[swahili, "Geschichte, Legende"]

Ak-Pamyk

In alten Zeiten lebte ein Mann, der besaß sieben Söhne, aber keine einzige Tochter. Eines Tages, da sein Weib abermals niederkommen sollte, beschlossen die Söhne auf Jagd zu ziehen und sagten zum Vater: »Wenn uns eine Schwester geboren wird, so hänge eine Flickenpuppe ans Tor, wird uns jedoch ein Bruder geboren, so befestige Pfeil und Bogen am Tor.« Diesmal schenkte die Frau einem Mädchen das Leben, und der Vater hängte eine Puppe ans Tor, doch böse Nachbarn, die seine Unterhaltung mit den Söhnen belauscht hatten, nahmen heimlich die Puppe ab und ersetzten sie durch Pfeil und Bogen. Als die Brüder von der Jagd heimkehrten, erblickten sie schon von ferne das Zeichen. Da murrten sie gegen Allah und beschlossen, niemals mehr heimzukehren. Sie gingen in die Berge, lebten fortan in einer Höhle und ernährten sich von der Jagd.

Mögen sie also auf Jagd ziehen, ihr aber hört die Geschichte von dem neugeborenen Mägdelein. Vater und Mutter nannten das Töchterlein Ak-Pamyk. Lange warteten sie vergebens, dass die Söhne von der Jagd heimkehrten. Doch die Söhne kamen weder nach einem Monat noch nach einem Jahr zurück. So gingen viele Jahre ins Land. Vater und Mutter verheimlichten der Tochter, dass sie Brüder besaß. Sie fürchteten, dass das Mädchen ausziehen könnte, um ihre Brüder zu suchen und sich dabei verirren würde.

Eines Tages kam eine Nachbarin zu ihnen. Sie sprach: »Frauen und Mädchen kommen in mein Haus, um mir altem Weib bei der Arbeit zu helfen. Lasst auch eure Tochter kommen.« Die Mutter war also gleich einverstanden. »Schön, mag sie gehen.« Ak-Pamyk ging zur Nachbarin. Als sich alle Frauen und Mädchen eingefunden hatten, sprach die Greisin: »Wer von euch auch nur einen einzigen Bruder hat, der gehe auf den Ehrensitz, wer jedoch keinen Bruder besitzt, dessen Platz ist am Ofen in der Asche.« Schweigend setzte sich Ak-Pamyk in die Asche, abseits von den anderen Mädchen. Sprach die Greisin: »Steh auf aus der Asche, mein Geißlein fein, und nimm den Ehrenplatz ein.«

»Warum, Großmutter?« fragte Ak-Pamyk. »Ich habe doch keinen Bruder.«

»Wird dein Antlitz nicht schwarz vor Scham, wenn du solche Dinge sagst?« entgegnete die Greisin vorwurfsvoll. »Alle, die einen oder zwei Brüder besitzen, haben den Ehrenplatz eingenommen, du aber besitzest so viele Brüder, wie der Drache Köpfe hat.« Ak-Pamyk sagte verwundert: »Das habe ich weder von Vater noch Mutter gehört.«

»Ach du mein Geißlein fein!« Die Greisin lachte. »Dein Vater und deine Mutter fürchten, dass du fort gehst, um deine Brüder zu suchen, und nimmer zurückkehrst. Deshalb haben sie dir nie davon erzählt. Deine Brüder leben nämlich in einer Felsenhöhle.«

Ak-Pamyk verrichtete still ihre Arbeit und hub, als sie nach Hause kam, alsbald zu fragen an: »Sag an, Mütterchen, habe ich Brüder?«

»Ja, Töchterlein. Aber sie haben unser Haus an dem Tage verlassen, da du geboren wurdest.« Drauf sagte Ak-Pamyk: »Ich will ausziehen und meine Brüder suchen.«

»Allein wirst du sie niemals finden«, versetzte die Mutter. »Drum will ich dir einen Fladen backen, der wird vor dir herrollen und dir den Weg weisen. Wo der Fladen liegen bleibt, dort wohnen deine Brüder. Wenn du sie gesehen hast, kehre nach Hause zurück.« Die Mutter buk einen Fladen und gab ihn der Tochter.

