Die Taube
Sie war keine gewöhnliche Taube, denn sie war weiß und schlank, und ein berühmter Maler hatte sie gemalt. Nun hing das Bild, auf dem sie zu sehen war, in einer Ausstellung, und alle Leute bewunderten es. Die Taube auf dem Platz aber, die der Künstler gemalt hatte, bewunderte keiner. Weißt du, das ist manchmal so, dass den Leuten auf einem Bild alles besser gefällt als in Wirklichkeit.
Da es in dieser Stadt schrecklich viele Tauben gab und da sie, wie man sagte, alle Häuser und Kirchen und Statuen schmutzig machten, erlaubten die Menschen nicht einmal mehr der alten Frau Haber, wie bisher, die Tauben zu füttern. Also erging es auch unserer schönen weißen Taube in diesem Winter schlecht. Es war bitter kalt, und sie konnte nirgends in der Stadt Futter finden. Und als sie schon ganz schwach vor Hunger war, da kam ihr die Idee, zu dem Maler zu fliegen, der ihr Bild gemalt hatte. Der aber schlug ihr das Fenster vor dem Schnabel zu. Vielleicht hat er sie nicht erkannt, denn ihre Federn waren nass und schmutzig, und sie war sehr mager geworden. Vielleicht aber wollte er auch nichts von ihr wissen, weil er sie nicht mehr brauchte.
»O diese Menschen«, dachte die Taube und machte sich auf, zum Rathausturm zu fliegen. Dort, zwischen den steinernen Verzierungen wollte sie sich niederlassen, um still und leise zu erfrieren oder Hungers zu sterben.
Aber sie hatte Glück. Gerade als sie auf den Turm zufliegen wollte, verfing sie sich in einem Leitungsdraht, blieb hängen und konnte nicht mehr weiter. Das sahen die Menschen auf dem Platz, und plötzlich waren sie alle voll Mitleid. Sie riefen um Hilfe und nach der Polizei, sie riefen nach der Feuerwehr, und die Feuerwehr kam mit ihrer lauten Sirene und einer langen, langen Leiter. Ein Mann kletterte die Leiter hinauf und befreite die arme, hilflos flatternde Taube. Alle wollten sie streicheln und füttern, und sie begannen sogar zu streiten, wer das liebe Tier nach Hause nehmen dürfe. Schließlich sagte der Feuerwehrmann: »Ich habe sie gerettet, und ich hab' zwei Kinder, die wollen beide Tierärzte werden.«
Also nahm er sie mit heim. Ihr Foto kam in die Zeitung, und die weiße Taube musste in Zukunft immer wieder denken: »Manchmal hat man Glück, wenn man Pech hat.«