da reichte ihm die Tochter des Khans einen goldenen Mörser, und er erhob sich. Den goldenen Mörser schenkte der Jüngling dem Greis zum Dank. So bewahrte der jüngste Sohn des Khans seinen Sack Gold und verbrachte eine ganze Nacht mit der Tochter des Khan. Seine älteren Brüder aber, die das Antlitz eines schönen Mädchens dem Rat des Greises vorgezogen hatten, waren leer ausgegangen.