Ak-Pamyk nahm ihren Lieblingskater und begab sich auf den Weg. Der Fladen rollte vor ihr her, und der Kater folgte ihr. So zogen sie zu dritt einen schmalen Gebirgspfad entlang, bis Ak-Pamyk müde wurde und sich niedersetzte, um zu rasten. Der Kater schlich an den Fladen heran und knabberte heimlich den Rand ab. Ak-Pamyk hatte sich ein wenig verschnauft und erhob sich, um weiter zu wandern, doch der Fladen mit dem abgeknabberten Rand wollte nicht weiterrollen. Ak-Pamyk brach in Tränen aus. Miteins kam ihr ein rettender Gedanke. Sie benetzte mit ihren Tränen einen Brocken Lehm, knetete ihn und klebte den abgefressenen Rand. Da rollte der Fladen weiter.

Über kurz oder lang blieb er vor einer Höhle liegen. Vorsichtig trat Ak-Pamyk ein. In der Höhle war keine Menschenseele, nur an der Wand hingen eine ausgeweidete Gebirgsziege und ein Hammel, und in einem Winkel lag die schmutzige Kleidung der Jäger. Ak-Pamyk begann, ohne zu verschnaufen, die Wäsche zu waschen und setzte Fleisch an, um das Mittagsmahl zu bereiten. Als sie ihre Arbeit beendet hatte, kehrten die Jäger heim. Ak-Pamyk versteckte sich rasch: Sie wollte sich erst ein wenig an den Anblick der Brüder gewöhnen, bevor sie sich ihnen zeigte. Die Brüder betraten die Höhle und verwunderten sich gar sehr, als sie sahen, dass das Mittagsmahl bereit stand und ihre Kleider gewaschen waren. Sie kleideten sich um, stillten ihren Hunger und legten sich zur Ruhe. Morgens zogen sie abermals auf Jagd. Ak-Pamyk wusch aufs Neue die Kleider der Brüder, bereitete ein noch schmackhafteres Mahl und verbarg sich wie am Tag zuvor.

Gegen Abend kehrten die Brüder heim und verwunderten sich noch mehr. Sie beschlossen, anderntags nur zu sechsen auf Jagd zu ziehen, einer aber sollte daheim bleiben, um in Erfahrung zu bringen, wer in der Höhle herumwirtschaftete. Gesagt getan: Morgens zogen sechs Brüder auf Jagd, während der älteste in der Höhle blieb. Doch bald überfiel ihn Müdigkeit, und er sank in tiefen Schlaf. Da verließ Ak-Pamyk ihr Versteck, verrichtete alle Hausarbeit und verbarg sich abermals. Die Brüder kehrten heim und fragten den Ältesten: »Hast du herausgefunden, wer uns die Wirtschaft führt?« Der älteste Bruder musste bekennen, dass er den Tag verschlafen und nichts gesehen hatte. Anderntags ließen die Jäger einen anderen Bruder in der Höhle zurück. Doch auch ihm geschah dasselbe: Er verschlief den Tag und brachte nichts heraus. So erging es allen Brüdern, bis die Reihe an den Jüngsten, an Bairam, kam.

Bairam blieb in der Höhle, schnitt sich absichtlich in den Finger und streute Salz auf die Wunde, um nicht einzuschlafen. Alsdann streckte er sich auf einem Ziegenfell aus und tat, als schliefe er. Nach einiger Zeit erschien ein schönes schlankes junges Mädchen und begann die Kleider zu waschen und das Mittagsmahl zu richten. Bairam richtete sich auf und rief: »Wer bis du, Geist oder Mensch?«

»Ich bin eure Schwester!« erwiderte Ak-Pamyk. Bairam freute sich über alle Maßen, seine Schwester zu sehen. Er half ihr, das Mittagsmahl zu bereiten, und ging seinen Brüdern entgegen. Die Jäger brachen in lauten Jubel aus, als sie erfuhren, dass sie eine Schwester besaßen. Ak-Pamyk blieb bei ihnen, die Brüder umsorgten sie und gaben ihr die zartesten Bissen vom Wildbret und die leckersten Knöchelchen zu benagen.

Eines Tages fand Ak-Pamyk beim Ausfegen in der Höhle eine Rosine. Ihr fiel ein, dass ihr Kater ganz besonders Rosinen liebte und rief nach ihm. Doch da der Kater nicht kam, aß sie die Beere selbst. Nach einer Weile erschien der Kater und fragte: »Weshalb hast du mich gerufen?«

»Ich wollte dir eine Rosine geben«, entgegnete Ak-Pamyk. »Wo ist die?« fragte der Kater. »Gib sie mir.«

»Du bist nicht gekommen, als ich dich rief«, erwiderte Ak-Pamyk. »Da habe ich sie selbst gegessen.« Wütend fauchte der Kater ins Herdfeuer. »Lösche nicht das Herdfeuer, lieber Kater«, bat Ak-Pamyk. »Wie sollte ich es wieder anfachen?« Mit Mühe gelang es ihr, den Kater versöhnlich zu stimmen.

Anderntags fand Ak-Pamyk vor der Höhle eine getrocknete Dshidabeere. Sie wollte dem Kater die Beere geben und rief nach ihm. Abermals kam der Kater nicht. Da verzehrte sie die Beere allein. Als der Kater endlich erschien, fragte er: »Weshalb hast du mich gerufen?« Ak-Pamyk erwiderte: »Ich wollte dir eine Dshidabeere geben.«

»Und wo hast du sie? Gib rasch her.«

»Ich habe sie selber gegessen«, erwiderte Ak-Pamyk reumütig. Das verdross den Kater, und er fauchte so wütend in das Herdfeuer, dass die Flamme alsbald verlöschte. Ak-Pamyk wollte mit dem Feuerstein Feuer schlagen, doch es misslang. Das Essen aber war noch nicht gar. Sie trat aus der Höhle und erblickte auf einem fernen Hang über einer Wohnstätte Rauch. Ak-Pamyk beschloss, dort Feuer zu erbitten. Sie gelangte an die Wohnstätte, verhielt an der Schwelle den Schritt und grüßte.

Als sie eintrat, erblickte sie einen abscheulichen grauhaarigen Dew. Er sprach: »Wenn du mich nicht an der Schwelle meines Hauses gegrüßt hättest, so hätte ich dich zerrissen. So aber will ich dir kein Leid antun. Tritt ein, mein Kind, und sprich, weshalb du gekommen bist.«

»Ich wollte um Feuer bitten.«

»Dann halte den Saum deines Kleides auf«, erwiderte der Dew. Er legte ihr ein winziges Stück glimmende Kohle in den Saum und streute Asche darüber. Alsdann zog der Dew einen brennenden Holzscheit aus dem Herd und legte ihn obenauf. »Jetzt kannst du gehen, mein Kind.« Mit diesen Worten entließ er Ak-Pamyk. Ak-Pamyk ging den Bergpfad entlang und bemerkte nicht, wie die glühende Kohle ein Löchlein in ihren Rock sengte, durch welches die Asche rieselte. Das Mädchen kehrte zu den Brüdern heim, entfachte das Feuer im Herd und begann das Mittagsmahl vorzubereiten. Die Brüder kehrten heim, brachten Wild, verzehrten das Mittagsmahl, schliefen ein und begaben sich am Morgen wie stets auf Jagd. Der Dew aber folgte der Aschenspur und fand mühelos die Höhle der Brüder. Ak-Pamyk erblickte ihn von fern, erschrak und verriegelte die Tür. Der Dew schrie: »Öffne mir, mein Kind!« Ak-Pamyk öffnete nicht. Sprach der Dew: »Schiebe einen Finger durch den Türspalt. Tust du es nicht, so laure ich deinen Brüdern auf und zerreiße sie.« Ängstlich steckte Ak-Pamyk einen Finger durch den Spalt. Der Dew packte ihn und schob einen Ring darauf. »Erzähle nichts davon deinen Brüdern«, drohte er Ak-Pamyk, »ich würde sie sonst zerreißen und auch dich verschlingen.« Der Ring aber saß so fest an ihrem Finger, dass Ak-Pamyk ihn nicht abzustreifen vermochte. Tag für Tag kam der Dew, um nach dem Ring zu sehen, und Tag für Tag schnitt er dem Mädchen tiefer ins Fleisch.

Der jüngste Bruder Bairam bemerkte schließlich den Reif und fragte: »Schwesterchen, woher hast du diesen Reif?«

»Mutter hat ihn mir geschenkt, als ich von daheim fort ging«, log Ak-Pamyk. Doch da Ak-Pamyk merklich abmagerte und dahinsiechte, beschlossen die Brüder, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Eines Tages zogen sie nicht auf die Jagd, sondern versteckten sich in der Nähe. Als Ak-Pamyk alle Hausarbeit verrichtet hatte, kam der Dew. Er sah nach dem Ring und sagte: »Heute läuft unsere Verlobungszeit ab, drum kommst du jetzt mit mir und wirst fortan in meinem Haus leben.« Des Mädchens Hand, an deren Finger der Ring steckte, schob entgegen Ak-Pamyks Willen den Türriegel zurück, und der Dew riss die Tür auf.

Im selben Augenblick stürzten die Brüder aus ihrem Hinterhalt und fielen über den Unhold her. Sie schlugen ihm den Kopf ab und prügelten ihm die Seele aus dem Körper, die eher in die Hölle fuhr, als dass sein Leib zu Boden fiel. Doch der abgeschlagene Kopf rollte davon, und die Brüder vermochten ihn nicht einzuholen. Augenblicklich wuchsen aus diesem Kopf mehrere Unholde. Sie kehrten zur Höhle zurück, fielen über die Brüder her, zerrissen und verschlangen sie.

Ak-Pamyk vermochte sich unter dem Fell einer Gebirgsziege zu verstecken, so dass die Unholde sie nicht fanden. Kaum waren sie fort, da schlüpfte sie aus ihrem Versteck, sammelte die Knochen ihrer Brüder ein und bedeckte sie mit Fellen. Dann schwang sie sich auf ein Ross und galoppierte ins Tal. Ak-Pamyk zog von Dorf zu Dorf und fragte bei allen weisen Männern um Rat, wie sie ihre Brüder zum Leben wiedererwecken könne. Doch keiner wusste dem Mädchen zu helfen.

Endlich begegnete Ak-Pamyk einem alten Weiblein und bat: »Großmutter, hilf mir, meine Brüder, die schreckliche Unholde zerrissen haben, zum Leben wiederzuerwecken.«

»Meine Tochter«, erwiderte die Alte, »ich will dir helfen, doch es wird schwer halten.«

»Liebe Großmutter, sprich, was ich tun muss. Ich fürchte nichts und bin bereit, für meine Brüder alle Qualen auf mich zu nehmen.« Sprach die alte Frau: »Irgendwo in der Steppe weidet die Kamelstute Ak-Maja. Wenn du mit ihrer Milch die Knochen deiner Brüder besprengst und sie in eine schwarze Koschma hüllst, so werden sie wieder lebendig. Doch bislang hat es keiner vermocht, die Kamelstute zu melken. Sobald sie einen Menschen erblickt, stürzt sie sich auf ihn. Allein ihr kleines Kamelfohlen kann dir helfen.« Ak-Pamyk dankte der Greisin, nahm einen leeren Burdjuk, ein Bündel Disteln und sprengte auf ihrem Ross in die Steppe.

Über kurz oder lang begegnete ihr das Kamelfohlen von Ak-Maja. Als das Jungtier Ak-Pamyk erblickte, lief es in großen Sprüngen auf sie zu. Das Mädchen sprang vom Pferd, kraulte das Kamelfohlen hinter den Ohren, strich zärtlich über seine Augen und legte ihm die jungen Disteln vor. Während das Kamelfohlen an den Disteln knabberte, klagte Ak-Pamyk ihm sein Leid. »Ich will dir helfen«, sagte das Kamelfohlen. »Doch wenn Mutter mich mit dir sieht, frisst sie uns beide. Drum nimm den Burdjuk, krieche unter meinen Leib und klammre dich an meinem Fell fest. Ich will zur Mutter gehen, um zu trinken, du aber halte behutsam deinen Burdjuk unter das Euter, damit ich die Milch hineinfließen lassen kann.« Ak-Pamyk versteckte ihr Pferd hinter einem Hügel, kroch unter den Leib des Fohlens und klammerte sich an seinem Fell fest. Das Tier rannte zu seiner Mutter.

Die Kamelstute Ak-Maja hob witternd die Nüstern und schrie: »Warum riechst du nach Menschenfleisch?!« Und sie wühlte mit den Vorderhufen das Erdreich auf. Das Kameljunge suchte sie zu beruhigen: »Wie sollte sich in diese Steppe ein Mensch verirren, Mütterlein?« Ak-Maja verstummte, das Fohlen begann zu saugen und die Milch in den Burdjuk laufen zu lassen. So füllte es den Burdjuk und trabte gemächlich zu dem Hügel, hinter dem Ak-Pamyk das Pferd versteckt hatte. Doch Ak-Maja hob unablässig witternd den Kopf und folgte ihrem Jungen. Als sie sah, wie Ak-Pamyk unter seinem Leib hervor kroch und sich aufs Pferd schwang, stürzte sie hinter der Reitenden her. Ak-Pamyk galoppierte so geschwind dahin, dass sie ein wenig Milch von Ak-Maja verschüttete. Die Tropfen versprühten zwischen den Sternen am Himmelszelt. Der Kamelstute gelang es nicht mehr, Ak-Pamyk einzuholen, und sie verfluchte ihr Kind. Das Kamelfohlen verwandelte sich in einen schwarzen Stein am Wegesrand und rief fortan des Nachts klagend nach seiner Mutter.

Ak-Pamyk indes gelangte wohlbehalten zur Höhle. Die Knochen der Brüder lagen unberührt, wo sie sie zurückgelassen hatte, nur das Schulterblatt des jüngsten Bruders fehlte. Ein Dew mochte es verschlungen oder mit sich genommen haben, um die Asche im Herde fortzuschaufeln. Ak-Pamyk besprengte die Knochen mit der Milch der Kamelstute und hüllte sie in eine schwarze Koschma. Da niesten die Brüder und erhoben sich. Sagte der älteste Bruder: »Wir haben aber lange geschlafen. Es ist ja längst Zeit, auf die Jagd zu ziehen.« Ak-Pamyk erzählte den Brüdern, wie sie sie zum Leben wiedererweckt hatte. Fortan liebten die Brüder ihre Schwester noch mehr. Sie waren gesund und kräftig wie eh und je, nur der jüngste Bruder Bairam ging ein wenig krumm.

Mit der Zeit vermählten sich die Brüder, doch stets liebten sie die Schwester noch zärtlicher als ihre Frauen. Eines Tages sprach die Frau des ältesten Bruders zu den übrigen Frauen: »Wir müssen Ak-Pamyk beseitigen, damit unsere Männer uns stärker lieben.«

»Was müssen wir dafür tun?« fragten die Frauen. »Wir wollen ihr Blei in Kehle und Ohren gießen, auf dass sie weder sprechen noch hören kann«, riet die Frau des ältesten Bruders. Alle Frauen stimmten ihr zu. Bairams Frau aber, die sich dem arglistigen Plan zu widersetzen suchte, machten sie mit Gewalt gefügig. Als die bösen, neidischen Frauen Ak-Pamyk Blei in die Kehle gossen, hielt Bairams Frau mitleidig die Kuppe ihres kleinen Fingers. Ak-Pamyk wurde stumm und taub, magerte abermals zusehends ab und siechte dahin.

Lange versuchten die Brüder herauszufinden, was ihr widerfahren war, doch da sie ihnen nichts erzählen konnte, blieben sie ratlos. Da sprach die Frau des ältesten Bruders: »Ich weiß, was Ak-Pamyk geschehen ist. Sie braucht einen Mann, ihr Herz vergeht vor Sehnsucht.« Die Brüder hielten Rat miteinander und beschlossen, die Schwester demjenigen anzutrauen, nach dem ihr der Sinn stände. Abermals mischte sich die Frau des ältesten Bruders ein: »Setzt sie auf ein Kamel, mag es sich wenden, wohin es will. Ak-Pamyk sucht sich schon allein ihr Glück.« Die Brüder schmückten das Kamel mit einem Federbusch, mit Seidentroddeln und Glocken, hoben eine Sänfte auf seinen Rücken, setzten die Schwester in ihrem Brautgewand hinein, und das Kamel trottete davon.

Es trottete von den Bergen hinab ins Tal, verließ den Weg und begann, auf einer Wiese zu weiden. Zu dieser Zeit aber gingen gerade der Sohn des Padischahs und der Sohn des Wesirs in der Steppe auf Jagd. Der Sohn des Wesirs erblickte von fern das herrenlose Kamel und sagte: »Dieses Kamel habe ich als erster gesehen, also soll es mir gehören!« Der Sohn des Padischahs war es zufrieden: »Was dagegen in der Sänfte ist, gehört mir.« Sie galoppierten zu dem Kamel und sahen, dass in der Hochzeitssänfte ein Mädchen von so unsagbarer Schönheit saß, dass man Speise und Trank darüber vergaß und sich nur an seinem Anblick erfreuen mochte. Der Sohn des Padischahs wandte sich an Ak-Pamyk: »Sag an, bist du Mensch oder Geist?« Ak-Pamyk schwieg. »Wer du auch immer sein magst, schönes Mägdelein«, rief der Sohn des Padischahs, »ich nehme dich zum Weib!« So bekam der Sohn des Padischahs die schöne Ak-Pamyk zum Weib, und der Sohn des Wesirs erhielt das geschmückte Kamel.

Nach einem Jahr schenkte Ak-Pamyk einem Sohn das Leben. Die Jahre vergingen, der Knabe wuchs heran, doch Ak-Pamyk blieb taub und stumm. Der Sohn des Padischahs wurde immer schwermütiger. Der Sohn des Wesirs, der dies bemerkte, riet ihm, sich eine zweite Frau zu nehmen. Der Sohn des Padischahs war es zufrieden und machte sich auf die Suche nach einer Braut. Als Ak-Pamyk davon erfuhr, wurde sie todtraurig. Jede Arbeit, die sie begann, entglitt ihren Händen: Tag für Tag saß sie am Herd, vergoss bittere Tränen und buk nicht einmal mehr Fladen.

Einmal kam ihr kleiner Sohn gelaufen und bat: »Mütterlein, gib mir Brot, mich hungert.« Ak-Pamyk saß reglos. Die Tränen rannen ihr über die Wangen. Da begann der Knabe an ihrem Gewand zu zupfen: »Gib mir ein Stückchen Fladen! Ich habe Hunger!« Da sprang der Bleiklumpen aus der Kehle der Mutter, und Ak-Pamyk sagte: »Mein Sohn, schlage mich aufs rechte Ohr.« Der Sohn erfüllte ihre Bitte, da fiel aus Ak-Pamyks rechtem Ohr ein Stückchen Blei. »Nun schlage mich aufs linke Ohr«, bat Ak-Pamyk. Aus dem linken Ohr fiel ebenfalls ein Stückchen Blei.

Nach ein paar Tagen kehrte der Sohn des Padischahs mit einer neuen Braut heim. Ak-Pamyk saß am Herd und kochte Milch ab. Die Braut war noch nicht vom Pferd geglitten, da rief sie, als sie sah, dass die Milch überzulaufen drohte: »Was für eine langsame Frau! Die Milch kocht über, sie aber kümmert es nicht!«

»Die Braut ist noch nicht vom Pferd gestiegen und schaltet und waltet bereits im Haus. Wo hat man das je gesehen?« gab Ak-Pamyk zur Antwort. Das Gefolge des Padischah-Sohns konnte sich nicht genug verwundern. »Die schöne Ak-Pamyk hat gesprochen!« Kaum hatte der Sohn des Padischahs die Stimme seines Weibes vernommen, da befahl er, die Braut unverzüglich ihren Eltern zurückzubringen.

Nun begannen für Ak-Pamyk glückliche Tage. Doch sie konnte ihre Brüder nicht vergessen und empfand große Sehnsucht nach ihnen. Eines Tages gab sie ihrem Söhnchen ein Spielknöchelchen und sagte: »Willst du siegreich aus allen Kämpfen hervorgehen, so merke dir diesen Spruch: Zogen starke Heere
Gegen sieben Brüder zu Felde.
Ich bin das Kämpfen gewohnt,
Bin Ak-Pamyks Sohn.
Spring, mein liebes Knöchelein,
Flugs in Onkel Bairams Rücken hinein!«
Ak-Pamyks Sohn wusste den Spruch bald auswendig, und wenn er mit anderen Knaben spielte, sprach er ihn vor sich hin, wie die Mutter es ihn gelehrt.

Doch lassen wir ihn einstweilen spielen, ihr aber hört, was den Brüdern widerfuhr. »Fünf Jahre sind vergangen, seit wir unsere Schwester ausgeschickt haben, ihr Glück zu suchen. Lasst uns ausziehen, um sie zu finden, und wenn ihr ein Leid widerfahren ist, so wollen wir ihr zu Hilfe eilen.« Alle stimmten dem jüngsten Bruder zu, rüsteten sich auf den Weg und zogen aus in alle Himmelsrichtungen, um die Schwester zu suchen. Bairam gelangte in eine Stadt. Da sah er Knaben beim Knöchelspiel. Einer der Knaben murmelte, als er ein Knöchelchen warf: »Zogen starke Heere
Gegen sieben Brüder zu Felde.
Ich bin das Kämpfen gewohnt,
Bin Ak-Pamyks Sohn.
Spring, mein liebes Knöchelein,
Flugs in Onkel Bairams Rücken hinein!«
Bairam, dessen Rücken noch immer krumm war, bat den Jungen: »Wiederhole noch einmal deinen Spruch.« Ak-Pamyks Sohn gehorchte, und als er die letzten Worte sprach: »Spring, mein liebes Knöchelein,
Flugs in Onkel Bairams Rücken hinein!«,
war das Knöchelein - wuppdich - verschwunden, und Bairams Rücken hatte sich gestreckt. Da erkannte Bairam seinen Neffen und sprach: »Bitte, mein Neffe, führe mich zu deiner Mutter.« Ak-Pamyks Sohn führte den Onkel nach Hause. Kaum hatte Bairam die Schwelle des Palastes überschritten, da eilte ihm Ak-Pamyk entgegen und erzählte ihm alles, was ihr geschehen war. Dann gab sie ihm sechs mit Skorpionen gefüllte Säcke und sprach: »Nimm dies als Geschenk für meine ältesten Schwägerinnen und gib jeder einen Sack.« Alsdann brachte sie den siebenten Sack, der mit Rosinen und gerösteten Erbsen gefüllt war, und sprach: »Diesen Sack aber gib deiner Frau.« Bairam kehrte heim, verteilte die Säcke an die Frauen seiner sechs Brüder und gab den letzten Sack seiner Frau. Die Schwägerinnen freuten sich über die Geschenke, die ihnen Ak-Pamyk gesandt hatte, und jede steckte geschwind eine Hand in ihren Sack. Da stachen die Skorpione zu. Die Frauen hoben ein lautes Geschrei an, doch das half ihnen nicht: Die Skorpione stachen sie halbtot.

Als die Frau des jüngsten Bruders die Hand in den ihr zugedachten Sack schob, saß dort nur ein einziger Skorpion, der sie leicht in den kleinen Finger stach. Alsdann kroch der Skorpion davon, und Bairams Eheweib begann die Rosinen und die gerösteten Erbsen zu knabbern. Mag sie einstweilen Rosinen und Erbsen knabbern, ihr aber höret das Ende des Märchens an. Ak-Pamyk bat ihren Gatten, Vater und Mutter zu suchen und in den Palast zu bringen. Ihr Mann erfüllte ihr diesen Wunsch. So lebten Ak-Pamyks Eltern auf ihre alten Tage in Glück und Freuden bei ihrer Tochter, und die sieben Söhne kamen häufig zu ihnen